20


Als sie an diesem Abend gemeinsam am Herd saßen und aßen, schenkte das Mädchen Arnau eine Sekunde länger Beachtung als nötig, eine Sekunde, in der sie ihre wunderschönen braunen Augen auf ihn heftete.

Eine Sekunde, in der Arnau wieder das Meer rauschen hörte, während sich seine Füße in den warmen Sand gruben. Er warf den Übrigen einen Blick zu, um zu sehen, ob einer von ihnen die Unvorsichtigkeit bemerkt hatte. Doch Gastó unterhielt sich weiter mit Pere, und niemand schien im Geringsten auf ihn zu achten. Niemand schien die Wellen zu hören.

Als Arnau es wagte, Aledis erneut anzusehen, hatte sie den Kopf gesenkt und stocherte mit ihrem Löffel im Essen herum.

»Iss, Mädchen!«, rief Gastó sie zur Ordnung, als er sah, dass sie mit dem Löffel im Essen herumrührte, ohne ihn zum Mund zu führen. »Mit Essen spielt man nicht.«

Gastós Worte brachten Arnau in die Realität zurück, und während des restlichen Essens schenkte Aledis Arnau nicht nur keinen Blick mehr, sondern wich ihm regelrecht aus.

Die seltenen Male, die sie sich in den nächsten Tagen begegneten, hätte Arnau nur zu gerne erneut Aledis' braune Augen auf sich ruhen gespürt. Doch das Mädchen ging ihm aus dem Weg und hielt den Blick gesenkt.

»Auf Wiedersehen, Aledis«, sagte er eines Morgens gedankenverloren zu ihr, als er die Tür öffnete, um zum Strand hinunterzugehen.

Der Zufall wollte es, dass sie in diesem Moment allein waren. Er wollte die Tür hinter sich zuziehen, doch etwas trieb ihn dazu, sich noch einmal nach dem Mädchen umzudrehen. Und da stand sie neben dem Herd, aufrecht und wunderschön, und ihre braunen Augen waren eine Einladung.

Endlich! Arnau errötete und senkte den Blick. Verwirrt versuchte er die Tür zuzuziehen, doch erneut hielt er mitten in der Bewegung inne. Aledis stand immer noch dort und lockte ihn mit ihren großen braunen Augen. Sie lächelte. Aledis lächelte ihm zu.

Seine Hand glitt von der Türklinke, er stolperte und wäre beinahe hingefallen. Er wagte es nicht, sie erneut anzusehen, und lief leichtfüßig in Richtung Strand. Die Tür ließ er offen.


»Er ist verlegen«, flüsterte Aledis ihrer Schwester an diesem Abend zu, bevor ihre Eltern und ihr Bruder sich schlafen legten. Sie lagen nebeneinander auf der Matratze, die sie sich teilten.

»Warum sollte er verlegen sein?«, fragte diese. »Er ist ein Bastaix. Er arbeitet am Strand und schleppt Steine für die Jungfrau. Du bist nur ein Kind. Er ist ein Mann«, setzte sie mit einem Anflug von Bewunderung hinzu.

»Du bist selbst ein Kind«, gab Aledis zurück.

»Ah, da spricht die Frau!«, entgegnete Alesta und drehte ihr den Rücken zu. Es war der Satz, den ihre Mutter immer benutzte, wenn eine von ihnen beiden etwas wollte, was ihrem Alter nicht angemessen war.

»Schon gut, schon gut«, gab Aledis zurück.

War sie etwa keine Frau? Aledis dachte an ihre Mutter, an die Freundinnen ihrer Mutter, an ihren Vater. Vielleicht hatte ihre Schwester recht. Weshalb sollte Arnau, ein Bastaix, der ganz Barcelona seine Verehrung für die Jungfrau unter Beweis gestellt hatte, verlegen sein, weil sie, ein kleines Mädchen, ihn ansah?


»Er ist verlegen. Ich schwör's dir, er ist verlegen«, kam Aledis am nächsten Abend auf das Thema zurück.

