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Weihnachten 1329
Barcelona
Arnau war nun acht Jahre alt und hatte sich zu einem aufgeweckten Jungen entwickelt. Das lange, kastanienbraune Haar fiel ihm lockig auf die Schultern und umrahmte ein hübsches Gesicht, in dem die großen, klaren, honigfarbenen Augen hervorstachen.
Grau Puigs Haus war weihnachtlich geschmückt. Der Töpfermeister, der im Alter von zehn Jahren dank der Hilfe eines großzügigen Nachbarn den väterlichen Grund und Boden verlassen konnte, hatte seinen Weg in Barcelona gemacht. Nun wartete er gemeinsam mit seiner Frau auf das Eintreffen der Gäste.
»Sie kommen, um mir ihre Ehrerbietung zu erweisen«, sagte er zu Guiamona. »Wann hat man schon einmal gesehen, dass Adlige und Händler das Haus eines Handwerkers betreten?«
Sie beschränkte sich darauf, ihm zuzuhören.
»Selbst der König unterstützt mich. Verstehst du? Der König! König Alfons.«
An diesem Tag wurde in der Werkstatt nicht gearbeitet. Bernat und Arnau saßen trotz der Kälte draußen auf dem Boden und beobachteten von dem Platz aus, auf dem die Krüge lagerten, das unablässige Kommen und Gehen der Sklaven, Gesellen und Lehrburschen. In den vergangenen acht Jahren hatte Bernat keinen Fuß mehr ins Haus der Puigs gesetzt. Doch das machte ihm nichts aus, sagte er sich, während er Arnaus Haar streichelte. Da saß, an ihn geschmiegt, sein Sohn – was wollte er mehr? Der Junge aß und lebte bei Guiamona und wurde sogar gemeinsam mit Graus Kindern von einem Lehrer im Lesen, Schreiben und Rechnen unterwiesen. Doch er wusste, dass Bernat sein Vater war, denn Guiamona hatte dafür gesorgt, dass er es nicht vergaß. Was Grau anging, so behandelte er seinen Neffen mit absoluter Gleichgültigkeit.
Arnau benahm sich gut im Haus. Bernat hatte ihn immer wieder dazu ermahnt. Wenn er lachend in die Werkstatt stürmte, erhellte sich Bernats Gesicht. Die Sklaven und die Gesellen, selbst Jaume, beobachteten mit einem Lächeln auf den Lippen, wie der Junge auf den Vorplatz gerannt kam, um dort zu warten. Wenn Bernat mit seiner Arbeit fertig war, lief er zu ihm und umarmte ihn stürmisch. So manchen Abend, wenn die Werkstatt schloss, ließ Habiba ihn entwischen, und dann saßen Vater und Sohn schwatzend und lachend beisammen, unbeeindruckt von dem geschäftigen Treiben um sie herum.
Die Lage hatte sich verändert. Grau kümmerte sich nicht mehr um die Einnahmen aus der Werkstatt und schon gar nicht um die anderen Dinge, die mit ihr zusammenhingen. Trotzdem war sie unverzichtbar für ihn, denn dem Betrieb verdankte er seine Ämter als Zunftmeister, Ratsherr von Barcelona und Mitglied des Rats der Hundert. Doch nachdem er diese Bedingung erfüllt hatte, war Grau Puig ganz in die Politik und die Hochfinanz eingestiegen, was für einen Ratsherrn der gräflichen Stadt nicht sonderlich schwer war, und hatte seinem Gesellen Jaume die Verwaltung der Werkstatt überlassen.
Seit dem Beginn seiner Herrschaft im Jahr 1291 hatte Jaime II. versucht, sich gegen die Oligarchie der Feudalherren Kataloniens durchzusetzen, und dazu die Hilfe der freien Städte und ihrer Bürger gesucht, angefangen mit Barcelona. Sizilien war bereits seit den Zeiten Pedros des Großen im Besitz der Krone; als der Papst nun Jaime II. das Recht auf die Eroberung Sardiniens zugestand, finanzierten Barcelona und seine Bürger dieses Unternehmen.
Die Annexion der beiden Mittelmeerinseln durch die Krone war im Interesse aller Parteien: Sie garantierte die Getreideversorgung Kataloniens ebenso wie die katalanische Vorherrschaft im westlichen Mittelmeer und damit die Kontrolle über die Handelsrouten zu Wasser. Die Krone wiederum behielt sich die Ausbeutung der Silberminen und Salinen der Inseln vor.
