4


Zu seinen Füßen lag die Stadt.

»Sieh nur, Arnau«, sagte Bernat zu dem Kind, das friedlich an seine Brust geschmiegt schlief. »Barcelona. Dort werden wir frei sein.«

Seit seiner Flucht mit Arnau hatte Bernat immerzu an diese Stadt gedacht, die große Hoffnung aller Unfreien. Bernat hatte von ihr gehört, wenn sie das Land des Herrn bestellten, die Mauern der Burg ausbesserten oder irgendeine andere Arbeit für den Herrn de Bellera verrichteten. Immer auf der Hut, um nicht von dem Verwalter oder den Soldaten gehört zu werden, hatte das Getuschel lediglich Neugier in Bernat geweckt. Er war glücklich auf seinem Land und hätte niemals seinen Vater im Stich gelassen. Er hätte auch nicht mit ihm flüchten können. Aber nachdem er sein Land verloren hatte und nachts in der Höhle den Schlaf seines Sohnes bewachte, hatten diese Worte Gestalt angenommen, bis sie von den Wänden der Höhle widerhallten.

»Wenn man es schafft, ein Jahr und einen Tag dort zu leben, ohne von seinem Grundherrn entdeckt zu werden«, erinnerte er sich, »erhält man die Bürgerschaft und ist frei.« Damals hatten alle Leibeigenen geschwiegen. Bernat hatte sie angesehen. Einige hatten mit finsterer Miene die Lippen zusammengepresst, andere hatten den Kopf geschüttelt, und wieder andere hatten gelächelt und in den Himmel geblickt.

»Und man muss nur in der Stadt leben?«, hatte ein Junge das Schweigen gebrochen. Er war einer von denen, die davon geträumt hatten, die Fesseln zu zerreißen, die sie an ihr Land ketteten. »Weshalb kann man in Barcelona die Freiheit erhalten?«

Der Älteste hatte ihm bedächtig geantwortet: »Ja, mehr ist nicht nötig. Man muss nur eine Zeit lang dort leben.«

Der Junge hatte ihn mit leuchtenden Augen gebeten weiterzuerzählen.

»Barcelona ist sehr reich. Viele Jahre lang, von Jaime dem Eroberer bis zu Pedro dem Großen, haben die Könige von der Stadt Geld für ihre Kriege und für ihren Hof gefordert. In all diesen Jahren haben die Bürger Barcelonas dieses Geld bezahlt, dafür jedoch besondere Privilegien verlangt. Schließlich schrieb Pedro der Große diese Rechte während des Krieges gegen Sizilien in einem Kodex fest.« Der Alte hatte gestockt. » Recognoverunt proceres heißt er, glaube ich. Dort steht geschrieben, dass wir die Freiheit erwerben können. Barcelona braucht Arbeiter, freie Arbeiter.«

Am nächsten Tag war der Junge nicht zu der vom Herrn festgesetzten Zeit erschienen. Und auch nicht am darauffolgenden Tag. Sein Vater aber hatte schweigend weitergearbeitet. Nach drei Monaten hatte man den Jungen, angetrieben von Peitschenhieben, in Ketten zurückgebracht. Doch alle glaubten, einen Funken Stolz in seinen Augen erkennen zu können.

Von den Höhen der Sierra de Collserola, auf der alten Römerstraße, die Ampurias mit Tarragona verband, sah Bernat der Freiheit entgegen … und erblickte das Meer! Er hatte es noch nie zuvor gesehen, hatte sich diese gewaltige Wasserfläche, die kein Ende zu haben schien, nicht einmal ausmalen können. Er wusste, dass es auf der anderen Seite dieses Meeres katalanische Besitzungen gab, das erzählten die Händler, aber vorstellen konnte er sich das nicht so recht. Zum ersten Mal sah er etwas, das kein Ende zu haben schien. »Hinter diesen Bergen.« – »Auf der anderen Seite des Flusses.« Immer hatte er Fremden, die nach dem Weg fragten, einen solchen Punkt benennen können … Er blickte zum Horizont, der mit dem Wasser verschmolz. So schaute er eine Weile in die Ferne, während er Arnaus Köpfchen streichelte, über die weichen, lockigen Haare, die ihm während der Zeit in den Bergen gewachsen waren.