»Du bist wirklich lästig! Warum sollte Arnau verlegen sein?«

»Ich weiß es nicht«, antwortete Aledis, »aber es ist so. Er traut sich nicht, mich anzusehen. Er wird verlegen, wenn ich ihn ansehe. Er zuckt zusammen, wird rot, geht mir aus dem Weg …«

»Du bist verrückt!«

»Mag sein, aber …« Aledis wusste, was sie sagte. Am Abend zuvor hatte ihre Schwester sie verunsichert, doch heute würde ihr das nicht gelingen. Sie beobachtete Arnau, wartete den geeigneten Moment ab, und als niemand sie überraschen konnte, trat sie ganz nahe an ihn heran, so nahe, dass sie den Geruch seines Körpers wahrnehmen konnte.

»Hallo, Arnau.«

Es war ein schlichter Gruß, begleitet von einem zärtlichen Blick. Sie stand so dicht neben ihm, dass sie ihn beinahe berührte. Und Arnau errötete erneut, wich ihrem Blick aus und ging ihr aus dem Weg. Als sie ihn weggehen sah, lächelte Aledis, stolz auf eine Macht, derer sie sich bislang nicht bewusst gewesen war.

»Morgen wirst du es sehen«, sagte sie zu ihrer Schwester.

Die Anwesenheit der neugierigen Alesta brachte sie dazu, ihr kleines Geplänkel noch weiter zu treiben. Es konnte nicht schiefgehen. Als Arnau am Morgen das Haus verlassen wollte, lehnte sich Aledis in den Türrahmen und verstellte ihm den Weg. Sie hatte es in Gedanken tausendmal durchgespielt.

»Warum willst du nicht mit mir sprechen?«, fragte sie mit zuckersüßer Stimme, während sie ihm erneut in die Augen sah.

Sie war selbst überrascht über ihre Kühnheit. Sie hatte sich diesen schlichten Satz so oft vorgesagt, wie sie sich gefragt hatte, ob sie es wohl fertigbrachte, ihn auszusprechen, ohne ins Stottern zu kommen. Arnau wandte sich instinktiv Aledis zu, während die übliche Röte auf seinen Wangen erschien. Hinaus konnte er nicht, aber er wagte es auch nicht, Aledis anzusehen.

»Ich … ich …«

»Du, du, du«, unterbrach ihn Aledis, die nun sicherer wurde. »Du weichst mir aus. Früher haben wir geredet und gelacht, und wenn ich jetzt mit dir zu sprechen versuche …«

Aledis straffte ihren Körper, so weit es ihr nur möglich war, und ihre jungen, festen Brüste zeichneten sich deutlich unter dem Kittel ab. Arnau sah sie, und alle Steine des königlichen Steinbruchs zusammen hätten seinen Blick nicht von dem ablenken können, was Aledis ihm dort darbot. Ein Schauder lief ihm den Rücken hinunter.

»Mädchen!«

Die Stimme von Eulàlia, die die Treppe hinunterkam, brachte sie alle in die Realität zurück. Aledis riss die Tür auf und verschwand nach draußen, bevor ihre Mutter das Erdgeschoss erreichte. Arnau sah Alesta an, die die Szene mit offenem Mund von der Küche aus verfolgt hatte, und verließ gleichfalls das Haus. Aledis war bereits verschwunden.

An diesem Abend tuschelten die Mädchen miteinander, ohne Antworten auf die Fragen zu finden, die die neue Erfahrung aufgeworfen hatte und die sie mit niemandem teilen konnten. Doch wenn sich Aledis einer Sache sicher war, dann war es die Macht, die ihr Körper auf Arnau ausübte. Auch wenn sie nicht wusste, wie sie es ihrer Schwester erklären sollte. Es war ein beglückendes Gefühl, das sie völlig erfüllte. Sie fragte sich, ob wohl alle Männer so reagierten, konnte sich aber keinen anderen vorstellen als Arnau. Niemals wäre sie auf die Idee gekommen, sich gegenüber Joan oder einem der Gerberlehrlinge, mit denen Simò befreundet war, so zu verhalten. Allein die Vorstellung … Doch bei Arnau war es anders. Etwas war mit ihr geschehen.


»Was ist bloß mit dem Jungen los?«, fragte Josep, der Zunftmeister, Ramon.

»Ich weiß es nicht«, antwortete dieser ehrlich.

Die beiden Männer sahen zu den Lastkähnen hinüber. Dort stand Arnau und verlangte mit großer Geste, dass man ihm eine der schwersten Lasten aufbürdete. Als er seinen Willen durchgesetzt hatte, sahen Josep, Ramon und die anderen Zunftbrüder ihn mit unsicheren Schritten davongehen, die Lippen zusammengepresst, das Gesicht vor Anstrengung verzerrt.

