48


Zum ersten Mal seit fast einer Woche trank Arnau frisches Wasser und aß etwas anderes als trockenes Brot. Der Kerkermeister zwang ihn mit einem Tritt zum Aufstehen und kippte einen Eimer Wasser über den Fußboden. Besser nass als mit Exkrementen übersät, dachte Arnau. Für einige Sekunden waren nur das Plätschern des Wassers und der schwere Atem des dicken Kerkermeisters zu hören. Bis die alte Frau, die sich in ihren Tod ergeben hatte und ihr Gesicht immer in ihrer zerlumpten Kleidung verbarg, zu Arnau aufsah.

»Lass den Eimer da«, sagte Arnau zu dem Kerkermeister, als dieser gehen wollte.

Arnau hatte gesehen, wie er Gefangene misshandelte, nur weil sie seinen Blick erwiderten. Der Wärter fuhr mit erhobenem Arm herum, doch dann hielt er in der Bewegung inne. Arnau hatte dem Schlag reglos entgegengesehen. Der Mann spuckte aus und stellte den Eimer auf den Boden. Bevor er ging, trat er nach einer der Gestalten, die die Szene beobachteten.

Als die Erde das Wasser aufgesogen hatte, setzte Arnau sich wieder hin. Draußen war Glockenläuten zu hören. Das schwache Tageslicht, das durch das von außen ebenerdige Fenster drang, und das Läuten der Glocken waren seine einzige Verbindung zur Außenwelt. Arnau sah zu dem kleinen Fenster hoch und lauschte aufmerksam. Santa María war lichtdurchflutet, doch die Kirche besaß noch keine Glocken. Dafür waren das Hämmern und Meißeln und die Rufe der Handwerker weithin zu hören. Wenn das Echo eines dieser Geräusche in den Kerker drang, hüllten ihn das Licht und der Klang ein und trugen ihn in Gedanken zu jenen, die so eifrig für die Madonna des Meeres arbeiteten. Dann spürte Arnau erneut das Gewicht des ersten Steins auf den Schultern, den er nach Santa María geschleppt hatte. Wie lange war das her? Wie sehr hatte sich alles verändert! Damals war er ein Kind gewesen, ein Kind, das in der Jungfrau Maria die Mutter fand, die es niemals gehabt hatte.

Immerhin war es ihm gelungen, Raquel vor dem furchtbaren Schicksal zu bewahren, zu dem sie verurteilt zu sein schien. Gleich nachdem er beobachtet hatte, wie Elionor und Margarida Puig mit den Fingern auf sie zeigten, sorgte Arnau dafür, dass Raquel und ihre Familie aus dem Judenviertel verschwanden. Nicht einmal er selbst wusste, wohin sie geflohen waren.

»Ich möchte, dass du zu Mar gehst«, sagte er zu Joan, als dieser ihn wieder besuchte.

Der Mönch erstarrte. Er war noch einige Schritte von seinem Bruder entfernt.

»Hast du gehört, Joan?« Arnau erhob sich, um ihm entgegenzugehen, doch die Ketten an seinen Füßen hinderten ihn daran. Joan stand immer noch reglos da. »Joan, hast du gehört?«

»Ja.« Joan trat auf Arnau zu, um ihn zu umarmen. »Aber …«

»Ich muss sie sehen, Joan.« Arnau packte den Mönch bei den Schultern, bevor dieser ihn umarmen konnte, und schüttelte ihn sanft. »Ich will nicht sterben, ohne noch einmal mit ihr gesprochen zu haben.«

»Himmel, sag doch nicht so etwas!«

»Doch, Joan. Ich könnte hier verrecken, und nur ein Dutzend hoffnungsloser Unglücklicher wären Zeugen. Ich will nicht sterben, ohne die Möglichkeit bekommen zu haben, Mar noch einmal zu sehen.«

»Aber was willst du ihr sagen? Was kann so wichtig sein?«

»Ich will sie um Vergebung bitten, Joan. Und ihr sagen, dass ich sie liebe.« Joan versuchte, sich aus dem Griff seines Bruders zu lösen, doch Arnau hinderte ihn daran. »Du kennst mich. Du bist ein Mann Gottes. Du weißt, dass ich nie jemandem etwas zuleide getan habe. Nur diesem Mädchen …«

Es gelang Joan, sich loszumachen. Er fiel vor seinem Bruder auf die Knie.

»Nicht du warst es«, begann er.

»Ich habe nur dich, Joan«, fiel ihm Arnau ins Wort und kniete gleichfalls nieder. »Du musst mir helfen. Du hast mich nie im Stich gelassen. Tu es auch jetzt nicht. Du bist alles, was ich habe, Joan!«

Joan schwieg.

»Und ihr Mann?«, fragte er schließlich. »Vielleicht gestattet er nicht, dass …«

»Er ist tot«, erklärte Arnau. »Ich habe davon erfahren, als er aufhörte, seine Zinsen bei mir zu zahlen. Er starb im Dienst des Königs bei der Verteidigung Calatayuds.«

»Aber …«, machte Joan einen erneuten Anlauf.

»Joan, ich bin durch einen Schwur an meine Ehefrau gebunden, der es mir verbietet, mit Mar zusammen zu sein, solange sie lebt. Aber ich muss sie sehen. Ich muss ihr meine Gefühle offenbaren, selbst wenn wir nie zusammenkommen können.« Arnau fasste sich wieder. Es gab noch einen Gefallen, um den er seinen Bruder bitten wollte. »Geh in der Wechselstube vorbei. Ich wüsste gerne, wie die Lage dort ist.«

Joan seufzte. Als er an diesem Morgen in die Wechselstube gekommen war, hatte Remigi ihm eine Geldbörse überreicht.