Dann sah er dorthin, wo das Meer auf Land traf. Fünf Schiffe ankerten vor der kleinen Insel Maians. Bis zu diesem Tag hatte Bernat lediglich Zeichnungen von Schiffen gesehen. Zu seiner Rechten erhob sich der Berg Montjuïc, der ebenfalls vom Meer umspült wurde. Zu seinen Füßen erstreckten sich Felder und Ebenen, bis hin zu den Stadtmauern von Barcelona. Innerhalb der Mauern befanden sich Hunderte von Häusern. Einige duckten sich flach zwischen die Nachbarbauten, andere waren von majestätischer Pracht: Paläste, Kirchen, Klöster … Bernat fragte sich, wie viele Leute dort leben mochten. Die Stadt schien ihm wie ein Bienenstock. Außer zum Meer hin war sie an allen Seiten von Mauern umgeben, und jenseits der Mauern nur noch Felder. Vierzigtausend Menschen lebten hier, hatte er gehört.

»Wie soll man uns unter vierzigtausend Menschen finden?«, murmelte er und sah Arnau an. »Du wirst frei sein, mein Sohn.«

Dort konnten sie untertauchen. Er würde nach seiner Schwester suchen. Doch Bernat wusste, dass er zuerst durch die Stadttore musste. Und wenn Llorenç de Bellera seine Beschreibung ausgegeben hatte? Das Muttermal … In den drei Nächten, die er von den Bergen bis hierher gebraucht hatte, hatte er darüber nachgedacht. Er setzte sich auf den Boden und ergriff einen Hasen, den er mit der Armbrust erlegt hatte. Er schnitt ihm die Kehle durch und ließ das Blut auf seine Handfläche tropfen, in der er ein kleines Häuflein Sand hielt. Er vermischte das Blut mit dem Sand, und als die Mischung zu trocknen begann, strich er sie über sein rechtes Auge. Dann steckte er den Hasen in den Sack.

Als er merkte, dass die Paste getrocknet war und er das Auge nicht mehr öffnen konnte, begann er den Abstieg zum Stadttor Santa Anna im nördlichen Teil der westlichen Stadtmauer. Die Leute bildeten eine Schlange auf dem Weg, um in die Stadt zu gelangen. Bernat schloss sich ihnen an, wobei er leicht die Füße nachzog, während er unablässig das Kind streichelte, das mittlerweile wach war. Ein barfüßiger Bauer, der sich unter einem großen Sack Rüben beugte, wandte sich zu ihm um. Bernat lächelte ihm zu.

»Lepra!«, schrie der Bauer, ließ den Sack fallen und sprang mit einem Satz vom Weg.

Bernat sah, wie die ganze Schlange bis hin zum Stadttor sich auflöste und zu beiden Seiten in den Straßengraben zurückwich. Sie rückten von ihm ab und ließen Gegenstände und Lebensmittel, mehrere Karren und einige Maultiere vor dem Stadttor zurück. Und mittendrin tappten schreiend die Blinden umher, die vor dem Stadttor Santa Anna um Almosen bettelten.

Arnau begann zu weinen, und Bernat sah, wie die Soldaten ihre Schwerter zogen und die Tore schlossen.

»Geh zum Siechenhaus!«, schrie ihm jemand von Ferne zu.

»Es ist keine Lepra!«, protestierte Bernat. »Ich habe mir einen Ast ins Auge gestoßen. Seht her!« Bernat hob die Hände und bewegte sie. Dann setzte er Arnau ab und begann sich zu entkleiden. »Seht her!«, sagte er noch einmal und zeigte seinen kräftigen, unversehrten, makellosen Körper, ohne eine Schwäre oder eine offene Stelle. »Seht her! Ich bin nur ein Bauer, aber ich brauche einen Arzt, der mein Auge heilt, andernfalls kann ich nicht mehr arbeiten.«

Einer der Soldaten näherte sich ihm. Der Hauptmann musste ihm einen Stoß in den Rücken geben. Einige Schritte vor Bernat blieb er stehen und musterte ihn.

»Dreh dich um«, wies er ihn an, während er eine kreisende Bewegung mit dem Finger machte.

Bernat gehorchte. Der Soldat wandte sich an den Hauptmann und schüttelte den Kopf. Vom Tor deuteten sie mit dem Schwert auf Arnau, der zu Bernats Füßen saß.