»Lange hält er dieses Tempo nicht durch«, stellte Josep fest.

»Er ist jung«, versuchte Ramon ihn zu verteidigen.

»Er hält das nicht durch.«

Alle hatten es bemerkt. Arnau forderte die schwersten Bündel und die schwersten Steine und schleppte sie, als ginge es um sein Leben. Er rannte beinahe zur Ausgabestelle zurück und forderte erneut schwerere Lasten, als für ihn gut waren. Am Ende des Arbeitstages schlurfte er erschöpft zu Peres Haus.

»Was ist los, Junge?«, erkundigte sich Ramon am nächsten Tag, als sie gemeinsam Waren zu den städtischen Lagerhäusern trugen.

Arnau gab keine Antwort. Ramon wusste nicht, ob er schwieg, weil er nicht sprechen wollte oder weil er aus irgendeinem Grund nicht sprechen konnte. Erneut war sein Gesicht schmerzverzerrt wegen der schweren Last, die er auf seinen Schultern trug.

»Wenn du ein Problem hast, könnte ich …«

»Nein, nein«, brachte Arnau heraus. Wie sollte er ihm erzählen, dass sich sein Körper vor Verlangen nach Aledis verzehrte? Wie sollte er ihm erzählen, dass er nur dann Ruhe fand, wenn er immer schwerere Lasten auf seinen Schultern trug, bis sein Geist nur noch danach verlangte, ans Ziel zu kommen, und er darüber ihre Augen vergaß, ihr Lächeln, ihre Brüste, ihren ganzen Körper? Wie sollte er ihm erzählen, dass er jedes Mal, wenn Aledis ihr Spiel mit ihm trieb, die Kontrolle über seine Gedanken verlor und er sie nackt neben sich liegen sah und sich vorstellte, wie sie ihn liebkoste? Dann erinnerte er sich an die Worte des Pfarrers über verbotene Beziehungen. »Sünde! Sünde!«, mahnte dieser seine Gläubigen mit fester Stimme. Wie sollte er ihm erzählen, dass er erschöpft nach Hause kommen wollte, um todmüde auf sein Lager zu fallen und trotz der Nähe des Mädchens Schlaf zu finden?

»Nein, nein«, wiederholte er. »Danke, Ramon.«

»Er wird zusammenbrechen«, behauptete Josep bei Feierabend noch einmal.

Diesmal wagte Ramon nicht, ihm zu widersprechen.


»Findest du nicht, dass du zu weit gehst?«, fragte Alesta ihre Schwester eines Abends.

»Warum?«

»Wenn Vater davon erfährt …«

»Was sollte er erfahren?«

»Dass du Arnau liebst.«

»Ich liebe Arnau nicht! Es ist nur … er gefällt mir, Alesta. Wenn er mich ansieht …«

»Du liebst ihn«, beharrte die Jüngere.

»Nein. Wie soll ich es dir erklären? Wenn ich sehe, wie er mich ansieht, wie er errötet, dann ist das wie ein Kribbeln im ganzen Körper.«

»Du liebst ihn.«

»Nein. Schlaf jetzt! Was weißt du denn schon? Schlaf!«

»Du liebst ihn, du liebst ihn, du liebst ihn.«

Aledis beschloss, nicht zu antworten. Hatte ihre Schwester womöglich recht? Sie genoss es doch lediglich, sich beachtet und begehrt zu wissen. Es gefiel ihr, dass Arnau seine Augen nicht von ihrem Körper wenden konnte. Es bereitete ihr Genugtuung, seinen offensichtlichen Kummer zu bemerken, wenn sie aufhörte, ihn zu locken. War das Liebe? Aledis versuchte eine Antwort zu finden, doch schon nach kurzer Zeit kostete sie in Gedanken erneut dieses wohlige Gefühl aus, bevor sie schließlich einschlief.


Eines Morgens verließ Ramon den Strand, als er Joan vor Peres Haus treten sah, und ging zu ihm hinüber.

»Was ist mit deinem Bruder los?«, fragte er ihn, noch bevor er gegrüßt hatte.

Joan überlegte einige Sekunden.