»Es war kein gutes Geschäft«, sagte der Angestellte.

Nichts war ein gutes Geschäft. Nachdem er Arnau versprochen hatte, das Mädchen aufzusuchen, bezahlte Joan an der Tür des Verlieses den Kerkermeister.

»Er hat einen Eimer verlangt.«

Wie viel kostete wohl ein Eimer? Joan drückte dem Mann eine weitere Münze in die Hand.

»Ich will, dass der Eimer immer sauber ist.« Der Kerkermeister steckte das Geld ein und wandte sich zum Gehen. »Da drin liegt ein toter Gefangener«, setzte Joan hinzu.

Der Wärter zuckte nur mit den Schultern.


Joan verließ den Bischofspalast nicht, sondern ging geradewegs zu Nicolau Eimeric. Er kannte diese Gänge. Wie oft hatte er sie in jungen Jahren durchmessen, voller Stolz auf seinen Einfluss? Nun waren es andere, tadellos gekleidete junge Priester, die ihm in den Gängen begegneten und die sich keine Mühe gaben, bei seinem Anblick ihr Befremden zu verbergen.

»Hat er gestanden?«

Er hatte ihm versprochen, Mar zu suchen.

»Hat er gestanden?«, fragte der Generalinquisitor noch einmal.

Joan hatte sich die ganze Nacht auf dieses Gespräch vorbereitet, doch nun war alles, was er sich überlegt hatte, wie weggeblasen.

»Wenn er gestände, welche Strafe würde ihn erwarten?«

»Ich sagte dir ja bereits, dass es sich um eine sehr ernste Angelegenheit handelt.«

»Mein Bruder ist sehr reich.«

Joan hielt Nicolau Eimerics Blick stand.

»Hast du vor, das Sanctum Officium zu kaufen? Du, ein Inquisitor?«

»Geldstrafen sind durchaus üblich. Ich bin sicher, wenn man Arnau eine Geldstrafe vorschlüge …«

»Du weißt, dass dies von der Schwere des Vergehens abhängt. Die Vorwürfe gegen ihn …«

»Elionor kann ihm nichts vorwerfen«, wandte Joan ein.

Der Generalinquisitor erhob sich und beugte sich zu Joan, die Hände auf den Tisch gestützt.

»Dann wisst ihr also beide«, sagte er und erhob die Stimme, »dass es die Ziehtochter des Königs war, die ihn angezeigt hat. Seine eigene Ehefrau, die Ziehtochter des Königs! Wie kommt ihr darauf, dass sie es war, wenn dein Bruder nichts zu verbergen hat? Welcher Mann verdächtigt seine eigene Ehefrau? Warum nicht einen Geschäftspartner, einen Angestellten oder einen Nachbarn? Wie viele Menschen hat Arnau in seiner Funktion als Seekonsul verurteilt? Weshalb sollte es nicht einer von ihnen gewesen sein? Antworte, Bruder Joan: Warum die Baronin? Welche Sünde verheimlicht dein Bruder, dass er weiß, dass sie es war?«

Joan sank auf seinem Stuhl zusammen. Wie oft war er genauso vorgegangen? Wie oft hatte er jedes Wort gegen die Angeklagten verwendet? Woher wusste Arnau, dass es Elionor gewesen war? Konnte es sein, dass er tatsächlich …

»Arnau hat nichts gegen seine Ehefrau gesagt«, log Joan. »Ich weiß es.«

Nicolau Eimeric hob theatralisch beide Hände.

»Du weißt es? Und woher weißt du das, Bruder Joan?«

»Sie hasst ihn … oder nein!«, versuchte er sich zu korrigieren, doch Nicolau hatte ihn schon am Wickel.

»Und weshalb?«, brüllte der Inquisitor. »Weshalb hasst die Ziehtochter des Königs ihren Mann? Weshalb sollte eine gläubige, gottesfürchtige, anständige Frau ihren Mann hassen? Was hat ihr dieser Mann angetan, um ihren Hass zu entfachen? Es ist die Bestimmung der Frau, dem Mann zu dienen. So will es das irdische wie das göttliche Gesetz. Männer züchtigen ihre Frauen und werden trotzdem nicht von ihnen gehasst. Männer sperren ihre Frauen ein und werden trotzdem nicht von ihnen gehasst. Frauen arbeiten für ihre Männer, schlafen mit ihnen, wann immer es diese danach verlangt, sie sorgen für sie und unterwerfen sich ihnen, doch nichts von all dem erweckt ihren Hass. Was weißt du, Bruder Joan?«

Joan biss die Zähne zusammen. Er fühlte sich geschlagen.

»Du bist Inquisitor. Ich verlange, dass du mir erzählst, was du weißt«, schrie Nicolau.

Joan schwieg immer noch.

»Du darfst die Sünde nicht decken. Wer schweigt, begeht eine schlimmere Sünde als der Sünder selbst.«

Unzählige kleine Dorfplätze, auf denen die Zuhörer bei seinen Predigten immer kleiner wurden, zogen an Joans innerem Auge vorbei.

»Bruder Joan«, Nicolau betonte jedes Wort, während er über den Schreibtisch hinweg mit dem Finger auf ihn deutete, »ich will morgen früh dieses Geständnis. Und bete zu Gott, dass ich nicht beschließe, auch dich anzuklagen. Ach ja, Bruder Joan!«, setzte er hinzu, als Joan sich zum Gehen wandte. »Du solltest einen neuen Habit anziehen. Ich habe bereits Klagen deswegen erhalten, und tatsächlich …« Nicolau deutete auf Joans zerschlissene Kutte.

