57
Mar versuchte den Männern zu folgen, die Arnau wegbrachten, doch die Menschenmassen hinderten sie daran. Sie erinnerte sich an Aledis' letzte Worte: »Gib gut auf ihn acht«, hatte diese ihr durch den Lärm hindurch zugerufen. Dann hatte sie gelächelt.
Mar hatte zurückgeschaut, während die Menge sie mit sich davonriss.
»Gib gut auf ihn acht«, rief Aledis noch einmal, während Mar sich immer wieder umdrehte und denen auszuweichen versuchte, die ihr entgegenkamen. »Ich habe ihn vor vielen Jahren einmal geliebt.«
Plötzlich war sie verschwunden.
Mar wäre beinahe hingefallen und überrannt worden. »Frauen haben hier nichts verloren«, herrschte ein Mann sie an, der sie rücksichtslos angerempelt hatte.
Die Banner hatten bereits die Plaza de Sant Jaume am Ende der Calle del Bisbe erreicht. Zum ersten Mal an diesem Morgen versiegten Mars Tränen, und aus ihrer Kehle löste sich ein Schrei, der die Männer um sie herum verstummen ließ. »Arnau!« Sie schrie, rempelte diejenigen, die vor ihr liefen, an und kämpfte sich mit den Ellenbogen durch die Menge.
Das Bürgerheer versammelte sich auf der Plaza del Blat. Mar stand nicht weit von dem Gnadenbild der Jungfrau entfernt, das auf den Schultern der Bastaixos über dem Stein in der Mitte des Platzes tanzte. Doch wo war Arnau? Mar sah, wie einige Männer mit den Ratsherren der Stadt diskutierten. Zwischen ihnen … Ja, dort war er. Es waren nur ein paar Schritte, doch die Leute auf dem Platz standen dichtgedrängt. Sie zerkratzte den Arm eines Mannes, der sich weigerte, zur Seite zu treten. Der Mann zog einen Dolch, und für einen Moment fürchtete sie, er würde zustechen. Doch dann lachte er schallend und ließ sie vorbei. Gleich hinter ihm musste Arnau stehen, doch als sie an dem Mann vorbei war, waren da nur die Ratsherren und der Zunftmeister der Bastaixos.
»Wo ist Arnau?«, fragte sie keuchend und schwitzend.
Der Bastaix mit dem Schlüssel des Marienschreins um den Hals sah zu ihr herab. Arnaus Aufenthaltsort war geheim. Die Inquisition …
»Ich bin Mar Estanyol«, sprudelte es aus ihr hervor. »Ich bin die Tochter von Ramon dem Bastaix. Du musst ihn gekannt haben.«
Nein, er hatte ihn nicht gekannt, aber er hatte von ihm gehört und wusste, dass Arnau seine Tochter bei sich aufgenommen hatte.
»Lauf schnell zum Strand«, sagte er nur.
Mar überquerte den Platz und flog die Calle de la Mar hinunter. Dort gab es kein Gedränge mehr. Auf Höhe des Konsulats hatte sie Arnau eingeholt. Er wurde von sechs Bastaixos getragen, weil er noch immer geschwächt war.
Mar wollte zu ihnen stürzen, doch einer der Bastaixos stellte sich ihr in den Weg. Guillems Anweisungen waren unmissverständlich gewesen: Niemand sollte Arnaus Aufenthaltsort kennen.
»Lass mich los!«, schrie Mar und strampelte mit den Füßen in der Luft.
Der Bastaix hatte sie um die Taille gefasst und versuchte, ihr nicht wehzutun. Sie wog nicht einmal halb so viel wie die Steine und Lasten, die er jeden Tag trug.
»Arnau! Arnau!«
Wie oft hatte er davon geträumt, diese Stimme zu hören? Als er die Augen öffnete, sah er, wie er von einigen Männern davongetragen wurde, deren Gesichter er kaum erkennen konnte. Sie brachten ihn irgendwohin, hastig, schweigend. Was ging hier vor sich? Wo war er? »Arnau!« Ja, es war die Stimme des Mädchens, das er damals auf dem Hof von Felip de Ponts verraten hatte.
»Arnau!« Er war am Strand. Die Erinnerungen verschmolzen mit dem Rauschen der Wellen und der salzigen Brise. Was machte er am Strand?
»Arnau!«
Die Stimme kam von weit weg.