»Und das Kind?«

Bernat bückte sich, um seinen Sohn hochzunehmen. Er entkleidete ihn, wobei er ihn mit der rechten Körperseite an seine Brust drückte, packte ihn am Kopf und hielt ihn so vor sich, um ihn zu zeigen; mit den Finger verdeckte er das Muttermal.

Der Soldat schüttelte erneut den Kopf, während er zum Tor hinübersah.

»Du solltest die Wunde verbinden, Bauer«, sagte er. »Andernfalls wirst du keinen Schritt in der Stadt machen können.«

Die Leute kehrten auf den Weg zurück. Das Stadttor Santa Anna wurde wieder geöffnet, und der Bauer mit den Rüben schulterte seinen Sack, ohne Bernat eines Blickes zu würdigen.

Als Bernat das Stadttor durchquerte, hatte er sich ein Hemdchen von Arnau über die Wunde gebunden. Die Soldaten sahen ihm hinterher, aber wie sollte er nun keine Aufmerksamkeit erregen, da sein halbes Gesicht von einem Hemd bedeckt war? Er ließ das Kollegiat Santa Anna zur Linken liegen und ging hinter den Leuten her, die in die Stadt strömten. Den Kopf hielt er gesenkt. Die Bauern begannen sich in der Stadt zu zerstreuen; die nackten Füße, die Riemenschuhe und die Strohsandalen verschwanden, und Bernat sah plötzlich ein Paar Beine vor sich, die in feuerroten seidenen Strümpfen steckten. Diese wiederum endeten in grünen Schuhen aus feinem Stoff, die eng an den Füßen anlagen und in zwei Spitzen ausliefen, die so lang waren, dass sie mit einem goldenen Kettchen an den Knöcheln festgebunden waren.

Er blickte auf und sah sich einem Mann mit Hut gegenüber. Dieser trug ein mit Gold- und Silberfaden verziertes Gewand, einen gleichfalls goldbestickten Gürtel sowie Perlen und Edelsteine. Bernat starrte ihn mit offenem Mund an. Der Mann wandte sich ihm zu, sah jedoch durch ihn hindurch, als ob er nicht existierte.

Bernat zögerte, schlug die Augen wieder nieder und atmete erleichtert auf, als er sah, dass der Mann ihm nicht die geringste Aufmerksamkeit schenkte. Er ging bis zur Kathedrale, die sich noch im Bau befand, und allmählich begann er den Kopf zu heben. Niemand beachtete ihn. Eine Weile sah er zu, wie die Tagelöhner an der Kirche arbeiteten: Sie klopften Steine, liefen auf hohen Gerüsten herum, hievten riesige Steinquader mit Kränen nach oben … Dann begann Arnau zu weinen und verlangte seine Aufmerksamkeit.

»Guter Mann«, wandte er sich an einen Arbeiter, der an ihm vorbeiging, »wo finde ich das Töpferviertel?« Seine Schwester Guiamona hatte einen Töpfer geheiratet.

»Geh diese Straße entlang«, antwortete ihm der Mann in Eile, »bis du zum nächsten Platz kommst, der Plaza de Sant Jaume. Dort siehst du einen Brunnen. Halte dich rechts und geh weiter bis zur neuen Stadtmauer am Portal de la Boquería. Aber dort gehst du nicht ins Raval, sondern immer an der Mauer entlang in Richtung Meer bis zum nächsten Stadttor, dem Portal de Trentaclaus. Dort ist das Töpferviertel.«

Bernat versuchte vergeblich, sich all diese Namen zu merken, aber als er noch einmal nachfragen wollte, war der Mann bereits verschwunden.

»Geh diese Straße entlang bis zur Plaza de Sant Jaume«, sagte er zu Arnau. »Daran erinnere ich mich noch. Auf dem Platz biegen wir nach rechts ab, daran erinnern wir uns auch noch, nicht wahr, mein Sohn?«

Arnau hörte auf zu weinen, sobald er die Stimme seines Vaters hörte.

»Und jetzt?«, fragte Bernat laut. Sie standen auf einem anderen Platz, der Plaza de Sant Miquel. »Dieser Mann hat nur von einem Platz gesprochen. Aber wir können nicht falsch gegangen sein.«

Bernat versuchte einige Leute zu fragen, doch niemand blieb stehen.

