58


Arnau verschlief den Rest des Tages. Als es dunkel wurde, machte Mar ein kleines Feuer mit dem dürren Laub und dem Holz, das die Fischer in der Hütte gesammelt hatten. Das Meer war ruhig. Die Frau sah in den sternenklaren Himmel, dann wanderte ihr Blick zu den steilen Felswänden, von denen die Bucht umgeben war. Der Mond beschien die zerklüfteten Felsen und trieb ein launisches Spiel aus Licht und Schatten.

Sie atmete die Stille ein und schmeckte die Ruhe. Die Welt existierte nicht. Barcelona existierte nicht, auch nicht die Inquisition, nicht einmal Elionor oder Joan. Es gab nur sie und Arnau.

Gegen Mitternacht hörte sie Geräusche aus der Hütte. Sie stand auf, um zu Arnau zu gehen, als dieser auf einmal im Mondlicht erschien. Reglos standen die beiden da, einige Schritte voneinander entfernt.

Mar stand zwischen Arnau und dem Lagerfeuer. Der Widerschein der Flammen betonte ihre Umrisse, während ihr Gesicht im Dunkeln blieb. ›Bin ich schon im Himmel?‹, fragte sich Arnau. Als sich seine Augen schließlich an die Dunkelheit gewöhnten, nahmen die Gesichtszüge, die ihn bis in seine Träume verfolgt hatten, nach und nach Gestalt an. Zuerst ihre schönen, glänzenden Augen – wie viele Nächte hatte er ihretwegen geweint? Dann ihre Nase, ihre Wangenknochen, ihr Kinn … und ihr Mund. Diese Lippen … Die Gestalt breitete die Arme aus, und der Feuerschein hüllte ihren Körper ein, der im Zusammenspiel von Licht und Schatten unter der durchscheinenden Kleidung zu erahnen war. Sie rief seinen Namen.

Arnau folgte der Aufforderung. Was ging hier vor? Wo war er? War das wirklich Mar? Er wusste die Antwort, als er ihre Hände ergriff, ihr strahlendes Lächeln sah, den warmen Kuss spürte, den sie auf seine Lippen drückte.

Dann klammerte sich Mar ganz fest an Arnau und die Wirklichkeit kehrte zurück. »Umarme mich«, hörte er sie flüstern. Arnau schlang seine Arme um das Mädchen und presste sie ganz fest an sich. Er hörte sie weinen und spürte, wie das Schluchzen ihren Körper schüttelte. Er strich ihr über den Kopf und wiegte sie sanft hin und her. Wie viele Jahre mussten vergehen, bis er diesen Moment auskosten konnte? Wie viele Fehler hatte er begangen?

Arnau hob Mars Kopf von seiner Schulter und zwang sie, ihm in die Augen zu sehen.

»Es tut mir leid«, begann er. »Es tut mir leid, dass ich dich diesem Mann …«

»Sei still«, unterbrach sie ihn. »Die Vergangenheit existiert nicht mehr. Es gibt nichts zu verzeihen. Wir leben heute. Sieh nur, das Meer.« Sie löste sich von ihm und nahm seine Hand. »Das Meer weiß nichts über das Gestern. Es ist einfach da. Es wird niemals Erklärungen von uns verlangen. Da sind die Sterne und der Mond, und sie leuchten für uns. Was interessiert sie, was hätte gewesen sein können? Sie leuchten uns und sind froh darüber. Siehst du, wie sie am Himmel funkeln? Würden sie sonst so strahlen? Müsste nicht ein Sturm losbrechen, wenn Gott uns strafen wollte? Wir sind alleine, nur du und ich, ohne Vergangenheit, ohne Erinnerungen, ohne Schuld. Da ist nichts, was uns im Weg stehen könnte.«

Arnau blickte in den Himmel. Dann sah er aufs Meer hinaus, zu den kleinen Wellen, die sanft in der Bucht ausliefen. Er betrachtete die Felswand, die sie schützte, und wiegte sich in der Stille.

Ohne Mars Hand loszulassen, wandte er sich dem Mädchen zu. Er musste ihr etwas beichten, etwas Schmerzliches, das er seiner Madonna nach dem Tod seiner ersten Frau versprochen hatte, und dieses Versprechen konnte er auch nun nicht brechen. Er sah ihr in die Augen und erklärte es ihr leise flüsternd.

Als er geendet hatte, seufzte Mar.

»Ich weiß nur, dass ich dich nicht wieder verlassen werde, Arnau. Ich will bei dir sein, dir nahe sein … zu den Bedingungen, die du stellst.«


Am Morgen des fünften Tages erschien eine Felucke, der niemand anders entstieg als Guillem. Die drei trafen sich am Ufer. Mar trat ein wenig zurück, damit sich die beiden Männer umarmen konnten.

»Mein Gott!«, schluchzte Arnau.

»Welcher Gott?«, fragte Guillem mit einem Kloß im Hals. Er schob Arnau von sich weg und lächelte, sodass man seine weißen Zähne blitzen sah.

»Der Gott aller«, antwortete Arnau gleichfalls fröhlich.

»Komm her, mein kleines Mädchen«, sagte Guillem dann und breitete die Arme aus.

Mar trat zu den beiden Männern und umarmte sie.

»Ich bin nicht mehr dein kleines Mädchen«, erklärte sie mit einem verschmitzten Lächeln.