Die Bastaixos wateten durch das Wasser zu einem Boot, das Arnau zu der Felucke bringen sollte, die Guillem angemietet hatte und die draußen im Hafen wartete. Das Meerwasser spritzte an Arnau hoch.
»Arnau!«
»Wartet«, stammelte er und versuchte sich aufzurichten. »Diese Stimme … Wer ist das?«
»Eine Frau«, antwortete einer der Männer. »Sie wird keine Probleme machen. Wir müssen uns beeilen …«
Arnau stand neben dem Boot, gestützt von den Bastaixos, und blickte zum Strand zurück. »Mar wartet auf dich.« Die Erinnerung an Guillems Worte brachte alles um ihn herum zum Schweigen. Guillem, Nicolau, die Inquisition, der Kerker – alles stürzte wie in einem Strudel auf ihn ein.
»Meine Güte!«, rief er. »Bringt sie her, ich flehe euch an!«
Einer der Bastaixos watete rasch zu der Stelle, wo Mar noch immer festgehalten wurde.
Arnau sah sie auf sich zulaufen.
Die Bastaixos beobachteten sie ebenfalls, bis Arnau sich von ihnen losriss. Er sah aus, als könnte ihn die kleinste Welle davonspülen.
Das Mädchen blieb vor Arnau stehen, der mit hängenden Armen dastand. Eine Träne rollte über seine Wange. Mar trat zu ihm und küsste sie weg.
Sie wechselten kein Wort, während Mar den Bastaixos half, ihn in das Boot zu heben.
Eine direkte Auseinandersetzung mit dem König würde ihn nicht weiterbringen.
Seit Guillem gegangen war, lief Nicolau in seinem Arbeitszimmer auf und ab. Wenn Arnau kein Geld mehr besaß, würde es ihm nichts nützen, ihn zu verurteilen. Der Papst würde ihn niemals von dem Versprechen entbinden, das er ihm gegeben hatte. Der Ungläubige hatte ihn am Wickel. Wenn er die Erwartungen des Papstes erfüllen wollte …
Als es an der Tür klopfte, hielt er kurz inne, doch nach einem flüchtigen Blick auf die Tür setzte Nicolau seine Wanderung fort.
Ja, eine geringere Strafe würde seinen Ruf als Inquisitor retten, eine Konfrontation mit dem König vermeiden und ihm genügend Geld einbringen, um …
Es klopfte wieder.
Nicolau warf erneut einen Blick zur Tür.
Er hätte diesen Estanyol nur zu gerne auf den Scheiterhaufen gebracht. Und seine Mutter? Was war aus der alten Frau geworden? Bestimmt hatte sie die allgemeine Verwirrung genutzt, um sich davonzustehlen.
Wieder hallte das Klopfen durch den Raum. Nicolau, der in der Nähe der Tür stand, riss diese ungestüm auf.
»Was gibt es?«
Jaume de Bellera stand mit geballter Faust da und wollte soeben ein weiteres Mal anklopfen.
»Was wollt Ihr?«, fragte der Inquisitor. Dann sah er den Soldaten, der im Vorraum Wache halten sollte und nun, von Genis Puigs Schwert bedroht, in einer Ecke kauerte. »Wie könnt Ihr es wagen, einen Soldaten der Inquisition zu bedrohen?«, wetterte er.
Genis senkte das Schwert und sah seinen Begleiter an.
»Wir warten schon lange«, antwortete der Herr von Navarcles.
»Ich habe doch gesagt, dass ich niemanden sehen will«, sagte Nicolau zu dem Soldaten, der nun von Genis' bedrohlichen Schwert befreit war.
Der Inquisitor wollte die Tür zuschlagen, doch Jaume de Bellera hinderte ihn daran.
»Ich bin ein katalanischer Baron«, sagte er, jedes Wort betonend, »und ich verdiene den Respekt, der meiner Position zusteht.«
Genis nickte zu den Worten seines Freundes und stellte sich mit gezücktem Schwert erneut dem Soldaten in den Weg, der dem Inquisitor zu Hilfe kommen wollte.
Nicolau sah dem Herrn von Bellera in die Augen. Er konnte um Hilfe rufen – die übrigen Soldaten wären gleich zur Stelle, doch diese zusammengekniffenen Augen … Wer wusste, wozu zwei Männer fähig waren, die es gewohnt waren, ihren Willen durchzusetzen? Er seufzte. Dies schien nicht der beste Tag seines Lebens zu sein.