»Alle haben es eilig«, sagte er zu Arnau, als er einen Mann vor – ja, vor was? einer Burg? – stehen sah. »Der da scheint keine Eile zu haben. Vielleicht … Guter Mann«, rief er ihm zu, während er an seinem schwarzen Umhang zupfte.

Selbst Arnau, der sich an seine Brust klammerte, zuckte zusammen, als der Mann sich umdrehte, so sehr erschrak Bernat.

Der alte Jude schüttelte nachsichtig den Kopf. »Sprich«, sagte er zu ihm.

Bernat konnte den Blick nicht von dem gelben Zeichen wenden, das auf der Brust des alten Mannes prangte. Dann warf er einen Blick in das, was er für eine befestigte Burg gehalten hatte. Alle, die dort ein und aus gingen, waren Juden! Alle trugen dieses Zeichen. Ob es erlaubt war, mit ihnen zu sprechen?

»Willst du etwas?«, fragte der Alte noch einmal.

»Wie … wie komme ich ins Töpferviertel?«

»Folge dieser Straße«, wies ihm der alte Mann die Richtung, »dann kommst du zum Portal de la Boquería. Folge der Mauer in Richtung Meer, und am nächsten Stadttor ist das Viertel, nach dem du suchst.«

Bernat hatte gehört, dass man keine fleischlichen Beziehungen mit Juden unterhalten dürfe. Deswegen zwang die Kirche sie, dieses Zeichen zu tragen, damit niemand behaupten konnte, er habe nicht gewusst, dass es sich um einen Juden handelte. Die Priester sprachen stets voller Empörung über diese Leute, doch dieser alte Mann …

»Danke, guter Mann«, sagte Bernat und lächelte vorsichtig.

»Ich danke dir«, antwortete dieser, »doch in Zukunft gib acht, dass man dich nicht mit einem von uns sprechen sieht, geschweige denn mit einem Lächeln.«

Der alte Mann verzog schmerzlich den Mund.

Am Portal de la Boquería sah Bernat eine große Anzahl von Frauen, die Fleisch kauften, Hühnerklein und Ziegenfleisch. Er sah ein Weilchen zu, wie sie die Ware prüften und mit den Händlern feilschten. »Das ist das Fleisch, das unserem Herrn solche Probleme macht«, sagte er zu dem Kind. Dann lachte er bei dem Gedanken an Llorenç de Bellera. Wie oft hatte er gesehen, wie dieser versucht hatte, die Hirten und Viehzüchter einzuschüchtern, die ihr Fleisch in die gräfliche Stadt lieferten! Aber mehr hatte er nicht gewagt, als ihnen mit seinen Pferden und seinen Soldaten Angst einzujagen. Wer Vieh nach Barcelona lieferte, hatte Weiderecht im gesamten Prinzipat, denn es durften nur lebende Tiere in die Stadt gebracht werden.

Bernat machte einen Bogen um den Markt und ging hinunter zum Portal de Trentaclaus. Hier waren die Straßen schmaler, und als er zu dem Stadttor kam, bemerkte er, dass vor den Häusern Dutzende von Keramikgegenständen trockneten, Teller, Schüsseln, Töpfe, Krüge oder Ziegel.

»Ich suche das Haus von Grau Puig«, sagte er zu einem der Soldaten, die das Stadttor bewachten.


Die Puigs waren Nachbarn der Estanyols gewesen. Bernat erinnerte sich an Grau, den vierten von acht Söhnen, die von dem wenigen Land, das die Puigs besaßen, nicht satt wurden. Seine Mutter hatte die Leute sehr geschätzt, weil die Mutter der Puigs ihr bei der Geburt von Bernat geholfen hatte. Grau war der Klügste und Fleißigste der acht. Deshalb war Josep Puigs Wahl auf den damals Zehnjährigen gefallen, als ein Verwandter sich angeboten hatte, einen seiner Söhne als Töpferlehrling in Barcelona anzunehmen.

Doch da Josep Puig schon kaum seine Familie ernähren konnte, hätte er nur schwerlich die zwei Scheffel Weizen und die zehn Sueldos aufbringen können, die sein Verwandter für die fünf Lehrjahre forderte. Dazu kamen noch die zwei Sueldos, die Llorenç de Bellera dafür verlangte, dass er einen seiner Untertanen freigab, und die Kleidung, die Grau während der ersten beiden Jahre benötigte. Im Lehrvertrag verpflichtete sich der Meister lediglich, diesen in den letzten drei Jahren einzukleiden.