Grau hatte diese Ereignisse nicht selbst miterlebt. Seine Gelegenheit kam mit dem Tod Jaimes II. und der Thronbesteigung Alfons' III. In diesem Jahr, 1329, erhoben sich die Sarden in der Stadt Sassari. Zur gleichen Zeit erklärten die Genuesen Katalonien den Krieg, weil sie dessen Handelsmacht fürchteten, und griffen die Schiffe an, die unter der Flagge des Prinzipats fuhren. Weder der König noch die Händler zweifelten auch nur einen Moment daran, dass der Feldzug zur Unterdrückung des Aufstands auf Sardinien und der Krieg gegen Genua von der Bürgerschaft Barcelonas finanziert werden musste. Und so geschah es, hauptsächlich angetrieben von einem Ratsherren der Stadt: Grau Puig, der großzügig seinen Beitrag zu den Kriegskosten leistete und mit flammenden Reden auch die Zögerer davon überzeugte, sich zu beteiligen. Der König selbst hatte ihm öffentlich für seine Hilfe gedankt.
Während Grau immer wieder an die Fenster trat, um Ausschau nach seinen Gästen zu halten, verabschiedete sich Bernat mit einem Kuss auf die Wange von seinem Sohn.
»Es ist bitterkalt, Arnau. Besser, du gehst hinein.« Der Junge wollte widersprechen. »Heute werdet ihr ein feines Essen bekommen, nicht wahr?«
»Hähnchen, Nougat und Waffeln«, antwortete sein Sohn beiläufig.
Bernat gab ihm einen zärtlichen Klaps auf den Hintern.
»Lauf ins Haus. Wir sprechen ein andermal weiter.«
Arnau kam gerade rechtzeitig zum Essen. Er selbst sowie die beiden jüngeren von Graus Kindern – Guiamon, der so alt war wie er, und die anderthalb Jahre ältere Margarida – würden in der Küche essen, die beiden Älteren – Josep und Genis – oben mit den Eltern.
Das Eintreffen der Gäste machte Grau noch nervöser.
»Ich mache das schon alles«, hatte er zu Guiamona gesagt, als er die Feier vorbereitete. »Du brauchst dich nur um die Frauen zu kümmern.«
»Aber wie willst denn du …?«, hatte Guiamona protestiert, doch Grau war bereits dabei gewesen, der Köchin Estranya, einer korpulenten, störrischen Mulattensklavin, Anweisungen zu geben. Diese blickte verstohlen zu ihrer Herrin hinüber, während sie den Ausführungen des Hausherrn lauschte.
Hinter dem Rücken ihres Mannes hatte Guiamona versucht, Ordnung in die Dienerschaft zu bringen und alles vorzubereiten, damit das Weihnachtsfest ein Erfolg wurde. Doch am Tag der Feier kümmerte sich Grau um alles, sogar um die kostbaren Umhänge seiner Gäste, und so blieb ihr nichts anderes übrig, als sich im Hintergrund zu halten, wie es ihr Mann bestimmt hatte, und den Frauen zuzulächeln, die sie von oben herab ansahen. Unterdessen plauderte Grau mit diesem oder jenem, während er gleichzeitig den Sklaven Zeichen gab, was sie zu tun hatten und um wen sie sich kümmern sollten. Doch je wilder er gestikulierte, desto kopfloser wurden sie. Schließlich beschlossen sämtliche Sklaven – mit Ausnahme von Estranya, die in der Küche das Essen vorbereitete –, Grau durchs ganze Haus zu folgen, um seine dringlichen Befehle entgegenzunehmen.
Von jeder Aufsicht befreit – denn Estranya und ihre Hilfen hantierten mit dem Rücken zu ihnen an ihren Töpfen und Herdfeuern –, vermatschten Margarida, Guiamon und Arnau das Hähnchen mit dem Nougat und den Waffeln und tauschten Häppchen aus, wobei sie unaufhörlich herumalberten. Irgendwann griff Margarida nach einem Krug mit unverdünntem Wein und nahm einen kräftigen Schluck. Das Mädchen verzog das Gesicht und machte dicke Backen, doch es brachte die Mutprobe hinter sich, ohne den Wein auszuspucken. Dann drängte sie ihren Bruder und ihren Cousin, es ihr nachzutun. Arnau und Guiamon tranken. Sie gaben sich Mühe, gleichfalls Haltung zu bewahren wie Margarida, doch sie mussten husten und tasteten den Tisch nach Wasser ab, während ihnen die Tränen in die Augen schossen. Dann begannen die drei zu lachen.
»Raus hier!«, rief die Sklavin, nachdem sie die Albernheiten der Kinder eine Zeit lang über sich hatte ergehen lassen.
Die drei liefen johlend und lachend aus der Küche.
»Pssst!«, ermahnte sie einer der Sklaven, der an der Treppe stand. »Der Herr will keine Kinder hier sehen.«
»Aber …«, begann Margarida.
»Da gibt es kein Aber«, erklärte der Sklave.