»Nun denn, Herr Baron«, lenkte er ein, »was wollt Ihr?«
»Ihr habt versprochen, Arnau Estanyol zu verurteilen. Stattdessen habt Ihr ihn entkommen lassen.«
»Ich kann mich nicht entsinnen, etwas versprochen zu haben. Und dass ich ihn hätte entkommen lassen … Euer König, dessen Adelstitel Ihr für Euch beansprucht, hat der Kirche seine Hilfe verweigert. Bittet ihn um Erklärungen.«
Jaume Bellera stammelte unverständlich vor sich hin und fuchtelte mit den Händen.
»Ihr könnt ihn immer noch verurteilen«, sagte er schließlich.
»Er ist entkommen«, erklärte Nicolau.
»Wir werden ihn Euch bringen!«, rief Genis Puig, der weiterhin den Soldaten in Schach hielt, ihnen jedoch aufmerksam zuhörte.
Nicolau sah ihn an. Weshalb sollte er ihnen Erklärungen geben?
»Wir haben Euch reichlich Beweise für seine Verfehlungen geliefert«, bemerkte Jaume de Bellera. »Die Inquisition kann nicht …«
»Welche Beweise?«, blaffte Eimeric. Diese beiden Trottel boten ihm die Gelegenheit, seine Ehre zu retten. »Welche Beweise? Die Aussage eines Besessenen wie Euch, Herr Baron?« Jaume de Bellera wollte etwas entgegnen, doch Nicolau brachte ihn mit einer brüsken Handbewegung zum Schweigen. »Ich habe nach diesen Dokumenten gesucht, die der Bischof angeblich nach Eurer Geburt ausstellte.« Die beiden maßen sich mit Blicken. »Ich habe keine gefunden, wisst Ihr das?«
Genis Puig ließ die Hand mit dem Schwert sinken.
»Sie müssen sich in den Archiven des Bischofs befinden«, verteidigte sich Jaume de Bellera.
Nicolau schüttelte nur den Kopf.
»Und Ihr, Herr Edelmann?«, brüllte Nicolau, nun an Genis gewandt. »Was habt Ihr gegen Arnau Estanyol?« Der Inquisitor sah Genis die Angst dessen an, der etwas zu verbergen hatte. Das war seine Arbeit. »Wisst Ihr, dass es ein Vergehen ist, die Inquisition zu belügen?« Genis sah Hilfe suchend zu Jaume de Bellera, doch der starrte auf irgendeinen Punkt im Arbeitszimmer des Inquisitors. Er war auf sich allein gestellt. »Was habt Ihr mir zu sagen?« Genis wand sich und versuchte dem Blick des Inquisitors auszuweichen. »Was hat Euch der Geldwechsler getan?«, ereiferte sich Nicolau. »Hat er Euch vielleicht in den Ruin getrieben?«
Genis reagierte. Es war nur eine Sekunde, in der er den Inquisitor ansah. Das war es. Was konnte ein Geldwechsler einem Edelmann anderes antun, als ihn zu ruinieren?
»Mich nicht«, antwortete Genis.
»Euch nicht? Euren Vater vielleicht?«
Genis sah zu Boden.
»Ihr habt versucht, Euch mittels einer Lüge der Inquisition zu bedienen! Ihr habt falsches Zeugnis abgelegt, um persönliche Rache zu üben!«
Die empörte Stimme des Inquisitors brachte Jaume de Bellera wieder zur Besinnung.
»Er hat seinen Vater verbrannt«, sagte Genis fast unhörbar.
Nicolau fuchtelte in der Luft herum. Was sollte er nun tun? Sie zu verhaften und ihnen den Prozess zu machen, würde nur eine Angelegenheit wieder aufleben lassen, die man besser so rasch wie möglich begrub.
»Ihr geht jetzt zum Schreiber und zieht Eure Aussagen zurück, andernfalls … Habt ihr verstanden?«, brüllte er. Die beiden nickten fügsam. »Die Inquisition kann niemanden aufgrund von Falschaussagen verurteilen. Und nun geht«, schloss er mit einer Geste zu dem Wachsoldaten.
»Du hast bei deiner Ehre Rache geschworen«, rief Genis Puig Jaume de Bellera in Erinnerung, als sie sich zur Tür wandten.
Nicolau hörte genau, was der Mann sagte. Und er hörte auch die Antwort.
»Kein Herr von Navarcles hat je seinen Schwur gebrochen«, beteuerte Jaume de Bellera.