Deshalb war Puig in Begleitung seines Sohnes Grau, der etwas älter war als Bernat und seine Schwester, auf dem Hof der Estanyols vorstellig geworden. Der verrückte Estanyol hörte sich Josep Puigs Vorschlag aufmerksam an: Wenn er seiner Tochter die verlangten Dinge als Mitgift gab und diese Grau im Voraus aushändigte, würde sein Sohn mit achtzehn Jahren, wenn er Töpfergeselle war, die Ehe mit Guiamona eingehen. Der verrückte Estanyol sah Grau an. Manchmal, wenn seine Familie nicht mehr ein noch aus gewusst hatte, hatte der Junge ihnen bei der Feldarbeit geholfen. Er hatte nie um etwas gebeten, aber er war immer mit einem bisschen Gemüse oder Getreide nach Hause zurückgekehrt. Der verrückte Estanyol hatte Vertrauen in ihn, und so ging er auf den Vorschlag ein.

Nach fünf harten Lehrjahren war Grau Geselle geworden. Er tat, was sein Meister von ihm verlangte, und zufrieden mit seinen Leistungen, begann dieser ihm einen Lohn zu zahlen. Mit achtzehn Jahren löste Grau sein Versprechen ein und heiratete Guiamona.

»Junge«, hatte sein Vater damals zu Bernat gesagt, »ich habe beschlossen, Guiamona noch einmal eine Mitgift zu geben. Wir sind nur zu zweit und haben das beste, größte und fruchtbarste Land in der ganzen Gegend. Sie können das Geld gut gebrauchen.«

»Aber Vater«, war ihm Bernat ins Wort gefallen, »weshalb rechtfertigt Ihr Euch?«

»Weil deine Schwester ihre Mitgift schon bekommen hat und du mein Erbe bist. Es ist dein Geld.«

»Tut das, was Ihr für richtig haltet.«

Vier Jahre später, mit zweiundzwanzig, stellte sich Grau der öffentlichen Prüfung, die von den vier Zunftmeistern abgenommen wurde. Unter den aufmerksamen Blicken der Männer fertigte er seine ersten eigenen Stücke an, einen Krug, zwei Teller und eine Schüssel, und wurde von ihnen zum Meister ernannt. Dies ermöglichte es ihm, eine eigene Werkstatt in Barcelona zu eröffnen und natürlich das Meisterzeichen zu verwenden, das für eventuelle Reklamationen in jede Keramik geprägt werden musste, die seine Werkstatt verließ. Grau wählte in Anlehnung an seinen Nachnamen einen stilisierten Berg.

Grau und Guiamona, die ein Kind erwartete, bezogen ein kleines eingeschossiges Häuschen im Töpferviertel, das auf königliche Anordnung im äußersten Westen der Stadt lag, zwischen der von König Jaime I. errichteten Stadtmauer und dem alten Festungsring der Stadt. Sie kauften das Haus von Guiamonas Mitgift, die sie für einen solchen Zweck zurückgelegt hatten.

In diesem Haus, in dem sich die Werkstatt im Wohnraum befand und der Brennofen in der Schlafkammer stand, begann Grau zu einem Zeitpunkt mit seinem Gewerbe, als sich der Handel in Katalonien im Aufschwung befand. Von den Handwerkern wurde verlangt, sich zu spezialisieren, was viele von ihnen, die in der Tradition verhaftet waren, verweigerten.

»Wir werden Krüge und Karaffen machen«, beschloss Grau, »nur Krüge und Karaffen.«

Guiamona betrachtete die vier Meisterstücke, die ihr Mann angefertigt hatte.