In diesem Moment kam Habiba die Treppe hinunter, um neuen Wein zu holen. Der Herr hatte sie mit zornfunkelnden Augen angeschaut, weil einer seiner Gäste sich nachschenken wollte und nur ein paar armselige Tropfen gekommen waren.
»Hab ein Auge auf die Kinder«, sagte Habiba zu dem Sklaven an der Treppe, als sie an ihm vorbeiging. »Ich brauche Wein!«, rief sie dann Estranya zu, noch bevor sie die Küche betrat.
Grau, der befürchtete, dass die Maurin den einfachen Wein brachte statt den, den sie servieren sollte, kam hinter ihr hergerannt.
Die Kinder lachten nicht mehr. Am Fuß der Treppe stehend, beobachteten sie das hektische Treiben, zu dem sich plötzlich auch Grau gesellte.
»Was habt ihr hier zu suchen?«, fuhr er sie an, als er sie bei dem Sklaven stehen sah. »Und du? Was stehst du hier herum? Geh und sag Habiba, dass es der Wein aus den alten Karaffen sein soll. Merk dir das! Wenn du dich irrst, ziehe ich dir bei lebendigem Leib das Fell über die Ohren. Und ihr, Kinder, ab ins Bett!«
Der Sklave rannte wie angestochen in die Küche. Die Kinder sahen sich grinsend an, ihre Augen funkelten vom Wein. Als Grau die Treppe wieder hochrannte, begannen sie zu lachen. Ins Bett? Margarida sah zur Haustür, die weit offen stand, zog die Lippen kraus und hob die Augenbrauen.
»Und die Kinder?«, fragte Habiba, als sie den Sklaven kommen sah.
»Wein aus den alten Krügen«, gab dieser weiter.
»Und die Kinder?«
»Aus den alten Krügen. Den alten.«
»Und die Kinder?«, fragte Habiba noch einmal.
»Der Herr hat gesagt, geht ins Bett. Sie sind bei ihm. Den aus den alten Krügen, ja? Er zieht uns das Fell über die Ohren …«
Es war Weihnachten, und Barcelona würde wie ausgestorben sein, bis die Leute zur Christmette strömten, um einen Hahn darzubringen. Der Mond spiegelte sich im Meer, so als würde die Straße, in der sie sich befanden, bis zum Horizont reichen. Die drei Kinder betrachteten den silbernen Streif auf dem Wasser.
»Heute wird niemand am Strand sein«, wisperte Margarida.
»Niemand fährt an Weihnachten aufs Meer hinaus«, setzte Guiamon hinzu.
Die beiden wandten sich zu Arnau um, der den Kopf schüttelte.
»Niemand wird es merken«, behauptete Margarida. »Wir gehen kurz hin und sind gleich wieder zurück. Es sind nur ein paar Schritte.«
»Feigling«, warf ihm Guiamon vor, als er zögerte.
Sie liefen bis Framenors, dem Franziskanerkonvent am östlichen Ende der Stadtmauer, direkt am Meer. Von dort blickten sie über den Strand, der sich bis zum Kloster Santa Clara am westlichen Ende von Barcelona erstreckte.
»He, seht doch!«, rief Guiamon. »Die Flotte der Stadt!«
»So habe ich den Strand noch nie gesehen«, erklärte Margarida.
Arnau nickte mit großen Augen.
Von Framenors bis Santa Clara war der Strand mit Schiffen in allen Größen übersät. Kein Gebäude stand diesem herrlichen Anblick im Wege. Vor etwa hundert Jahren hatte König Jaime der Eroberer verboten, den Strand zu bebauen. Dies hatte Grau seinen Kindern einmal erzählt, als sie ihn zusammen mit ihrem Lehrer zum Hafen begleiteten, um zuzusehen, wie ein Schiff be- oder entladen wurde, dessen Miteigner er war. Der Strand musste frei bleiben, damit die Seeleute ihre Schiffe an Land ziehen konnten. Aber keines der Kinder hatte Graus Erklärung die geringste Beachtung geschenkt. Es war doch selbstverständlich, dass die Schiffe am Strand lagen. Sie waren schon immer dort gewesen.
»In den Häfen unserer Feinde und Handelsrivalen«, hatte der Lehrer erklärt, »werden die Schiffe nicht auf den Strand gezogen.«
»Das stimmt«, hatte Grau bestätigt. »Genua, unsere Feindin, hat einen wunderbaren geschützten, natürlichen Hafen, sodass die Schiffe nicht an Land gezogen werden müssen. Venedig, unsere Verbündete, besitzt eine große Lagune, die man durch enge Kanäle erreicht. Sie ist vor Stürmen gefeit und die Schiffe können ruhig vor Anker gehen. Der Hafen von Pisa ist durch den Arno mit dem Meer verbunden, und auch Marseille nennt einen natürlichen Hafen sein Eigen, geschützt vor den Unbilden der See.«
»Bereits die Griechen aus Phokis nutzten den Hafen von Marseille«, ergänzte der Lehrer.