Als Joan, den schlammbespritzten, zerrissenen Saum seines Habits betrachtend, den Raum verließ, traf er draußen auf zwei Edelleute, die im Vorzimmer des Großinquisitors warteten. Bei ihnen befanden sich drei bewaffnete Männer, die zwei mit Ketten gefesselte Frauen bewachten. Die eine war bereits alt, die andere noch jünger, und ihr Gesicht kam ihm bekannt vor.

»Bist du immer noch hier, Bruder Joan?«

Nicolau Eimeric war in der Tür erschienen, um die beiden Adligen zu empfangen.

Joan hielt sich nicht länger auf und ging eilig davon.


Jaume de Bellera und Genis Puig betraten Nicolau Eimerics Arbeitszimmer. Francesca und Aledis blieben im Vorraum zurück, nachdem der Inquisitor ihnen einen raschen Blick zugeworfen hatte.

»Wir haben gehört, dass Ihr Arnau Estanyol verhaftet habt«, begann der Herr von Bellera, nachdem er sich vorgestellt hatte und sie auf den Besucherstühlen saßen.

Genis Puig spielte nervös mit seinen Händen.

»Ja«, antwortete Nicolau knapp. »Das ist allgemein bekannt.«

»Was wird ihm vorgeworfen?«, brach es aus Genis Puig heraus, was ihm sofort einen strafenden Blick des Grundherren einhandelte. »Sprich nur, wenn der Inquisitor dich fragt«, hatte dieser ihm mehrfach geraten.

Nicolau wandte sich Genis zu.

»Wisst Ihr nicht, dass dies der Geheimhaltung unterliegt?«

»Bitte entschuldigt Genis Puig«, erklärte Jaume de Bellera, »aber Ihr werdet sehen, dass unser Interesse begründet ist. Uns ist bekannt, dass eine Anzeige gegen Arnau Estanyol vorliegt, und die wollen wir stützen.«

Der Inquisitor richtete sich in seinem Lehnstuhl auf. Eine Ziehtochter des Königs, drei Priester von Santa María, die gehört hatten, wie Arnau Estanyol bei einem Streit mit seiner Frau in der Kirche lauthals geflucht hatte, und nun noch ein Adliger und ein Ritter. Glaubwürdigere Zeugen konnte man kaum finden. Er warf den beiden einen aufmunternden Blick zu.

Jaume de Bellera sah Genis Puig aus zusammengekniffenen Augen an und begann dann mit der Aussage, die er sich genauestens zurechtgelegt hatte.

»Wir glauben, dass Arnau Estanyol die Inkarnation des Teufels ist.« Nicolau hörte reglos zu. »Dieser Mann ist der Sohn eines Mörders und einer Hexe. Sein Vater, Bernat Estanyol, tötete auf der Burg Bellera einen Jungen und floh dann mit seinem Sohn Arnau, den mein Vater, wissend, um wen es sich handelte, eingesperrt hatte, damit er keinen Schaden anrichten konnte. Bernat Estanyol war es, der damals im ersten Hungerjahr auf der Plaza del Blat zum Aufruhr aufrief. Erinnert Ihr Euch? Dort wurde er auch gehängt …«

»Und sein Sohn verbrannte den Leichnam«, redete Genis Puig erneut dazwischen.

Nicolau zuckte zusammen. Jaume de Bellera warf dem Zwischenrufer einen vernichtenden Blick zu.

»Er verbrannte den Leichnam?«, fragte Nicolau.

»Ja. Ich habe es selbst gesehen«, log Genis Puig, während er an die Erzählungen seiner Mutter dachte.

»Und habt Ihr ihn angezeigt?«

»Ich …«, stotterte Genis. Der Herr von Bellera wollte eingreifen, doch Nicolau brachte ihn mit einer Handbewegung zum Schweigen. »Ich war noch ein Kind. Ich hatte Angst, er könnte dasselbe mit mir tun.«

Nicolau stützte das Kinn in die Hand, um ein kaum merkliches Lächeln zu verbergen. Dann bat er den Herrn von Bellera, fortzufahren.

»Seine Mutter, die Alte, die dort draußen wartet, ist eine Hexe. Mittlerweile verdient sie ihr Brot als Hure, doch vor vielen Jahren war sie meine Amme und gab das Böse an mich weiter. Sie verhexte mich mit ihrer Milch, die eigentlich für ihren Sohn bestimmt war.« Nicolau riss bei dem Geständnis des Adligen erschreckt die Augen auf. Der Herr von Navarcles bemerkte es. »Seid unbesorgt«, setzte er rasch hinzu. »Als die Krankheit sich zeigte, brachte mich mein Vater unverzüglich zum Bischof. Meine Eltern sind Llorenç und Caterina de Bellera. Ihr könnt überprüfen, dass noch nie jemand aus meiner Familie die Fallsucht hatte. Es kann nur die verhexte Milch gewesen sein!«

»Sie ist eine Dirne, sagtet Ihr?«

»Ja, Ihr könnt Euch dessen vergewissern. Sie nennt sich Francesca.«

»Und die andere Frau?«

»Sie wollte unbedingt mitkommen.«

»Ist sie ebenfalls eine Hexe?«

»Das bleibt Eurem Urteil überlassen.«

Nicolau dachte nach.

»Gibt es noch etwas?«, fragte er dann.