»Ich habe viele Händler gesehen«, fuhr ihr Mann fort, »die förmlich um Karaffen für Öl, Honig oder Wein bettelten, und Töpfermeister, die sie ohne Umschweife wieder wegschickten, weil sie ihre Öfen brauchten, um komplizierte Kacheln für ein neues Haus zu brennen, bunt glasierte Teller für das Tafelgeschirr eines Adligen oder Tiegel für einen Apotheker.«

Guiamona fuhr mit den Fingern über die Meisterstücke. Wie glatt sie waren! Als Grau sie ihr in seinem Glück nach seiner Prüfung geschenkt hatte, hatte sie geglaubt, dass sie stets von solchen Dingen umgeben sein würde. Sogar die Zunftmeister hatten ihm gratuliert. Mit diesen vier Stücken hatte Grau allen Töpfermeistern gezeigt, dass er sein Handwerk beherrschte. Der Krug, die beiden Teller und die Schüssel waren mit Zickzacklinien, Palmblättern, Rosetten und Lilien verziert und vereinten auf einer vorab aufgetragenen weißen Grundierung alle Farben auf sich: das für Barcelona so typische Kupfergrün, das auf keinem Meisterstück der gräflichen Stadt fehlen durfte, Manganrot, Eisenschwarz, Kobaltblau und Antimonatgelb. Jede Linie und jede Verzierung war in einer anderen Farbe gehalten. Guiamona hatte es kaum abwarten können, bis die Stücke gebrannt waren, aus Angst, sie könnten im Ofen zerspringen. Zum Schluss hatte Grau eine Bleiglasur aufgetragen, die sie vollständig versiegelte. Guiamona spürte erneut die glatte Oberfläche unter ihren Fingerkuppen. Und nun wollte er nur noch Krüge anfertigen.

Grau trat zu seiner Frau.

»Mach dir keine Sorgen«, beruhigte er sie, »für dich werde ich weiterhin solche Sachen machen.«

Grau war erfolgreich. Er füllte den Brennofen seiner kleinen Werkstatt mit Krügen und Karaffen, und bald wussten die Händler, dass sie bei Grau Puig jederzeit alles bekamen, was sie brauchten. Niemand musste mehr bei überheblichen Töpfermeistern betteln.

Und so unterschied sich das Haus, vor dem Bernat nun stand, während der kleine Arnau wach geworden war und nach seinem Essen verlangte, ganz erheblich von jener ersten Werkstatt. Soweit Bernat mit seinem linken Auge erkennen konnte, handelte es sich um ein großes, zweistöckiges Gebäude. Im Erdgeschoss, das zur Straße hin offen war, befand sich die Töpferei. In den beiden darüberliegenden Stockwerken wohnte der Meister mit seiner Familie. Neben dem Haus gab es ein Gemüsebeet und einen Garten, und auf der anderen Seite Nebengebäude, in denen sich die Brennöfen befanden, sowie ein Platz, wo unzählige Krüge und Karaffen in allen Formen, Größen und Farben zum Trocknen in der Sonne lagen. Hinter dem Haus befand sich eine Freifläche, wo der Ton und andere Materialien entladen und gelagert wurden, wie es städtische Vorschrift war. Dort wurden auch die Asche und andere Rückstände aus den Brennöfen aufbewahrt, denn es war den Töpfern verboten, diese einfach auf die Straße zu kippen.

In der Werkstatt, die von der Straße aus einsehbar war, arbeiteten zehn Mann. Ihrem Aussehen nach war keiner von ihnen der Meister. Bernat sah, wie sich vor der Tür neben einem mit neuen Krügen beladenen Ochsenkarren zwei Männer voneinander verabschiedeten. Einer von ihnen stieg auf den Karren und fuhr los. Der andere war gut gekleidet, und bevor er in die Werkstatt zurückkehren konnte, rief Bernat nach ihm.

»Wartet!«

Der Mann sah zu, wie Bernat näher kam.

»Ich suche Grau Puig«, erklärte dieser.

Der Mann musterte ihn von oben bis unten.

»Falls du Arbeit suchst, wir brauchen niemanden. Der Meister hat keine Zeit zu vergeuden«, sagte er dann missgelaunt, »und ich auch nicht.«

Mit diesen Worten kehrte er ihm den Rücken zu.

»Ich bin ein Verwandter des Meisters.«

Der Mann erstarrte und fuhr dann herum.

»Hat dir der Meister nicht schon genug Geld gegeben? Warum gibst du nicht endlich Ruhe?«, grummelte er, während er Bernat einen Schubs gab. Arnau begann zu weinen. »Du hast es doch gehört: Wenn du dich noch einmal hier blicken lässt, zeigen wir dich an. Grau Puig ist ein einflussreicher Mann.«

Bernat war zurückgewichen, während der Mann ihn vor sich her stieß. Er wusste nicht, wovon er sprach.