»Das wirst du immer sein«, beteuerte Guillem.

»Ja, das wirst du immer sein«, bestätigte auch Arnau.

Eng umschlungen begaben sich die drei zu den Resten des Lagerfeuers vom Abend zuvor.

»Du bist frei, Arnau«, teilte ihm Guillem mit, nachdem er Platz genommen hatte. Er hielt ihm das Urteil hin.

»Sag mir, was drinsteht«, bat ihn Arnau, ohne das Schriftstück an sich zu nehmen.

»Darin steht, dass dein Besitz konfisziert wird …« Guillem sah Arnau an, konnte jedoch keine Regung erkennen. »Und dass du ein Jahr lang jeden Sonntag vor der Kirche Santa María öffentlich Buße tun musst. Darüber hinaus lässt dich die Inquisition unbehelligt.«

Arnau sah sich barfüßig und im knöchellangen Büßergewand mit den zwei aufgemalten Kreuzen vor dem Portal seiner Kirche stehen.

»Ich hätte wissen müssen, dass es dir gelingen würde, als ich dich im Gerichtssaal sah. Aber ich befand mich nicht in der Verfassung …«

»Arnau«, unterbrach ihn Guillem, »hast du gehört, was ich gesagt habe? Die Inquisition konfisziert deinen gesamten Besitz.«

Arnau schwieg einen Moment, bevor er antwortete: »Ich war so gut wie tot, Guillem. Eimeric hatte mich fast so weit. Und außerdem hätte ich alles, was ich habe – oder vielmehr hatte –, für die vergangenen Tage gegeben.« Mit diesen Worten ergriff er Mars Hand. Guillem sah das Mädchen an, das übers ganze Gesicht strahlte. Ihre Augen leuchteten. Guillem lächelte ebenfalls.

Arnau tätschelte die Hand des Mädchens.

»Ich nehme an, es hat viel Geld gekostet, dass der König nicht gegen das Bürgerheer einschreitet.«

Guillem nickte.

»Danke«, sagte Arnau.

Die beiden Männer sahen sich an.

»Und du?«, sagte Arnau schließlich, um den Bann zu brechen. »Wie ist es dir in den vergangenen Jahren ergangen?«


Die Sonne stand bereits hoch am Himmel, als die drei zu der Felucke wateten. Zuvor hatten sie dem Kapitän durch Zeichen zu verstehen gegeben, dass er in die Bucht kommen solle. Arnau und Guillem gingen an Bord.

»Einen Moment noch«, bat Mar.

Das Mädchen wandte sich zu der Bucht um und betrachtete die Hütte. Was erwartete ihn nun? Öffentliche Buße, Elionor …

Mar blickte zu Boden.

»Mach dir keine Gedanken wegen ihr.« Arnau streichelte ihr tröstend übers Haar. »Wenn nichts mehr zu holen ist, wird sie uns nicht weiter behelligen. Der Palast in der Calle de Monteada ist Teil meines Vermögens, gehört also nun der Inquisition. Ihr bleibt nur noch Montbui. Sie wird dort bleiben müssen.«

»Die Burg«, sagte Mar leise. »Wird sie ihr von der Inquisition überlassen?«

»Nein. Die Burg und das Land wurden uns vom König zur Hochzeit geschenkt. Die Inquisition kann sie nicht als mein Vermögen konfiszieren.«

»Die Bauern tun mir leid«, murmelte Mar und erinnerte sich an den Tag, an dem Arnau die Leibeigenschaft abgeschafft hatte.

Niemand erwähnte Mataró oder den Hof Felip de Ponts.

»Wir werden uns schon irgendwie durchschlagen«, erklärte Arnau schließlich.

»Was redest du da?«, unterbrach ihn Guillem. »Ihr werdet so viel Geld haben, wie ihr braucht. Wenn ihr wolltet, könnten wir sogar den Palast in der Calle Monteada zurückkaufen.«

»Es ist dein Geld«, widersprach Arnau.

»Es ist unser Geld. Ich habe niemanden außer euch beiden. Was soll ich mit dem Geld anfangen, das ich deiner Großzügigkeit verdanke? Es gehört euch.«

»Nein, nein«, wehrte Arnau ab.

»Ihr seid meine Familie. Mein kleines Mädchen … und der Mann, dem ich meine Freiheit und meinen Reichtum zu verdanken habe. Bedeutet das, dass ihr mich nicht in eurer Familie haben wollt?«

Mar legte ihre Hand auf Guillems Arm. Arnau kam ins Stottern: »Nein, nein … Das wollte ich damit nicht sagen … Natürlich bist du …«

»Nun, und das Geld kommt mit mir«, fiel Guillem ihm erneut ins Wort. »Oder willst du, dass ich es der Inquisition überlasse?«

Arnau musste lachen.

»Und ich habe große Pläne«, setzte Guillem hinzu.

Mar sah noch immer zur Bucht zurück. Eine Träne rollte über ihre Wange, benetzte ihre Lippen und verschwand in ihrem Mundwinkel. Nun ging es zurück nach Barcelona. Zu einer ungerechten Strafe, der Inquisition, zu Joan, der seinen Bruder verraten hatte … Und zu einer Ehefrau, die sie verachtete und die sie doch nicht loswurde.

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