»Ja«, brach es aus Genis Puig heraus. »Arnau hat meinen Bruder Guiamon getötet, als dieser sich weigerte, an seinen teuflischen Riten teilzunehmen. Er versuchte ihn bei Nacht am Strand zu ertränken. Danach ist er gestorben.«

Nicolau wandte seine Aufmerksamkeit Genis zu.

»Meine Schwester Margarida kann es bezeugen. Sie war dabei. Sie erschrak und versuchte zu fliehen, als Arnau begann, den Teufel anzurufen. Sie wird es Euch bestätigen.«

»Und Ihr habt ihn damals nicht angezeigt?«

»Ich habe erst jetzt davon erfahren, als ich meiner Schwester erzählte, was ich vorhatte. Sie hat noch immer schreckliche Angst, Arnau könnte ihr Schaden zufügen. Seit Jahren findet sie keine Ruhe.«

»Das sind schwere Anschuldigungen.«

»Berechtigte Anschuldigungen«, setzte der Herr von Bellera hinzu. »Ihr wisst, dass dieser Mann es sich zum Ziel gemacht hat, die Obrigkeit zu untergraben. Auf seinen Besitzungen schaffte er gegen den Willen seiner Ehefrau die Leibeigenschaft ab. Hier in Barcelona verleiht er Geld an die Armen, und es ist bekannt, dass er in seiner Funktion als Seekonsul häufig Urteile zugunsten des Volkes fällt.« Nicolau Eimeric hörte aufmerksam zu. »Sein ganzes Leben hindurch hat er die Gesetze hintertrieben, von denen unser Zusammenleben bestimmt werden sollte. Gott hat die Bauern erschaffen, damit sie für ihre Grundherren das Land bestellen. Selbst die Kirche hat ihren Bauern verboten, den Habit zu nehmen, um ihre Arbeitskraft nicht zu verlieren …«

»Im neuen Katalonien gibt es keine Leibeigenschaft mehr«, unterbrach ihn Nicolau.

Genis Puig sah vom einen zum anderen.

»Genau das ist es, was ich meinte.« Der Herr von Bellera fuchtelte heftig mit den Händen. »Im neuen Katalonien gibt es keine Leibeigenschaft mehr. Im Interesse des Königs, im Interesse Gottes. Das von den Ungläubigen eroberte Gebiet musste bevölkert werden, und das ging nur, indem man die Leute anlockte. Der König hat es so beschlossen. Doch Arnau … Arnau ist nichts anderes als ein Handlanger des Teufels.«

Genis Puig lächelte, als er sah, dass der Generalinquisitor leise nickte.

»Er verleiht Geld an die Armen«, fuhr der Adlige fort, »Geld, von dem er weiß, dass er es nie zurückbekommen wird. Gott hat die Menschen als Reiche und Arme geschaffen. Es kann nicht sein, dass die Armen Geld haben und ihre Töchter verheiraten wie die Reichen. Es ist gegen Gottes Gesetz. Was sollen die Armen von Euch Kirchenmännern und uns Adligen denken? Erfüllen wir nicht die Vorschriften der Kirche, indem wir die Armen als das behandeln, was sie sind? Arnau ist eine Ausgeburt des Teufels, der nichts anderes vorhat, als durch die Unzufriedenheit des Volkes die Ankunft des Leibhaftigen vorzubereiten. Denkt darüber nach.«

Und Nicolau Eimeric dachte darüber nach. Er rief den Schreiber, damit dieser die Beschuldigungen des Herrn von Bellera und Genis Puigs schriftlich festhielt. Er ließ Margarida Puig vorladen und veranlasste Francescas Verhaftung.

»Und die andere?«, fragte der Inquisitor den Herrn von Bellera. »Liegt etwas gegen sie vor?« Die beiden Männer zögerten. »In diesem Fall bleibt sie in Freiheit.«

Francesca wurde weit weg von Arnau am anderen Ende des riesigen Verlieses angekettet. Aledis wurde auf die Straße geworfen.

Nachdem alles in die Wege geleitet war, ließ sich Nicolau in seinen Lehnstuhl fallen. Fluchen im Haus Gottes, das Unterhalten fleischlicher Beziehungen zu einer Jüdin, Judenfreundlichkeit, Mord, Teufelspraktiken, Verstöße gegen die Vorschriften der Kirche … Und das alles gestützt von Priestern, Adligen und Edelleuten. Und von der Ziehtochter des Königs. Der Inquisitor lehnte sich zurück und lächelte Joan an.

»So reich ist dein Bruder, Fra Joan? Dummkopf! Was redest du von Geldstrafen, wenn mit der Verurteilung deines Bruders sein gesamtes Vermögen an die Inquisition fällt?«


Aledis stolperte auf die Straße, als die Soldaten sie aus dem Bischofspalast warfen. Nachdem sie das Gleichgewicht wiedergefunden hatte, merkte sie, dass die Leute stehen geblieben waren und sie angafften. Was hatten die Soldaten gerufen? Hexe? Sie sah an ihren schmutzigen Kleidern herunter und strich ihr verfilztes, wirres Haar glatt. Ein gut gekleideter Mann ging an ihr vorüber und sah sie verächtlich an. Aledis stapfte mit dem Fuß auf und stürzte ihm knurrend und zähnefletschend hinterher wie ein bissiger Hund. Der Mann machte einen Satz und rannte davon, bis er merkte, dass Aledis ihm nicht folgte. Stattdessen sah sie die Umstehenden herausfordernd an, bis einer nach dem anderen zu Boden blickte und seiner Wege ging.