»Hört mich an«, verteidigte er sich, »ich …«

Arnau weinte.

»Hast du mich nicht verstanden?«, überbrüllte der Mann Arnaus Geschrei.

Doch dann kam aus einem der Fenster im Obergeschoss ein Schrei, der noch lauter war.

»Bernat! Bernat!«

Bernat und der Mann sahen zu der Frau hinauf, die mit dem Oberkörper aus dem Fenster lehnte und winkte.

»Guiamona!«, rief Bernat zurück.

Die Frau verschwand, und Bernat wandte sich wieder dem Mann zu, der die Augen zusammengekniffen hatte.

»Du kennst Doña Guiamona?«, fragte er ihn.

»Sie ist meine Schwester«, antwortete Bernat trocken. »Und damit du es weißt, mir hat niemand jemals irgendwelches Geld gegeben.«

»Es tut mir leid«, entschuldigte sich der Mann mit hochrotem Kopf. »Ich meinte die Brüder des Meisters: Erst kommt der eine, dann der nächste, und dann noch einer und noch einer.«

Als Bernat seine Schwester aus dem Haus kommen sah, ließ er den Mann einfach stehen und lief zu ihr hin, um sie zu umarmen.


»Und Grau?«, fragte Bernat seine Schwester, nachdem sie es sich bequem gemacht hatten. Zuvor hatte er sich das Blut vom Auge gewischt, Arnau der maurischen Sklavin übergeben, die sich um die kleinen Kinder von Guiamona kümmerte, und zugesehen, wie der Junge eine Schüssel Milch mit Getreide gegessen hatte. »Ich würde ihn gerne in die Arme schließen.«

Guiamona verzog das Gesicht.

»Was ist los?«, wunderte sich Bernat.

»Grau hat sich sehr verändert. Er ist jetzt wohlhabend und einflussreich.«

Guiamona wies auf die zahlreichen Truhen, die entlang der Wände standen, einen Schrank – ein Möbelstück, das Bernat noch nie zuvor gesehen hatte – mit einigen Büchern und Keramiken, die Teppiche, die den Boden zierten, und die Vorhänge, die vor den Fenstern hingen.

»Er kümmert sich kaum noch um die Werkstatt und den Verkauf; das macht Jaume, sein erster Geselle, den du auf der Straße getroffen hast. Grau handelt jetzt mit Schiffen, Wein und Öl. Er ist Zunftmeister und ein angesehener Mann in der Stadt, und er will unbedingt in den Rat der Hundert gewählt werden.«

Guiamona ließ ihren Blick durchs Zimmer schweifen.

»Er ist nicht mehr der Alte, Bernat.«

»Du hast dich auch sehr verändert«, unterbrach Bernat sie.

Guiamona sah an ihrem füllig gewordenen Körper hinunter und nickte lächelnd.

»Dieser Jaume«, hakte Bernat nach, »hat etwas über Graus Verwandte gesagt. Was meinte er damit?«

Guiamona schüttelte den Kopf, bevor sie antwortete.

»Nun, er meinte, dass sie alle in der Werkstatt aufgetaucht sind, als sie erfuhren, dass ihr Bruder zu Geld gekommen war. Brüder, Vettern und Neffen flohen von ihrem Land, um Graus Hilfe zu erbitten.«

Guiamona entging der Gesichtsausdruck ihres Bruders nicht.

»Du etwa auch …?«

Bernat nickte.

»Aber … du hattest so ein wunderbares Stück Land!«

Guiamona konnte die Tränen nicht zurückhalten, während Bernat seine Geschichte erzählte. Als er ihr von dem Jungen in der Schmiede berichtete, stand sie auf und kniete neben dem Stuhl nieder, auf dem ihr Bruder saß.

»Aber das erzählst du niemandem«, riet sie ihm. Dann hörte sie ihm weiter zu, den Kopf an sein Bein angeschmiegt.

»Mach dir keine Sorgen«, schluchzte sie, als Bernat mit seiner Erzählung zu Ende war. »Wir werden dir helfen.«

»Aber Schwester«, sagte Bernat, während er ihr über den Kopf strich, »wie wollt ihr mir helfen, wenn Grau nicht einmal seinen eigenen Brüdern geholfen hat?«

»Weil du anders bist!«, flüsterte Guiamona schniefend.