»Unsere Feinde haben bessere Häfen?«, fragte Josep, der Älteste. »Aber wir haben sie besiegt! Wir sind die Herren des Mittelmeers!«, rief er und wiederholte die Worte, die er so oft aus dem Mund seines Vaters gehört hatte. Die Übrigen pflichteten ihm bei. »Wie ist das möglich?«
Grau sah den Lehrer fragend an, auf der Suche nach einer Erklärung.
»Barcelona hat stets die besten Seefahrer gehabt. Nun besitzen wir keinen Hafen mehr, und doch …«
»Wieso haben wir keinen Hafen?«, brach es aus Genis hervor. Er deutete auf den Strand. »Und das hier?«
»Das ist kein Hafen. Ein Hafen muss ein vor der See geschützter Ort sein, und was du da meinst …« Der Lehrer wies mit der Hand aufs offene Meer hinaus, das an den Strand schlug. »Barcelona ist immer eine Seefahrerstadt gewesen. Früher, vor vielen Jahren, hatten auch wir einen Hafen, wie all diese Städte, die euer Vater erwähnte. Zu Zeiten der Römer ankerten die Schiffe im Schutz des Mons Taber, ungefähr dort.« Er deutete in Richtung der Stadt. »Doch das Meer ist nach und nach verlandet, und der Hafen verschwand. Danach hatten wir den Hafen Comtal, der ebenfalls verschwand, und zuletzt den Hafen Jaimes I. im Schutz einer kleinen natürlichen Bucht, dem Puig de les Falsies. Wisst ihr, wo sich dieser Puig de les Falsies heute befindet?«
Die vier Kinder blickten sich fragend an und sahen dann Hilfe suchend zu Grau, der mit verschwörerischer Miene, so als sollte der Lehrer es nicht sehen, auf den Boden zu ihren Füßen deutete.
»Hier?«, fragten die Kinder wie aus einem Munde.
»Ja«, antwortete der Lehrer, »wir stehen darauf. Auch er verlandete, und Barcelona blieb ohne Hafen zurück. Doch damals waren wir bereits Seefahrer – die besten, und das sind wir immer noch. Auch ohne Hafen.«
»Wozu braucht man dann einen Hafen?«, warf Margarida ein.
»Das kann dir dein Vater besser erklären«, antwortete der Lehrer, und Grau nickte.
»Ein Hafen ist wichtig, Margarida, sehr wichtig. Siehst du das Schiff dort?« Er deutete auf eine Galeere, die von kleinen Booten umgeben war. »Wenn wir einen Hafen hätten, könnte es seine Ladung an der Mole löschen, ohne all diese Boote, die die Ware aufnehmen. Wenn jetzt ein Sturm aufkäme, befände es sich außerdem in großer Gefahr, da es sehr nahe am Ufer vor Anker liegt. Es müsste Barcelona verlassen.«
»Warum?«, wollte das Mädchen wissen.
»Weil es hier nicht beidrehen kann und auf Grund laufen könnte. Es ist sogar im Seegesetzbuch Barcelonas vorgeschrieben, dass ein Schiff im Falle eines Unwetters Schutz in den Häfen von Salou oder Tarragona suchen muss.«
»Wir haben keinen Hafen«, beklagte sich Guiamon, als hätte man ihm etwas Wichtiges weggenommen.
»Nein«, bestätigte Grau lachend und legte den Arm um ihn, »aber wir sind immer noch die besten Seefahrer, Guiamon. Wir sind die Herren des Mittelmeers! Und wir haben den Strand. Hier landen wir unsere Schiffe an, wenn die schifffahrtsfreie Jahreszeit gekommen ist, hier reparieren und bauen wir sie. Siehst du die Werft dort drüben? Sie liegt am Strand, gegenüber den Arkaden …«
»Dürfen wir mal auf die Schiffe?«, fragte Guiamon.
»Nein«, hatte sein Vater ernst geantwortet. »Die Schiffe sind heilig, mein Junge.«
Arnau war nie mit Grau und seinen Kindern aus dem Haus gegangen, und schon gar nicht mit Guiamona. Er war immer bei Habiba zu Hause geblieben. Aber wenn seine Cousins zurückkamen, hatten sie ihm alles erzählt, was sie gesehen und gehört hatten. Auch das mit den Schiffen hatten sie ihm erklärt.
Und da lagen sie nun alle in dieser Weihnachtsnacht. Da waren die kleinen Feluken, Jollen und Barkassen, die mittelgroßen Koggen, Brigantinen und Galeoten, sogar eine große bauchige Nao. Außerdem zahlreiche Karavellen, Karacken und Galeeren, die trotz ihrer Größe auf königlichen Befehl zwischen Oktober und April ihre Fahrt einstellen mussten.