Was war geschehen? Die Soldaten des Herrn von Bellera waren in ihr Haus eingedrungen und hatten Francesca festgenommen, die in einem Lehnstuhl saß, um auszuruhen. Niemand gab ihnen irgendeine Erklärung. Die Mädchen wurden gewaltsam zurückgedrängt, als sie auf die Soldaten losgingen. Sie suchten Hilfe bei Aledis, die starr war vor Schreck. Ein Kunde rannte halb nackt davon. Aledis wandte sich an den, den sie für den Hauptmann hielt: »Was hat das zu bedeuten? Warum nehmt ihr diese Frau fest?«

»Befehl des Herrn von Bellera«, antwortete dieser.

Der Herr von Bellera! Aledis sah zu Francesca, die klein und gebeugt zwischen zwei Soldaten stand, die sie unter den Armen gefasst hatten. Die alte Frau zitterte. Bellera! Seit Arnau vor der Burg Montbui die Gewohnheitsrechte abgeschafft und Francesca Aledis ihr Geheimnis anvertraut hatte, war die Kluft überwunden, die zwischen den beiden Frauen gestanden hatte. Wie oft hatte sie von Francesca die Geschichte des Llorenç de Bellera gehört? Wie oft hatte sie die alte Frau weinen gesehen, wenn sie an jene Momente zurückdachte? Und nun war da wieder ein Bellera. Wieder wurde sie zur Burg gebracht, wie damals, als man sie …

Francesca stand immer noch zitternd zwischen den Soldaten.

»Lasst sie los!«, schrie Aledis die Soldaten an. »Seht ihr nicht, dass ihr der Frau wehtut?« Die Männer sahen Hilfe suchend zum Hauptmann. »Wir kommen freiwillig mit«, erklärte Aledis, während sie ihn herausfordernd ansah.

Der Hauptmann zuckte mit den Schultern und die Soldaten überließen Aledis die alte Frau.

Sie wurden zur Burg von Navarcles gebracht und ins Verlies gesperrt. Allerdings misshandelte man sie nicht, sondern gab ihnen Essen, Wasser und sogar ein wenig Stroh, um darauf zu schlafen. Jetzt verstand sie auch den Grund: Der Herr von Bellera wollte, dass Francesca in ordentlicher Verfassung in Barcelona ankam, wohin man sie nach zwei Tagen brachte. Warum? Wozu? Was hatte das alles zu bedeuten?

Das Stimmengewirr holte sie in die Realität zurück. In ihre Gedanken verloren, war sie die Calle del Bisbe und die Calle de Sederes entlanggegangen, bis sie schließlich die Plaza del Blat erreichte. An diesem klaren, sonnigen Frühlingstag hatten sich mehr Menschen auf dem Platz eingefunden als gewöhnlich. Dutzende von Passanten flanierten zwischen den Getreideverkäufern. Aledis stand vor dem alten Stadttor. Als sie das duftende Brot an einem Stand zu ihrer Linken roch, drehte sie sich um. Der Bäcker sah sie misstrauisch an, und Aledis erinnerte sich wieder daran, wie sie aussah. Sie hatte keinen einzigen Sueldo dabei. Sie schluckte die Spucke herunter, die ihr im Munde zusammengelaufen war, und ging davon, wobei sie sich bemühte, dem Blick des Bäckers auszuweichen.

Fünfundzwanzig Jahre. Fünfundzwanzig Jahre war es her, seit sie zuletzt durch diese Straßen gelaufen, die Menschen beobachtet und die Gerüche der gräflichen Stadt eingesogen hatte. Ob es die Armenspeisung noch gab? An diesem Morgen hatten sie nichts zu essen bekommen in der Burg und ihr knurrender Magen erinnerte sie daran. Sie ging zurück bis zur Kathedrale, am Bischofspalast vorbei. Wieder lief ihr das Wasser im Mund zusammen, als sie sich der Schar der Bedürftigen näherte, die sich vor der Tür des Almosenhauses drängte. Wie oft war sie in ihrer Jugend hier vorbeigekommen und hatte Mitleid mit diesen hungrigen Menschen empfunden, die auf der Suche nach öffentlicher Mildtätigkeit gezwungen waren, sich vor den Bürgern zur Schau zu stellen?

Aledis gesellte sich zu ihnen. Sie senkte den Kopf, damit ihr die Haare ins Gesicht fielen, und rückte schlurfend mit der Reihe vorwärts bis dorthin, wo das Essen ausgegeben wurde. Sie verbarg ihr Gesicht noch mehr, als sie schließlich vor dem Novizen stand und die Hände ausstreckte. Warum musste sie um Almosen betteln? Sie besaß ein schönes Haus und hatte genug Geld gespart, um ein sorgenfreies Leben zu führen. Die Männer begehrten sie nach wie vor … Es gab trockenes Brot aus Bohnenmehl, Wein und eine Schüssel Suppe. Sie aß mit derselben Gier wie die übrigen Armen um sie herum.

Als sie aufgegessen hatte, blickte sie zum ersten Mal auf. Sie war umgeben von Bettlern, Krüppeln und Greisen, die ihr Essen hinunterschlangen, ohne ihre Gefährten im Unglück aus den Augen zu lassen, den Brotkanten und die Schüssel fest umklammernd. Was war der Grund dafür, dass sie nun hier war? Warum wurde Francesca im Bischofspalast festgehalten? Aledis stand auf. Eine blonde Frau in einem leuchtend roten Kleid, die auf dem Weg zur Kathedrale war, weckte ihre Aufmerksamkeit. Eine Adlige ohne Begleitung? Aber wenn sie keine Adlige war, konnte sie mit diesem Kleid nur eine … Da erkannte sie sie. Es war Teresa! Aledis lief zu dem Mädchen.