»Ich glaube, er hat sich in Aledis verliebt, die Tochter von Gastó, dem Gerber.«

Ramon musste lachen.

»Dann ist es die Liebe, die ihn verrückt macht«, stellte er fest. »Wenn er so weitermacht, wird er zusammenbrechen. Man kann nicht in diesem Tempo durcharbeiten. Er ist nicht auf solche Anstrengung vorbereitet. Er wäre nicht der erste Bastaix, der zusammenbricht … Und dein Bruder ist zu jung, um als Krüppel zu enden. Unternimm etwas, Joan.«

Noch am selben Abend versuchte Joan, mit seinem Bruder zu sprechen.

»Was ist mit dir los, Arnau?«, fragte er ihn von seiner Matratze aus.

Dieser schwieg.

»Du musst es mir erzählen. Ich bin dein Bruder und ich will dir helfen. Du hast mir auch immer geholfen. Lass mich deine Probleme mit dir teilen!«

Joan ließ seinem Bruder Zeit, über seine Worte nachzudenken.

»Es ist … wegen Aledis«, gab Arnau zu. Joan wollte ihn nicht unterbrechen. »Ich weiß nicht, was mit diesem Mädchen los ist, Joan. Seit dem Spaziergang am Strand ist etwas anders zwischen uns. Sie sieht mich an, als wollte sie … Ich weiß nicht. Außerdem …«

»Außerdem was?«, fragte Joan, als sein Bruder verstummte.

Ich werde ihm nur von den Blicken erzählen, beschloss Arnau, während er an Aledis' Brüste dachte.

»Nichts.«

»Und wo liegt dann das Problem?«

»Ich habe schlechte Gedanken. Ich sehe sie nackt. Na ja, ich würde sie gerne nackt sehen. Ich würde gerne …«

Joan hatte seine Lehrer gebeten, diese Materie im Unterricht näher zu behandeln. Da sie nicht wussten, dass sein Interesse in der Sorge um seinen Bruder begründet lag, hatten sie befürchtet, der Junge könne der Versuchung erliegen und von dem Weg abkommen, den er so entschlossen begonnen hatte, und sich in Erklärungen über das Wesen und die wollüstige Natur der Frau ergangen.

»Es ist nicht deine Schuld«, behauptete Joan.

»Nein?«

»Nein. Die Verderbtheit«, flüsterte er über den Herd hinweg, neben dem sie schliefen, »ist eine der vier angeborenen Untugenden des Menschen, mit denen wir wegen der Erbsünde zur Welt kommen. Die Verderbtheit der Frau jedoch übertrifft alles andere.«

Joan gab die Erklärungen seiner Lehrer aus dem Gedächtnis wieder.

»Welches sind die anderen drei Untugenden?«

»Geiz, Verblendung und Gleichgültigkeit.«

»Und was hat die Verderbtheit mit Aledis zu tun?«

»Die Frauen sind von Natur aus schlecht und genießen es, den Mann auf die Wege des Bösen zu führen«, dozierte Joan.

»Warum?«

»Weil die Frauen unstet sind wie ein Windhauch. Sie treiben von hier nach dort wie ein Blatt im Wind.«

Joan dachte an den Priester, der diesen Vergleich angestellt hatte. Dabei hatte er mit den Armen um seinen Kopf herumgefuchtelt, die Hände gespreizt, während seine Finger auf und ab flatterten.

»Zum Zweiten«, dozierte er weiter, »wurde die Frau von Natur aus mit wenig Verstand erschaffen, der ihrer natürlichen Verderbtheit Einhalt geböte.«

Joan hatte das alles gelesen und noch viel mehr, doch er war nicht in der Lage, das Gelesene in Worte zu fassen. Die Gelehrten behaupteten außerdem, die Frau sei von Natur aus kalt und phlegmatisch, und bekanntlich entbrenne etwas Kaltes, wenn es Feuer fange, besonders heftig. Den Kennern zufolge war die Frau die Antithese des Mannes. Sogar ihr Körper sei dem des Mannes entgegengesetzt, unten breit und oben schmal, während es bei einem wohlgestalten Mann genau andersherum sein solle: schlank von der Brust abwärts, breite Schultern und Brust, kurzer, kräftiger Hals und ein großer Kopf. Komme eine Frau zur Welt, so sei der erste Buchstabe, den sie ausspreche, das ›E‹, ein zänkischer Laut. Hingegen sei der erste Buchstabe, den ein Mann ausspreche, das ›A‹, der erste Buchstabe des Alphabets und dem ›E‹ genau entgegengesetzt.