»Seht nur!«, rief Guiamon noch einmal.
Bei der Werft, gegenüber der Plaza Regomir, brannten mehrere Lagerfeuer, um die herum einige Wachen saßen. Von der Plaza Regomir bis zum Kloster Framenors lagen still die Schiffe am Strand, nur vom Mondlicht beschienen.
»Folgt mir, Matrosen!«, befahl Margarida, den rechten Arm erhoben.
Und so führte Kapitänin Margarida ihre Männer von einem Schiff zum anderen, durch Stürme, Piratenangriffe und Seeschlachten. Sie sprangen von Bord zu Bord, besiegten die Genuesen und die Mauren und eroberten unter Siegesrufen auf König Alfons Sardinien.
»Wer da?«
Die drei blieben wie angewurzelt auf einer Felucke stehen.
Margarida lugte über die Reling. Drei Fackeln wanderten zwischen den Schiffen umher.
»Lasst uns abhauen«, flüsterte Guiamon, der bäuchlings auf dem Deck lag, an den Rockzipfel seiner Schwester geklammert.
»Wir können nicht«, antwortete Margarida. »Sie schneiden uns den Weg ab …«
»Und die Werft?«, fragte Arnau.
Margarida sah zur Plaza Regomir herüber. Zwei weitere Fackeln hatten sich in Bewegung gesetzt.
»Geht auch nicht«, wisperte sie.
Die Schiffe sind heilig! Graus Worte hallten in den Köpfen der Kinder wider. Guiamon begann zu schluchzen. Margarida zischte ihn an, er solle still sein. Eine Wolke verdeckte den Mond.
»Ins Meer«, befahl die Kapitänin dann.
Sie sprangen über Bord und wateten ins Wasser. Margarida und Arnau duckten sich, Guiamon blieb aufrecht stehen. Gebannt starrten die drei auf die Fackeln, die sich zwischen den Schiffen bewegten. Als die Fackeln auf die Schiffe am Ufersaum zukamen, wateten die drei noch weiter hinaus. Margarida blickte zum Mond hinauf, während sie stumm betete, er möge noch länger verborgen bleiben.
Die Suche zog sich ewig hin, doch zum Meer sah niemand. Die Kinder warteten, ins Wasser gekauert, verängstigt. Und völlig durchnässt. Es war bitterkalt.
Auf dem Heimweg konnte Guiamon nicht mehr laufen. Er klapperte mit den Zähnen, seine Knie zitterten, und er hatte Krämpfe. Margarida und Arnau hakten ihn unter, und so legten sie die kurze Strecke zurück.
Als sie ankamen, waren die Gäste bereits gegangen. Nachdem man das Fehlen der Kinder entdeckt hatte, wollten sich Grau und die Sklaven gerade auf die Suche nach ihnen machen.
»Es war Arnau«, beschuldigte ihn Margarida, während Guiamona und die maurische Sklavin den Kleinen in ein heißes Bad setzten. »Er hat uns überredet, zum Strand zu gehen. Ich wollte nicht …« Das Mädchen unterstrich seine Lügen durch bittere Tränen, die beim Vater stets Wirkung zeigten.
Doch weder das heiße Bad noch die Decken noch die heiße Suppe brachten Guiamon wieder auf die Beine. Das Fieber stieg. Grau ließ nach seinem Arzt schicken, aber auch dessen Behandlung zeigte keine Wirkung. Das Fieber stieg weiter. Guiamon begann zu husten und sein Atem wurde zu einem mühsamen Keuchen.
»Mehr kann ich nicht für ihn tun«, resignierte Doktor Sebastià Font in der dritten Nacht, die er vorbeikam.
Guiamona schlug die Hände vor ihr blasses, eingefallenes Gesicht und brach in Tränen aus.
»Das kann nicht sein!«, brüllte Grau. »Es muss doch irgendein Mittel geben.«
»Mag sein, aber …« Der Arzt kannte Grau und seine Abneigungen genau, doch die Situation war verzweifelt. »Du müsstest Jafudà Bonsenyor rufen lassen.«
Grau schwieg.
»Hol ihn her«, bat Guiamona schluchzend.
Ein Jude, dachte Grau. Wer einen Juden schlägt, schlägt den Teufel, hatte man ihm in seiner Jugend beigebracht. Als junger Bursche war Grau mit den anderen Lehrlingen hinter den jüdischen Frauen hergelaufen, um ihre Krüge zu zerbrechen, wenn sie zu den öffentlichen Brunnen gingen, um Wasser zu schöpfen. Schließlich hatte der König auf Bitten der jüdischen Gemeinde von Barcelona diese Demütigungen verboten. Grau hasste die Juden. Sein ganzes Leben lang hatte er jene verfolgt oder angespuckt, die das Judenzeichen trugen. Sie waren Ketzer, sie hatten Jesus Christus getötet … Und nun sollte er einen von ihnen in sein Haus lassen?