»Wir haben uns vor der Burg abgewechselt, um herauszufinden, was mit euch los war«, erzählte Teresa, nachdem sie sich umarmt hatten. »Es war ein Leichtes für uns, die Wache am Tor davon zu überzeugen, uns auf dem Laufenden zu halten.« Das Mädchen zwinkerte Aledis mit ihren schönen grünen Augen zu. »Als man euch abführte und die Soldaten uns erzählten, dass ihr nach Barcelona gebracht würdet, mussten wir erst einen Weg finden, um hierherzukommen. Deshalb hat es so lange gedauert. Wo ist Francesca?«

»Im Bischofspalast gefangen.«

»Weshalb?«

Aledis zuckte mit den Schultern. Als man sie getrennt hatte und ihr befahl zu gehen, hatte sie bei den Soldaten und Priestern den Grund zu erfahren versucht. »In den Kerker mit der Alten«, hatte sie gehört. Doch niemand hatte ihr geantwortet. Stattdessen hatte man sie immer wieder beiseitegestoßen. In ihrer Hartnäckigkeit, die Gründe für Francescas Verhaftung zu erfahren, hatte sie einen jungen Mönch an der Kutte gepackt, und dieser rief nach der Wache, die sie schließlich auf die Straße warf und als Hexe beschimpfte.

»Wer von euch ist alles mitgekommen?«

»Nur Eulàlia und ich.«

Ein leuchtend grünes Kleid kam auf sie zugerannt.

»Habt ihr Geld dabei?«

»Natürlich.«

»Und Francesca?«, fragte Eulàlia, als sie vor Aledis stand.

»Verhaftet«, erklärte diese noch einmal. Eulàlia wollte weitere Fragen stellen, doch Aledis kam ihr zuvor. »Ich weiß nicht, warum.« Aledis sah die beiden an. Gab es etwas, was diese Mädchen nicht herausbekommen konnten? »Ich weiß nicht, warum sie verhaftet wurde, aber wir werden es herausfinden. Oder, Mädchen?«

Die Antwort der beiden bestand in einem verschwörerischen Lächeln.


Joan schleifte den verschmutzten Saum seines schwarzen Habits durch ganz Barcelona. Sein Bruder hatte ihn gebeten, Mar aufzusuchen. Wie sollte er ihr unter die Augen treten? Er hatte versucht, einen Pakt mit Eimeric zu schließen. Doch stattdessen war er auf seine Schliche hereingefallen wie einer dieser tumben Dörfler, denen er selbst so oft den Prozess gemacht hatte, und hatte ihm die besten Indizien für Arnaus Schuld an die Hand gegeben. Was mochte Elionor ausgesagt haben? Er überlegte kurz, seiner Schwägerin einen Besuch abzustatten, doch schon die Erinnerung daran, wie sie ihm in Felip de Ponts Haus zugelächelt hatte, ließ ihn davon Abstand nehmen. Was sollte sie ihm zu sagen haben, wenn sie ihren eigenen Mann angezeigt hatte?

Er ging durch die Calle de la Mar zur Kirche Santa María. Arnaus Kirche. Joan blieb stehen und betrachtete sie. Noch war sie von hölzernen Gerüsten umgeben, auf denen die Maurer hin und her liefen, doch Santa María zeigte bereits ihr stolzes Antlitz. Sämtliche Außenmauern und Strebepfeiler waren fertiggestellt, ebenso die Apsis und zwei der vier Mittelschiffjoche. Die Rippen des dritten Jochs, dessen Schlussstein der König gestiftet hatte und der dessen Vater König Alfons zu Pferde zeigte, wuchsen auf einem komplizierten Gerüstwerk in die Höhe, bis der Schlussstein den Schub auffing und das Gewölbe von alleine trug. Es fehlten nur noch die beiden letzten Joche, dann war Santa María vollständig geschlossen.

Wie sollte man sich nicht in diese Kirche verlieben? Joan erinnerte sich an Pater Albert und daran, wie Arnau und er die Kirche zum ersten Mal betreten hatten. Damals wusste er nicht einmal, wie man betete! Jahre später hatte er beten, lesen und schreiben gelernt, und währenddessen hatte sein Bruder Steine für den Bau geschleppt. Joan erinnerte sich an die blutenden Wunden, mit denen Arnau in den ersten Tagen nach Hause gekommen war. Und dennoch hatte er gelächelt. Er beobachtete die Handwerker, die an den Türpfosten und Archivolten der Hauptfassade arbeiteten, an dem Figurenschmuck, den beschlagenen Türen, dem Maßwerk, das sich an jedem Portal unterschied, an den schmiedeeisernen Gittern und den Wasserspeiern in Form von Fabelgestalten, an den Kapitellen der Säulen und an den Glasfenstern – ganz besonders an den kunstvollen Glasfenstern, deren Aufgabe es war, das magische Licht des Mittelmeers zu filtern, um Stunde für Stunde, Minute für Minute fast, mit den Formen und Farben im Innenraum der Kirche zu spielen.