»Das kann nicht sein. Aledis ist nicht so«, widersprach Arnau schließlich.

»Mach dir nichts vor. Mit Ausnahme der Jungfrau Maria, die Jesus ohne Sünde empfing, sind alle Frauen gleich. Sogar die Vorschriften deiner Zunft tragen dem Rechnung! Verbieten sie nicht ehebrecherische Beziehungen? Schreiben sie nicht den Ausschluss jedes Mitglieds vor, das eine Geliebte hat oder mit einer ehrlosen Frau zusammenlebt?«

Diesem Argument hatte Arnau nichts entgegenzusetzen. Von den Argumenten der Gelehrten und Philosophen hatte er keine Ahnung. Er konnte sie trotz Joans Bemühungen ignorieren, doch bei den Zunftvorschriften war das anders. Diese Regeln waren ihm sehr wohl bekannt. Die Zunftmeister hatten ihn damit vertraut gemacht und ihn darauf hingewiesen, dass man ihn ausschließen werde, wenn er sich nicht daran halte. Und die Zunft konnte nicht irren!

Arnau war entsetzlich verwirrt.

»Aber was kann man dann tun? Wenn alle Frauen schlecht sind …«

»Zunächst einmal muss man sie heiraten«, fiel ihm Joan ins Wort, »und wenn der Bund der Ehe geschlossen ist, so handeln, wie es uns die Kirche lehrt.«

Heiraten … Diese Möglichkeit hatte er noch nie bedacht, aber wenn es die einzige Lösung war …

»Und was muss man tun, wenn man dann verheiratet ist?«, fragte er. Seine Stimme bebte angesichts der Aussicht, ein Leben lang mit Aledis zusammen zu sein.

Joan nahm den Faden dessen wieder auf, was ihm seine Lehrer an der Domschule erklärt hatten: »Ein guter Ehemann muss versuchen, die natürliche Verderbtheit seiner Frau zu kontrollieren, indem er einige Grundregeln befolgt. Die erste lautet, dass die Frau dem Manne Untertan sein solle: Sub potestate viri eris , heißt es in der Genesis. Die zweite, nach dem Buch Kohelet: Mulier si primatum haber …« Joan stockte. » Mulier si primatum habuerit, contraria est viro suo. Das heißt, wenn die Frau die Herrschaft im Haus übernimmt, wird sie ihrem Mann nicht gehorchen. Eine weitere Regel geht auf das Buch der Sprichwörter zurück: Qui delicate nutrit servum suum, inveniet contumacem . Wer jene mit Milde behandelt, die ihm dienen sollen – und dazu gehört auch die Frau –, wird dort Aufbegehren finden, wo er Bescheidenheit, Unterwürfigkeit und Gehorsam antreffen sollte. Und zeigt sich trotz alledem die Verderbtheit einer Frau, soll ihr Ehemann sie mit Scham und Angst strafen. Sie züchtigen, wenn sie jung ist, und nicht warten, bis sie alt ist.«

Arnau hörte seinem Bruder schweigend zu.

»Joan«, sagt er, als dieser geendet hatte, »glaubst du, ich könnte Aledis heiraten?«

»Natürlich! Aber du solltest noch ein wenig warten, bis du es in der Zunft zu etwas gebracht hast und sie ernähren kannst. In jedem Fall wäre es gut, wenn du mit ihrem Vater sprichst, bevor er sie einem anderen verspricht. Sonst kannst du nämlich nichts mehr machen.«

Das Bild von Gastó Segura mit seinen schwarzen Zahnstummeln erschien vor Arnaus innerem Auge wie ein unüberwindliches Hindernis. Joan erriet die Ängste seines Bruders.

»Du musst es tun«, sagte er.

»Würdest du mir helfen?«

»Natürlich!«

Für einige Momente herrschte Schweigen zwischen den beiden Matratzen vor Peres Herd.

»Joan«, sagte dann Arnau in die Stille hinein.