»Hol ihn her!«, schrie Guiamona.
Das Geschrei hallte durchs ganze Viertel. Bernat und die anderen hörten es und kauerten sich auf ihren Strohsäcken zusammen. Seit drei Tagen hatte Bernat weder Arnau noch Habiba gesehen, aber Jaume hielt ihn über die Ereignisse auf dem Laufenden.
»Deinem Sohn geht es gut«, sagte er zu ihm, wenn sie niemand beobachtete.
Jafudà Bonsenyor eilte gleich herbei, als man ihn rief. Er trug einen schlichten schwarzen Umhang mit Kapuze und dem gelben Zeichen der Juden. Grau beobachtete ihn aus dem Esszimmer, wie er sich, gebückt und mit seinem langen grauen Bart, in Guiamonas Anwesenheit Sebastiàs Erklärungen anhörte. »Mach ihn gesund, Jude!«, sagte er stumm, als sich ihre Blicke begegneten. Jafudà Bonsenyor neigte den Kopf. Er war ein Gelehrter, der sein ganzes Leben dem Studium der Philosophie und der heiligen Schriften gewidmet hatte. Im Auftrag König Jaimes II. hatte er das Llibre de páranles de savis y filósofs verfasst. Aber er war auch Arzt, der bedeutendste Arzt der jüdischen Gemeinde. Doch als er Guiamon sah, schüttelte Jafudà Bonsenyor nur den Kopf.
Als Grau die Schreie seiner Frau hörte, stürzte er zur Treppe. Guiamona kam in Begleitung von Sebastià die Treppe hinunter, gefolgt von Jafudà.
»Du Jude!«, entfuhr es Grau, und er spuckte vor ihm aus.
Zwei Tage später starb Guiamon.
Gleich nach der Beerdigung des Jungen, als alle in Trauerkleidung nach Hause zurückkamen, winkte Grau Jaume zu sich und Guiamona.
»Ich möchte, dass du jetzt gleich Arnau mitnimmst und dafür sorgst, dass er nie wieder einen Fuß in dieses Haus setzt.«
Guiamona hörte schweigend zu.
Grau berichtete Jaume, was Margarida erzählt hatte: Arnau habe sie angestiftet. Seine beiden Kinder hätten diesen verbotenen Ausflug niemals aushecken können. Guiamona hörte seine Worte und seine Anschuldigungen, mit denen er ihr vorwarf, ihren Bruder und ihren Neffen bei sich aufgenommen zu haben. Und obwohl sie im Grunde ihres Herzens wusste, dass das Unglück nur durch ein Zusammentreffen unseliger Umstände geschehen war, hatte der Tod ihres Jüngsten ihr die Kraft geraubt, ihrem Mann zu widersprechen. Dass Margarida Arnau bezichtigte, machte es ihr nahezu unmöglich, dem Jungen gegenüberzutreten. Er war der Sohn ihres Bruders. Sie wünschte ihm nichts Böses, aber es war ihr lieber, ihn nicht mehr sehen zu müssen.
»Binde die Maurin an einen Deckenbalken in der Töpferei«, befahl Grau Jaume, bevor sich dieser auf die Suche nach Arnau machte, »und rufe das gesamte Personal zusammen, auch den Jungen.«
Der Gedanke war Grau bei der Beerdigung gekommen: Die Sklavin trug die Schuld. Sie hatte auf die Kinder aufpassen sollen. Während Guiamona weinte und der Priester seine Gebete aufsagte, hatte er die Augen zusammengekniffen und sich gefragt, wie er sie bestrafen sollte. Das Gesetz verbot ihm lediglich, sie zu töten oder zu verstümmeln, doch niemand konnte ihm einen Vorwurf daraus machen, wenn sie an den Folgen der Bestrafung starb. Grau hatte es noch nie mit einem so schweren Vergehen zu tun gehabt. Er dachte an die Foltern, von denen er gehört hatte: den Körper mit siedendem Tierfett übergießen … Ob Estranya genügend Fett in der Küche hatte? Sie in Fesseln legen oder in ein Verlies werfen – das war zu wenig. Sie prügeln, in Fußeisen legen … oder auspeitschen.
»Pass auf, wenn du sie benutzt«, hatte der Kapitän eines seiner Schiffe gesagt, nachdem er ihm das Geschenk gemacht hatte. »Mit einem einzigen Hieb kannst du einem Menschen die Haut abziehen.« Seit damals hatte er sie aufbewahrt: eine kostbare orientalische Peitsche aus geflochtenem Leder, dick, aber leicht und einfach zu handhaben. Sie endete in einer Reihe von Riemen, die mit scharfkantigen Metallstücken besetzt waren.