Die gewaltige Fensterrose in der Hauptfassade ließ bereits die zukünftige Komposition erkennen: In der Mitte befand sich eine kleine Mehrpassrosette, von der wie eigensinnige Strahlen, einer sorgfältig gearbeiteten Sonne aus Stein gleich, die Lanzettfenster ausgingen, welche die Rosette gliedern sollten. An diese schlossen sich eine Reihe spitzbögiger Dreipässe und eine weitere Reihe runder Vierpässe an, die den Abschluss der großen Rosette bildeten. In dieses Maßwerk würde, genau wie an den schmalen Fenstern der Fassade, im Anschluss die Bleiverglasung eingepasst werden. Im Moment allerdings sah die Fensterrose wie ein riesiges Spinnennetz aus fein gemeißeltem Stein aus, der darauf wartete, dass die Glasermeister die Lücken füllten.

Es war noch viel zu tun, dachte Joan beim Anblick der vielen hundert Männer, die hingebungsvoll an dem Traum eines ganzen Volkes arbeiteten. In diesem Augenblick kam ein Bastaix vorbei, der einen riesigen Stein trug. Der Schweiß rann ihm von der Stirn bis zu den Waden hinunter, und seine angespannten Muskeln zeichneten sich bei jedem Schritt ab, der ihn der Kirche näher brachte. Aber er lächelte, genau wie sein Bruder damals. Joan konnte den Blick nicht von dem Bastaix wenden. Auf den Gerüsten ließen die Maurer ihre Arbeit liegen und schauten nach unten, um das Eintreffen der Steine zu beobachten, die sie später verarbeiten sollten. Hinter dem ersten Bastaix erschien ein zweiter, und dann noch einer und noch einer. Sie alle beugten sich unter ihrer Last. Das Hämmern der Meißel auf dem Stein verstummte beim Anblick der einfachen Lastenträger aus dem Hafenviertel von Barcelona, und für einige Augenblicke war ganz Santa María verzaubert. Ein Maurer hoch oben auf den Gerüsten brach das Schweigen. Sein aufmunternder Ruf hing in der Luft, hallte von den Steinen wider und ging allen Anwesenden durch Mark und Bein.

»Nur Mut«, flüsterte Joan in das Geschrei hinein, das nun losbrach. Die Bastaixos lächelten, und immer wenn einer seinen Stein ablud, wurden die Rufe lauter. Jemand bot ihnen Wasser an. Die Bastaixos ließen das Wasser aus den Schläuchen über ihre Gesichter rinnen, bevor sie tranken. Joan sah sich selbst am Strand, wie er mit Bernats Schlauch hinter den Bastaixos hergelaufen war. Dann blickte er in den Himmel. Er musste zu ihr gehen. Wenn das die Strafe war, die der Herr ihm auferlegte, so würde er sich auf die Suche nach dem Mädchen machen und ihm die Wahrheit gestehen. Er ging von der Kirche Santa María über die Plaza del Born und den Pia d'en Llull zum Kloster Santa Clara und verließ Barcelona durch das Stadttor San Daniel.


Es war ein Leichtes für Aledis, den Herrn von Bellera und Genis Puig ausfindig zu machen. Außer dem Handelshof für auswärtige Händler, die nach Barcelona kamen, gab es in der gräflichen Stadt lediglich fünf Herbergen. Sie wies Teresa und Eulàlia an, sich an dem Weg hinauf zum Montjuïc zu verstecken, bis sie sie holen kam. Aledis blickte ihnen stumm hinterher, während schmerzliche Erinnerungen in ihr wach wurden.

Als die leuchtenden Kleider der Mädchen nicht mehr zu sehen waren, machte sie sich auf die Suche. Zunächst im Hostal del Bou ganz in der Nähe des Bischofspalasts, an der Plaza Nova. Der Hausbursche jagte sie davon, als sie am Hintereingang klopfte und nach dem Herrn von Bellera fragte. Im Hostal de la Massa in der Portaferrissa, ebenfalls unweit des Bischofspalasts, sagte ihr eine Frau, die am Hintereingang saß und Teig knetete, dass die besagten Herrschaften nicht dort wohnten. Daraufhin ging Aledis zum Hostal del Estanyer an der Plaza de la Llana. Dort musterte ein schamloser Bursche die Frau von oben bis unten.

»Wer interessiert sich für den Herrn von Bellera?«, fragte er.

»Meine Herrin«, antwortete Aledis. »Sie ist ihm aus Navarcles hinterhergereist.«

Der Bursche, der groß und dürr war, starrte auf die Brüste der Dirne. Dann streckte er die Hand aus und wog eine in seiner Hand.

»Was will deine Herrin von diesem Adligen?«

Aledis ließ die Berührung reglos über sich ergehen, während sie sich ein Lächeln verkniff.

»Das geht mich nichts an.« Der Bursche begann sie zu befingern. Aledis presste sich an ihn und griff ihm zwischen die Beine. Der Bursche zuckte bei der Berührung zusammen. »Aber falls sie hier sind«, sagte sie, jedes Wort dehnend, »kann es gut sein, dass ich heute Nacht im Garten schlafen muss, während meine Herrin …«

Aledis streichelte den Burschen zwischen den Beinen.

»Heute morgen sind zwei Männer gekommen und haben eine Unterkunft gesucht«, stammelte er.

Aledis lächelte. Für einen Moment überlegte sie, den Jungen stehen zu lassen, aber … warum eigentlich nicht? Sie hatte schon lange keinen jungen, unerfahrenen, nur von der Leidenschaft getriebenen Körper mehr auf sich gespürt …

Aledis schob ihn in einen kleinen Verschlag. Beim ersten Mal hatte der Bursche nicht einmal Zeit, die Hosen herunterzuziehen, doch dann saugte die Frau das ganze Ungestüm aus dem launischen Objekt ihrer Begierde.