Es war bereits dunkel, als ihr Mann nach Hause kam. Der kleine, schmale Grau kam aufgeregt schimpfend die Treppe hinauf. Guiamona hatte auf ihn gewartet und hörte ihn kommen. Jaume hatte Grau über die neue Situation informiert: »Euer Schwager schläft in der Scheune bei den Lehrlingen und das Kind … bei Euren Kindern.«

Grau ging wütend auf seine Frau los, als sie ihm entgegentrat.

»Wie konntest du es wagen?«, schrie er sie an, nachdem er sich ihre ersten Erklärungen angehört hatte. »Er ist ein Leibeigener auf der Flucht! Weißt du, was es bedeuten würde, wenn man einen Flüchtigen in meinem Haus fände? Mein Ruin! Es wäre mein Ruin!«

Guiamona hörte ihm zu, ohne ihn zu unterbrechen, während er vor ihr auf und ab lief und mit den Händen fuchtelte. Sie war einen Kopf größer als er.

»Du bist verrückt! Ich habe meine eigenen Brüder auf Schiffen in die Fremde geschickt. Ich habe den Frauen meiner Familie Mitgift gegeben, damit sie Männer von anderswo heiraten. Und das alles, damit niemand etwas dieser Familie anhaben kann. Und jetzt kommst du … Warum sollte ich bei deinem Bruder anders handeln?«

»Weil mein Bruder anders ist!«, schrie sie zu seiner Überraschung.

Grau zögerte.

»Was … was willst du damit sagen?«

»Das weißt du ganz genau. Ich glaube nicht, dass ich dich daran erinnern muss.«

Grau senkte den Blick.

»Gerade heute«, murmelte er, »habe ich mich mit einem der fünf Ratsherren der Stadt getroffen, damit man mich als Zunftmeister in den Rat der Hundert wählt. Es sieht so aus, als hätte ich drei der fünf Ratsherren auf meiner Seite. Kannst du dir vorstellen, was meine Gegner sagen werden, wenn sie erfahren, dass ich einem flüchtigen Leibeigenen Unterschlupf gewährt habe?«

Guiamona sagte sanft zu ihrem Mann: »Wir verdanken ihm alles.«

»Ich bin nur ein Handwerker, Guiamona. Reich, aber ein Handwerker. Die Adligen verachten mich, und die Händler hassen mich, auch wenn sie mit mir zusammenarbeiten. Wenn sie herausbekommen, dass wir einen Flüchtigen aufgenommen haben … Weißt du, was die adligen Grundherren dazu sagen würden?«

»Wir verdanken ihm alles«, wiederholte Guiamona.

»Gut, dann geben wir ihm Geld und er soll verschwinden.«

»Was er braucht, ist die Freiheit. Ein Jahr und einen Tag.«

Grau wanderte erneut nervös im Zimmer auf und ab. Dann schlug er die Hände vors Gesicht.

»Wir können nicht«, sagte er. »Wir können nicht, Guiamona.« Er sah sie an. »Stell dir vor …«

»Stell dir vor! Stell dir vor!«, fiel sie ihm ins Wort und erhob erneut die Stimme. »Stell dir vor, was geschieht, wenn wir ihn wegschicken, die Häscher Llorenç de Belleras oder deine eigenen Feinde ihn festnehmen und erfahren, dass du alles ihm verdankst, einem flüchtigen Leibeigenen, der einer Mitgift zustimmte, die mir nicht zustand.«

»Willst du mir drohen?«

»Nein, Grau, nein. Aber es steht geschrieben. Alles steht geschrieben. Wenn du es nicht aus Dankbarkeit tun willst, dann tu es für dich selbst. Es ist besser, wenn du ihn unter Kontrolle hast. Bernat wird Barcelona nicht verlassen. Alles, was er will, ist die Freiheit. Wenn du ihn nicht aufnimmst, laufen ein flüchtiger Bauer und ein Kind durch Barcelona, beide mit demselben Muttermal am rechten Auge wie ich, hilflos deinen Gegnern ausgeliefert, die du so fürchtest.«

Grau Puig sah seine Frau eindringlich an. Er wollte etwas erwidern, winkte dann aber ab. Er verließ den Raum, und Guiamona hörte ihn die Treppe zum Schlafzimmer hinaufgehen.

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