Der Inquisitor kniff die Augen zusammen. Ihm reichte es. Er hatte einen Angeklagten freigelassen. Er hatte soeben zwei Zeugen angewiesen, ihre Aussagen zurückzuziehen. Er schacherte mit einem … mit einem Händler aus Pisa? Er wusste nicht einmal, mit wem er es zu tun hatte! Und wenn Jaume de Bellera sein Versprechen wahrmachte, bevor die Inquisition an das Vermögen kam, das Arnau noch besaß? Würde der Ungläubige sich an die Abmachung halten? Über diese Angelegenheit musste ein für alle Mal der Mantel des Schweigens gehüllt werden.
»Nun, diesmal wird der Herr von Navarcles seinen Schwur nicht halten«, brüllte er den beiden Männern hinterher.
Die beiden fuhren herum.
»Was sagt Ihr da?«, empörte sich Jaume de Bellera.
»Das Sanctum Officium kann nicht zulassen, dass zwei …« – er machte eine abschätzige Handbewegung –, »… dass zwei Laien ein gültiges Urteil in Frage stellen. Das ist göttliches Recht. Eine andere Rache gibt es nicht! Habt Ihr verstanden, Bellera?« Der Adlige zögerte. »Wenn Ihr Euren Schwur einlöst, werde ich Euch vor Gericht bringen, weil Ihr vom Teufel besessen seid. Habt Ihr mich jetzt verstanden?«
»Aber ein Schwur …«
»Im Namen der Heiligen Inquisition entbinde ich Euch von Eurem Schwur.« Jaume de Bellera nickte. »Und Ihr«, setzte er, an Genis Puig gewandt, hinzu, »hütet Euch davor, Rache für etwas zu üben, worüber die Inquisition bereits gerichtet hat. Habe ich mich deutlich ausgedrückt?«
Genis Puig nickte.
Die Felucke, ein kleines Schiff von zehn Metern Länge mit Lateinersegel, ankerte in einer abgelegenen, nur von See zugänglichen Bucht an der Küste von Garraf, gut versteckt vor vorbeifahrenden Schiffen.
Eine windschiefe Hütte, die Fischer aus dem Strandgut errichtet hatten, das vom Mittelmeer in die Bucht gespült worden war, unterbrach die Monotonie der grauen Felsen und Kiesel, die in der gleißenden, brutheißen Sonne lagen.
Der Kapitän der Felucke hatte neben einer prallgefüllten Geldbörse genaue Anweisungen von Guillem erhalten. »Du lässt ihn mit einem vertrauenswürdigen Matrosen sowie ausreichend Wasser und Lebensmitteln dort und widmest dich dann der Küstenschifffahrt. Aber laufe nur nahe gelegene Häfen an, und kehre spätestens alle zwei Tage nach Barcelona zurück, um meine Anweisungen entgegenzunehmen. Wenn alles vorbei ist, bekommst du noch mehr Geld«, hatte er ihm versprochen, um sich seiner Ergebenheit zu versichern. Es wäre nicht nötig gewesen, denn Arnau war beliebt bei den Seeleuten, die ihn für einen gerechten Konsul hielten. Doch der Mann nahm das Geld trotzdem gerne an. Aber er hatte nicht mit Mar gerechnet. Das Mädchen weigerte sich, Arnau gemeinsam mit einem Matrosen zu pflegen.
»Ich werde mich um ihn kümmern«, versicherte sie dem Kapitän, nachdem sie in der Bucht gelandet waren und Arnau in der Hütte untergebracht hatten.
»Aber Sahat …«, versuchte der Seemann einzuwenden.
»Sag Sahat, dass Mar bei ihm ist, und sollte er etwas dagegen einzuwenden haben, dann komm mit deinem Matrosen zurück.«
Sie strahlte eine Autorität aus, die ungewöhnlich war für eine Frau. Der Kapitän sah sie an und wollte erneut widersprechen.
»Geh«, sagte sie nur.
Als die Felucke hinter den Felsen verschwand, von denen die Bucht geschützt war, atmete Mar auf und sah zum Himmel. Wie oft hatte sie sich diesen Traum verwehrt? Wie oft hatte sie sich bei dem Gedanken an Arnau gesagt, dass ihr ein anderes Schicksal bestimmt war? Und nun … Sie sah zu der Hütte hinüber. Er schlief noch immer.