Irgendwann war der Priester verstummt, und mehrere Messdiener waren mit Weihrauchfässern um den Sarg herumgegangen. Guiamona hatte gehustet.
Nun war die Maurin mit den Händen an einen Deckenbalken gefesselt, sodass nur ihre Zehenspitzen den Boden berührten.
»Ich will nicht, dass mein Junge das mit ansieht«, sagte Bernat zu Jaume.
»Das ist nicht der richtige Moment, Bernat«, riet ihm Jaume. »Bring dich nicht in Schwierigkeiten …«
Bernat schüttelte erneut den Kopf.
»Du hast sehr hart gearbeitet, Bernat, bring deinen Jungen nicht in Schwierigkeiten.«
Noch in Trauerkleidung trat Grau in den Kreis, den die Sklaven, Lehrlinge und Gesellen um Habiba bildeten.
»Zieh sie aus«, befahl er Jaume.
Die Maurin versuchte die Beine anzuziehen, als sie merkte, dass er ihr Hemd zerriss. Ihr nackter, dunkler, schweißnasser Körper war den Blicken der unfreiwilligen Zuschauer ausgeliefert … und der Peitsche, die Grau auf dem Boden ausgebreitet hatte. Bernat packte Arnau, der zu schluchzen begonnen hatte, fest bei den Schultern.
Grau holte aus und ließ die Peitsche auf den nackten Torso niederfahren. Das Leder klatschte auf den Rücken und die metallbesetzten Riemen schlangen sich um den Körper und gruben sich in ihre Brüste. Ein feiner Blutstriemen erschien auf der dunklen Haut der Maurin, während an ihren Brüsten das rohe Fleisch hervortrat. Der Schmerz durchfuhr sie. Habiba warf den Kopf nach hinten und heulte auf. Arnau begann heftig zu zittern und flehte Grau an aufzuhören.
Grau holte erneut aus.
»Du solltest auf meine Kinder aufpassen!«
Das Klatschen des Leders zwang Bernat, seinen Sohn zu sich umzudrehen und seinen Kopf gegen seinen Bauch zu drücken. Die Sklavin schrie erneut auf. Arnaus Schreie wurden durch den Körper seines Vaters gedämpft. Grau peitschte die Maurin aus, bis ihr Rücken und ihre Schultern, ihre Brüste, ihr Hintern und ihre Beine eine einzige blutige Masse waren.
»Sag deinem Meister, dass ich gehe.«
Jaume presste die Lippen aufeinander. Für einen Moment war er versucht, Bernat zu umarmen. Doch sie wurden von einigen Lehrlingen beobachtet.
Bernat sah, wie der Geselle zum Haus hinüberging. Er hatte versucht, mit Guiamona zu sprechen, doch seine Schwester hatte ihn nicht empfangen. Seit Tagen hatte Arnau das Lager nicht mehr verlassen, auf dem sein Vater schlief. Er hockte den ganzen Tag auf Bernats Strohsack, den sie nun teilen mussten. Wenn sein Vater in den Raum kam, um nach ihm zu sehen, starrte er unablässig dorthin, wo sie versucht hatten, die Wunden der Maurin zu versorgen.
Nachdem Grau die Werkstatt verlassen hatte, hatten sie die Sklavin losgebunden, wobei sie gar nicht wussten, wo sie den Körper anfassen sollten. Estranya kam mit Öl und Salben in die Werkstatt geeilt, doch als sie die blutige Masse rohen Fleisches sah, schüttelte sie nur den Kopf. Arnau sah alles aus einiger Entfernung mit an, stumm, mit Tränen in den Augen. Bernat versuchte ihn hinauszuführen, doch der Junge weigerte sich. Habiba starb noch in derselben Nacht. Das einzige Zeichen, das ihren nahenden Tod ankündigte, war, dass die Maurin nicht mehr dieses unablässige Wimmern von sich gab, wie das eines Neugeborenen, das sie den ganzen Tag verfolgt hatte.
Grau hörte sich an, was sein Schwager ihm durch Jaume ausrichten ließ. Das war das Letzte, was er gebrauchen konnte: die beiden Estanyols mit ihren Muttermalen neben dem Auge, die auf der Suche nach Arbeit durch Barcelona liefen und jedem, der es hören wollte, von Grau erzählten … und das waren viele, jetzt, da er sich anschickte, den Gipfel der Macht zu erklimmen. Sein Magen revoltierte und er hatte einen trockenen Mund: Grau Puig, Ratsherr von Barcelona, Zunftmeister der Töpfer, Mitglied des Rats der Hundert, gewährt geflohenen Leibeigenen Zuflucht. Das durfte unter keinen Umständen herauskommen! Er wusste den Adel gegen sich. Je mehr Unterstützung Barcelona König Alfons gewährte, desto weniger war dieser von den Feudalherren abhängig und desto geringer fielen die Pfründen aus, die der Adel vom Monarchen zu erwarten hatte. Und wer hatte sich besonders für die Unterstützung des Königs eingesetzt? Er. Und wem schadete die Flucht der leibeigenen Bauern? Den Landadligen. Grau schüttelte den Kopf und seufzte. Verflucht die Stunde, in der er zugelassen hatte, dass dieser Bauer in seinem Haus unterkam!