»Ja?«

»Danke.«

»Keine Ursache.«

Die beiden Brüder versuchten zu schlafen, doch es gelang ihnen nicht. Arnau, weil er völlig hingerissen war von der Idee, seine geliebte Aledis zu heiraten, und Joan, weil er den Erinnerungen an seine Mutter nachhing. Hatte Ponç, der Kupferschmied, womöglich recht gehabt? Die Frau sei von Natur aus schlecht. Die Frau soll dem Manne Untertan sein. Der Mann soll die Frau züchtigen. Hatte der Kupferschmied recht gehabt? Wie konnte er, Joan, das Gedächtnis seiner Mutter achten und gleichzeitig solche Ratschläge geben? Joan erinnerte sich, wie die Hand seiner Mutter in dem kleinen Fensterchen ihres Gefängnisses erschienen war und ihm über den Kopf gestreichelt hatte. Er erinnerte sich an den Hass, den er Ponç gegenüber empfunden hatte und immer noch empfand …

In den folgenden Tagen brachte keiner der beiden den Mut auf, den misslaunigen Gastó anzusprechen. Der Aufenthalt als Mieter in Peres Haus erinnerte den Mann immer wieder aufs Neue an sein Unglück, das dazu geführt hatte, dass er sein eigenes Haus verlor. Der Gerber wirkte auf sie noch schroffer als sonst, und seine brummige, widerborstige, grobe Art hielt sie davon ab, ihm ihren Vorschlag zu unterbreiten.

Unterdessen ließ sich Arnau weiterhin von Aledis in ihren Bann ziehen. Er beobachtete sie, folgte ihr mit Blicken, und es gab keinen Moment des Tages, an dem seine Gedanken nicht bei ihr waren. Nur wenn Gastó auftauchte, wurden seine Phantasien zurechtgestutzt.

Denn ganz gleich, welche Verbote die Priester und die Zünfte aussprachen – der Junge konnte einfach nicht die Augen von Aledis wenden, die jede Gelegenheit nutzte, um ihn aufzureizen. Arnau war wie gebannt von ihrem Anblick. Ihr ganzer Körper zog ihn unwiderstehlich an. »Du wirst meine Frau sein. Eines Tages wirst du meine Frau sein«, dachte er erregt. Dann versuchte er, sie sich nackt vorzustellen, und seine Gedanken wanderten zu verbotenen, unbekannten Orten, denn mit Ausnahme des geschundenen Körpers von Habiba hatte er noch nie eine nackte Frau gesehen.

Arnau setzte alles daran, einen geeigneten Moment zu finden, um mit Gastó zu reden.

»Was steht ihr hier herum und haltet Maulaffen feil!«, fuhr der Gerber sie an, als die beiden Jungen einmal in der naiven Absicht vor ihn traten, ihn um die Hand seiner Tochter zu bitten.

Das Lächeln, mit dem Joan Gastó gewinnen wollte, verschwand von seinem Gesicht, als der Gerber zwischen sie trat und sie einfach beiseite stieß.

»Geh du, ich schaff das einfach nicht«, sagte Arnau ein andermal zu seinem Bruder.

Gastó saß alleine am Tisch im Erdgeschoss. Joan nahm ihm gegenüber Platz und räusperte sich. Als er zum Sprechen ansetzen wollte, sah der Gerber von dem Lederstück auf, das er gerade untersuchte.

»Gastó …«, begann Joan.

»Ich ziehe ihm bei lebendigem Leibe die Haut ab! Ich reiße ihm die Eier ab!«, polterte der Gerber los, während er durch die Lücken zwischen den schwarzen Zahnstummeln ausspuckte. »Simò!«

Joan wandte sich zu Arnau um, der sich in einer Ecke des Raumes versteckt hatte, und zuckte mit den Achseln. Unterdessen war Simò auf den Schrei seines Vaters herbeigeeilt.

»Wie kommt dieser Knick hier hin?«, brüllte er ihn an und hielt ihm das Stück Leder vor die Nase.

Joan stand auf und zog sich von dem Familienstreit zurück.

Aber sie gaben nicht auf.

»Gastó …«, versuchte es Joan erneut, als sich der Gerber nach dem Abendessen, offensichtlich guter Laune, zu einem Strandspaziergang aufmachte. Die beiden Jungen folgten ihm.

»Was willst du?«, fragte er, ohne stehen zu bleiben.

»Ich … ich wollte mit dir über Aledis sprechen.«

Als Gastó den Namen seiner Tochter hörte, blieb er stehen und trat so nahe zu Joan, dass der Junge seinen übelriechenden Atem spürte.