Während der Fahrt hatte Mar sich immer wieder vergewissert, dass er kein Fieber hatte und nicht verletzt war. Sie hatte sich an die Reling gesetzt und Arnaus Kopf auf ihre Beine gelegt.
Manchmal hatte er die Augen geöffnet, sie angesehen und dann wieder geschlossen, während ein Lächeln auf seinen Lippen erschienen war. Sie hatte seine Hand ergriffen und jedes Mal, wenn Arnau sie ansah, fest gedrückt, bis er wieder in einen ruhigen Schlaf fiel. So war das immer und immer wieder gegangen, als hätte Arnau sich vergewissern wollen, dass sie wirklich da war. Und nun …
Mar ging zu der Hütte hinüber und setzte sich zu Füßen des Mannes nieder, den sie liebte.
Er streifte seit zwei Tagen durch Barcelona, um sich die Orte in Erinnerung zu rufen, die so lange Zeit ein Teil seines Lebens gewesen waren. Es hatte sich nicht viel verändert in den fünf Jahren, die Guillem in Pisa gewesen war. Trotz der allgemeinen Krise herrschte reges Leben in der Stadt. Barcelona war nach wie vor zum Meer hin offen, nur geschützt von den Sandbänken, auf die Arnau damals den Walfänger gesetzt hatte, als Pedro der Grausame mit seiner Flotte die gräfliche Stadt bedrohte. Gleichzeitig wurde noch immer an der westlichen Stadtmauer gebaut, deren Errichtung Pedro III. befohlen hatte. Auch die königliche Werft befand sich noch im Bau. Bis sie fertiggestellt war, wurden die Schiffe in der alten Werft auf dem Strand vor der Torre de Regomir repariert und gebaut.
Dort folgte Guillem dem Geruch des Teers, mit dem die Kalfaterer, nachdem sie den Teer mit Werg gemischt hatten, die Schiffe abdichteten. Er sah den Schiffszimmerleuten, Segelmachern, Schmieden und Seilern bei der Arbeit zu. Früher war er gemeinsam mit Arnau hier gewesen, um die Arbeit der Seiler zu überprüfen und sicherzugehen, dass bei den Seilen für Trossen und Takelagen kein alter Hanf verwendet wurde. Ehrfürchtig begleitet von den Zimmerleuten, waren sie zwischen den Schiffen umherspaziert. Nachdem sie die Seile geprüft hatten, war Arnau immer zu den Kalfaterern gegangen. Er hatte alle weggeschickt, die ihn begleiteten, um sich persönlich mit ihnen zu unterhalten, aus der Ferne von den Übrigen beäugt.
»Ihre Arbeit ist enorm wichtig. Es ist von Gesetz wegen verboten, sie unter Zeitdruck zu verrichten«, hatte er Guillem beim ersten Mal erklärt. Deshalb unterhielt sich der Konsul mit den Kalfaterern, um sich zu vergewissern, dass keiner von ihnen aus finanzieller Not gegen diese Vorschrift verstieß, die die Sicherheit der Schiffe garantieren sollte.
Guillem sah zu, wie einer von ihnen auf Knien sorgfältig die Fuge überprüfte, die er soeben kalfatert hatte. Bei dem Anblick musste er die Augen schließen. Er presste die Lippen aufeinander und schüttelte den Kopf. Sie hatten so viel zusammen durchgefochten, und nun wartete Arnau in einer kleinen Bucht darauf, dass der Inquisitor ihn zu einer milden Strafe verurteilte. Christen! Wenigstens hatte er Mar an seiner Seite … sein kleines Mädchen. Guillem war nicht überrascht gewesen, als der Kapitän der Felucke, nachdem er Mar und Arnau abgesetzt hatte, im Handelshof erschienen war und ihm erklärt hatte, was geschehen war. So war sie, sein kleines Mädchen!
»Viel Glück, mein Schatz«, hatte er gemurmelt.
»Was sagtet Ihr?«
»Nichts, nichts. Ihr habt richtig gehandelt. Verlasst nun den Hafen und kommt in einigen Tagen wieder.«
Am ersten Tag hörte er nichts von Eimeric. Am zweiten streifte er erneut durch Barcelona. Er konnte nicht länger im Handelshof herumsitzen und warten. Er ließ einen Diener dort zurück mit dem Auftrag, ihn in der ganzen Stadt zu suchen, falls jemand nach ihm fragte.