»Er soll herkommen«, sagte er zu Jaume.
»Jaume hat mir gesagt, dass du uns verlassen willst«, sagte Grau, als sein Schwager vor ihm stand.
Bernat nickte.
»Und was gedenkst du zu tun?«
»Ich werde mir Arbeit suchen, um meinen Jungen zu versorgen.«
»Du hast keinen Beruf. Barcelona ist voll von Leuten wie dir: Bauern, die nicht von ihrem Land leben konnten, die Arbeit suchen und am Ende Hungers sterben. Außerdem«, setzte er hinzu, »bist du nicht einmal im Besitz des Bürgerbriefes, auch wenn du dich bereits lange genug in der Stadt aufhältst.«
»Was ist das, ein Bürgerbrief?«, fragte Bernat.
»Ein Dokument, das bescheinigt, dass du ein Jahr und einen Tag in Barcelona gelebt hast und deshalb ein freier Bürger bist, der keinem Herrn unterworfen ist.«
»Wo bekommt man dieses Dokument?«
»Das stellen die Ratsherren der Stadt aus.«
»Ich werde es verlangen.«
Grau musterte Bernat. Er war schmutzig, trug ein einfaches, zerschlissenes Hemd und Hanfschuhe. Grau stellte sich vor, wie sein Schwager vor den Ratsherren der Stadt stehen würde, nachdem er Dutzenden von Schreibern seine Geschichte erzählt hatte: der Schwager und der Neffe von Grau Puig, Ratsherr der Stadt, die dieser jahrelang in seiner Werkstatt versteckt hatte. Die Nachricht würde von Mund zu Mund gehen. Er selbst hatte oft genug Situationen wie diese ausgenutzt, um seine Gegner zu attackieren.
»Setz dich«, forderte er ihn auf. »Nachdem Jaume mir von deinen Absichten erzählt hat, habe ich mit Guiamona gesprochen.« Er log, um seinen Gesinnungswechsel zu erklären. »Und sie hat mich gebeten, mich gnädig zu zeigen.«
»Ich brauche keine Gnade«, unterbrach ihn Bernat. Er dachte an Arnau, wie er mit verlorenem Blick auf dem Strohsack kauerte. »Ich habe jahrelang hart gearbeitet, um …«
»So war die Abmachung«, fiel ihm Grau ins Wort, »und du hast sie akzeptiert. Damals war sie in deinem Interesse.«
»Mag sein«, gab Bernat zu, »aber ich habe mich nicht als Sklave verkauft, und jetzt ist sie nicht mehr in meinem Interesse.«
»Vergessen wir das mit der Gnade. Ich glaube nicht, dass du irgendwo in der Stadt Arbeit finden wirst, schon gar nicht, wenn du nicht nachweisen kannst, dass du ein freier Bürger bist. Ohne dieses Dokument wird man dich nur ausbeuten. Weißt du, wie viele unfreie Bauern hier herumlaufen, ohne Kinder am Bein, die bereit sind, umsonst zu arbeiten, nur um ein Jahr und einen Tag in Barcelona bleiben zu können? Du kannst nicht mit ihnen konkurrieren. Noch bevor du den Bürgerbrief erhalten hast, wirst du verhungert sein. Du oder dein Sohn. Und trotz allem, was vorgefallen ist, können wir nicht zulassen, dass den kleinen Arnau das gleiche Schicksal ereilt wie unseren Guiamon. Einer reicht. Deine Schwester würde es nicht ertragen.« Bernat wartete schweigend ab, dass sein Schwager weitersprach. »Wenn du willst, kannst du weiter hier arbeiten, zu denselben Bedingungen … und für einen Lohn, der dem eines ungelernten Arbeiters entspricht, abzüglich der Kosten für Kost und Logis für dich und deinen Sohn.«
»Und Arnau?«
»Was ist mit dem Jungen?«
»Du hast versprochen, ihn als Lehrling anzunehmen.«
»Und das werde ich auch tun … wenn er alt genug ist.«
»Ich möchte das schriftlich.«
»Sollst du bekommen«, versprach Grau.
»Und den Bürgerbrief?«
Grau nickte. Für ihn war es ein Leichtes, ihn zu erhalten … und vor allem diskret.