»Was hat sie angestellt?«

Gastó respektierte Joan. Er hielt ihn für einen ernsthaften jungen Mann. Die Erwähnung von Aledis und sein angeborenes Misstrauen ließen ihn vermuten, dass Joan ihr etwas vorzuwerfen hatte, und der Gerber konnte nicht zulassen, dass auch nur der kleinste Makel auf sein Schmuckstück fiel.

»Nichts«, antwortete Joan.

»Was heißt nichts?«, entgegnete Gastó hastig, ohne auch nur einen Millimeter von Joan abzurücken. »Warum willst du dann mit mir über Aledis sprechen? Sag die Wahrheit, was hat sie angestellt?«

»Nichts. Sie hat nichts angestellt. Ehrlich.«

»Nichts? Und du?«, sagte er, diesmal zur Beruhigung seines Bruders an Arnau gerichtet. »Was hast du dazu zu sagen? Was weißt du über Aledis?«

»Ich? Nichts …«

Arnaus Zögern gab Gastós zwanghaften Befürchtungen neue Nahrung.

»Erzähl es mir!«

»Es ist nichts … gar nichts …«

Gastó wartete nicht länger und stapfte zu Peres Haus zurück.

Die beiden Jungen versuchten es noch zwei weitere Male, aber sie kamen gar nicht dazu, sich zu erklären. Nach einigen Wochen schilderten sie entmutigt Pater Albert ihr Problem, der lächelnd versprach, mit Gastó zu reden.


»Es tut mir leid, Arnau«, erklärte Pater Albert eine Woche später. Er hatte Arnau und Joan an den Strand bestellt. »Gastó Segura willigt nicht in eine Heirat mit seiner Tochter ein.«

»Warum?«, fragte Joan. »Arnau ist ein anständiger Kerl.«

»Ihr wollt, dass ich meine Tochter einem Hafenarbeiter zur Frau gebe?«, hatte der Gerber dem Pfarrer entgegnet. »Einem Sklaven, der nicht einmal genug verdient, um sich ein Zimmer zu mieten?«

Der Pater hatte versucht, ihn zu überzeugen: »Im Ribera-Viertel arbeiten keine Sklaven mehr. Das war früher einmal. Du weißt genau, dass es verboten ist, Sklaven …«

»Es ist Sklavenarbeit.«

»Das war es früher«, beharrte der Priester. »Außerdem«, setzte er hinzu, »ist es mir gelungen, eine gute Mitgift für deine Tochter zu beschaffen.« Gastó Segura, der das Gespräch bereits für beendet erklärt hatte, drehte sich abrupt zu dem Priester um. »Davon könnten sie ein Haus kaufen …«

Gastó unterbrach ihn erneut:

»Meine Tochter braucht keine Almosen von den Reichen! Hebt Euch Eure Predigten für andere auf.«

Nachdem er Pater Alberts Worte gehört hatte, blickte Arnau aufs Meer hinaus. Ein Streifen schimmernden Mondlichts zog sich vom Horizont bis zum Ufer und verlor sich in der Gischt der Wellen, die sich am Strand brachen.

Pater Alberts Schweigen wurde vom Rauschen der Wellen übertönt. Und wenn Arnau ihn nach den Gründen fragte? Was sollte er ihm sagen?

»Warum?«, brachte Arnau heraus, während er weiter zum Horizont sah.

»Gastó Segura ist ein sonderbarer Mensch.« Er durfte den Jungen nicht noch trauriger machen! »Er will einen Adligen für seine Tochter! Wie kann ein Gerbergeselle so einen Wunsch hegen?«

Einen Adligen. Ob ihm der Junge das geglaubt hatte? Niemand konnte sich gering geschätzt fühlen, wenn der Adel im Spiel war. Sogar das stete, geduldige Rauschen der Wellen schien auf Arnaus Antwort zu warten.

Ein Schluchzen hallte über den Strand.

Der Priester legte den Arm um Arnaus Schulter und spürte, wie der Junge von Weinkrämpfen geschüttelt wurde. Dann nahm er auch Joan in den Arm. So standen die drei am Meer.

»Du wirst eine gute Frau finden«, sagte der Priester schließlich.

»Aber keine wie sie«, dachte Arnau.

Загрузка...