Die Viertel der Händler waren völlig unverändert. Man konnte mit geschlossenen Augen durch Barcelona laufen, nur geleitet von dem charakteristischen Geruch jedes einzelnen Viertels. Die Kathedrale war noch unvollendet, ebenso Santa María del Mar und Santa María del Pi, aber der Bau an der Kirche der Madonna des Meeres war wesentlich weiter vorangeschritten als die beiden anderen. Auch an den Kirchen Santa Clara und Santa Anna wurde gearbeitet. Guillem blieb vor jedem der Gotteshäuser stehen, um den Zimmerleuten und Maurern bei der Arbeit zuzusehen. Und die Mauer zum Meer hin? Der Hafen? Sie waren schon seltsam, diese Christen.
»Im Handelshof sucht man nach Euch«, teilte ihm am dritten Tag keuchend ein Diener mit.
»Habe ich dich, Nicolau?«, murmelte Guillem, während er zum Handelshof zurückeilte.
Nicolau Eimeric unterzeichnete das Urteil in Gegenwart von Guillem, der vor dem Schreibtisch stand. Dann siegelte er es und überreichte es schweigend dem Mauren.
Guillem nahm das Dokument entgegen und begann sofort, es zu lesen.
»Ganz am Ende«, drängte ihn der Inquisitor.
Guillem sah Nicolau über das Schriftstück hinweg an und vertiefte sich dann wieder in die Ausführungen des Inquisitors. Jaume de Bellera und Genis Puig hatten also ihre Aussagen zurückgezogen. Wie hatte Nicolau das geschafft? Margarida Puigs Aussage wurde von Nicolau in Zweifel gezogen, nachdem das Tribunal Kenntnis darüber erlangt hatte, dass ihre Familie durch Geschäfte mit Arnau ruiniert worden war. Und Elionors Aussage … Sie hatte es an jenem Gehorsam mangeln lassen, den jede Frau ihrem Mann schuldig war!
Außerdem behauptete Elionor, der Angeklagte habe vor aller Augen eine Jüdin umarmt, mit der er, so vermutete sie, ein Verhältnis habe. Als Zeugen dieses Vorgangs benannte sie Nicolau selbst sowie Bischof Berenguer d'Erill. Guillem sah Nicolau erneut über die Urteilsschrift hinweg an. Der Inquisitor erwiderte seinen Blick. Es entspreche nicht der Wahrheit, schrieb Nicolau, dass der Beklagte zu dem von Doña Elionor bezeichneten Zeitpunkt eine Jüdin umarmt habe. Weder er noch Berenguer d'Erill, der das Urteil ebenfalls unterzeichnet hatte – Guillem blätterte auf die letzte Seite, um die Unterschrift und das Siegel des Bischofs zu betrachten –, konnten diese Aussage bestätigen. Der Rauch, das Feuer, der Lärm, die Erregung – jeder dieser Umstände, so Nicolau weiter, hätte dazu führen können, eine Frau, die von Natur aus schwach war, dergleichen glauben zu machen. Da die Beschuldigung Doña Elionors bezüglich einer Beziehung Arnaus zu einer Jüdin offenkundig falsch sei, könne auch der übrigen Aussage wenig Glauben geschenkt werden.
Guillem lächelte.
Wofür der Angeklagte unzweifelhaft belangt werden könne, seien lediglich jene Aussagen, die von den Pfarrern von Santa María del Mar bezeugt worden seien. Der Beschuldigte habe die blasphemischen Äußerungen zugegeben, diese jedoch vor dem Tribunal bereut, und Reue sei schließlich das höchste Ziel jeden Inquisitionsprozesses. Deshalb laute die Strafe für Arnau Estanyol: Verlust sämtlichen Besitzes sowie die Verpflichtung, ein Jahr lang jeden Sonntag im Büßergewand der Verurteilten vor der Kirche Santa María Buße zu tun.
Guillem übersprang die rechtlichen Formeln und betrachtete die Unterschriften und Siegel des Inquisitors und des Bischofs. Er hatte es geschafft!
Er rollte das Urteil zusammen und suchte in seinen Taschen nach Abraham Levis Verzichtserklärung, um sie Nicolau zu überreichen. Guillem sah schweigend zu, wie der Inquisitor das Schreiben las, das Arnaus Ruin bedeutete, zugleich aber auch seine Freiheit und sein Leben. Andererseits hätte er ihm sowieso niemals erklären können, woher das Geld kam und warum er das Dokument so viele Jahre versteckt gehalten hatte.