Als Aledis aufstand, um sich anzuziehen, blieb der Junge keuchend auf dem Boden liegen, den Blick irgendwo an der Decke des Verschlags verloren.

»Wenn du mich irgendwo wiedersiehst«, sagte sie, »dann kennst du mich nicht, verstanden?«

Aledis musste zweimal nachfragen, bis der Junge es versprach.


»Ihr seid meine Töchter«, erklärte sie Teresa und Eulàlia, nachdem sie ihnen die Kleider überreicht hatte, die sie gekauft hatte. »Ich bin seit Kurzem verwitwet, und wir sind auf der Durchreise nach Gerona, wo wir bei einem Bruder von mir unterkommen wollen. Wir sind völlig mittellos. Euer Vater war ein einfacher Geselle … ein Kürschner aus Tarragona.«

»Dafür, dass du frisch verwitwet bist und kein Geld hast, strahlst du ganz schön«, bemerkte Eulàlia, während sie das grüne Kleid abstreifte, und zwinkerte Teresa zu.

»Stimmt«, pflichtete diese bei. »Du solltest diesen befriedigten Gesichtsausdruck ablegen. Man könnte meinen, du hättest gerade …«

»Keine Sorge«, unterbrach Aledis sie. »Wenn es an der Zeit ist, werde ich den Schmerz an den Tag legen, der einer jungen Witwe zusteht.«

»Aber nicht länger als nötig«, erklärte Teresa. »Könntest du nicht die Sache mit der Witwe einmal kurz vergessen und uns erzählen, warum du so fröhlich bist?«

Die beiden Mädchen lachten. Im Gebüsch am Hang des Montjuïc verborgen, konnte Aledis nicht aufhören, ihre nackten, vollkommenen, sinnlichen Körper zu betrachten. Für einen Moment erinnerte sie sich daran, wie sie selbst vor vielen Jahren an diesem Ort …

»Iiih!«, rief Eulàlia. »Das kratzt!«

Aledis kehrte in die Wirklichkeit zurück und sah Eulàlia in einem langen, farblosen Kittel, der ihr bis zu den Knöcheln reichte.

»Die Waisen eines Kürschnergesellen tragen keine Seide.«

»Aber das hier?«, beschwerte sich Eulàlia, während sie mit zwei Fingern an dem Kittel zupfte.

»Das ist ganz normal«, erklärte Aledis. »Ihr habt das hier vergessen.«

Aledis zeigte ihnen zwei Bänder, die aus dem gleichen farblosen, groben Stoff waren wie die Kittel. Die beiden Mädchen traten näher, um sie zu nehmen.

»Was ist das?«, fragte Teresa.

»Leibbinden. Damit macht ihr …«

»Nein, du hast doch nicht etwa vor …«

»Anständige Frauen verstecken ihre Brüste.« Die beiden wollten protestieren. »Zuerst die Leibbinden«, befahl Aledis, »dann die Hemden und darüber die Umschlagtücher. Und seid froh, dass ich euch Kittel gekauft habe und keine Büßerhemden«, setzte sie angesichts der empörten Blicke der Mädchen hinzu. »Vielleicht täte es euch ganz gut, ein wenig Buße zu üben.«

Die drei mussten sich gegenseitig beim Anlegen der Leibbinden helfen.

»Ich dachte, wir sollten die beiden Adligen verführen«, sagte Eulàlia, während Aledis die Leibbinde über ihren üppigen Brüsten festzurrte. »Ich weiß nicht, wie wir damit …«

»Lass mich nur machen«, antwortete Aledis. »Die Kleider sind weiß, ein Symbol der Jungfräulichkeit. Diese beiden Schwachköpfe werden sich die Gelegenheit nicht entgehen lassen, mit zwei Jungfrauen zu schlafen. Und merkt euch: Ihr habt keine Erfahrung mit Männern«, schärfte Aledis ihnen ein, während sie sich weiter ankleideten, »also seid weder kokett noch frivol. Ziert euch. Weist sie so oft zurück wie nötig.«

»Und wenn wir sie so oft abweisen, dass sie schließlich aufgeben?«

Aledis sah Teresa mit hochgezogenen Augenbrauen an.

»Dummerchen«, sagte sie lächelnd. »Ihr müsst nichts weiter tun, als sie zum Trinken zu bringen. Der Wein erledigt den Rest. Solange ihr in ihrer Nähe seid, werden sie nicht aufgeben, das versichere ich euch. Und denkt daran, dass Francesca von der Kirche verhaftet wurde, nicht auf Veranlassung des Stadtrichters. Also lenkt die Unterhaltung auf religiöse Themen …«

Die beiden Mädchen sahen sie überrascht an.

»Religiöse Themen?«, fragten sie wie aus einem Munde.

»Ich weiß, dass ihr euch nicht besonders damit auskennt«, gab Aledis zu. »Setzt eure Phantasie ein. Ich glaube, es geht um Hexerei. Als ich aus dem Bischofspalast geworfen wurde, hat man mich als Hexe beschimpft.«

Einige Stunden später ließen die Wachen am Stadttor Trentaclaus eine schwarz gekleidete Frau passieren, deren Haar zu einem Knoten gebunden war. Sie befand sich in Begleitung ihrer beiden weiß gekleideten Töchter. Auch sie hatten das Haar streng nach hinten gebunden und waren weder geschminkt noch parfümiert. In ihren einfachen Strohschuhen gingen sie mit gesenkten Köpfen hinter der schwarz gekleideten Frau her, den Blick auf ihre Fersen geheftet, wie es ihnen Aledis gesagt hatte.

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