10


»Weshalb bauen sie die Gerüste noch höher?«

Arnau deutete auf den rückwärtigen Teil der Kirche Santa María. Angel sah nach oben und nuschelte eine unverständliche Erklärung, den Mund voller Brot und Käse. Joanet begann zu kichern, Arnau stimmte mit ein, und schließlich konnte sich auch Angel selbst das Lachen nicht verkneifen, bis er sich verschluckte und das Lachen in einen Hustenanfall überging.

Arnau und Joanet gingen jetzt jeden Tag nach Santa María, um in der Kirche niederzuknien. Bestärkt von seiner Mutter, hatte Joanet beschlossen, das Beten zu lernen, und sagte ein ums andere Mal die Gebete auf, die Arnau ihm beibrachte. Wenn die beiden Freunde sich später verabschiedeten, lief der Kleine zu dem Fensterchen und erzählte, wie viel er an diesem Tag gebetet hatte. Arnau hielt stumme Zwiesprache mit seiner Mutter. Nur wenn Pater Albert – denn so hieß der Pfarrer – zu ihnen trat, stimmte er in Joanets Gemurmel ein.

Wenn Arnau und Joanet die Kirche verließen, blieben sie immer in einiger Entfernung stehen, um die Bauarbeiten zu beobachten, die Zimmerleute, Steinmetze und Maurer. Dann hockten sie sich auf den Platz und warteten, bis Angel eine Pause machte und sich zu ihnen setzte, um Brot und Käse zu essen. Pater Albert betrachtete sie mit Wohlwollen, die Arbeiter von Santa María lächelten ihnen zu, und sogar die Bastaixos schenkten den beiden Kindern, die dort vor der Kirche saßen, einen Blick, wenn sie mit Steinen beladen zur Baustelle kamen.

»Weshalb bauen sie die Gerüste noch höher?«, fragte Arnau noch einmal.

Die drei sahen zum hinteren Teil der Kirche hinüber, wo sich die zehn Pfeiler in den Himmel reckten, acht im Halbkreis, zwei etwas weiter weg. Dahinter hatte man mit dem Bau der Streben und der Mauern begonnen, aus denen die Apsis entstehen sollte. Die Pfeiler überragten die kleine romanische Kirche, doch die Gerüste wuchsen immer weiter in die Höhe, als wären die Handwerker verrückt geworden und wollten eine Leiter bis in den Himmel bauen.

»Ich weiß es nicht«, antwortete Angel.

»Diese Gerüste tragen ja gar nichts«, stellte Joanet fest.

»Aber sie werden etwas tragen müssen«, behauptete da eine sichere Männerstimme.

Die drei fuhren herum. Vor lauter Lachen und Husten hatten sie nicht bemerkt, dass hinter ihnen mehrere Männer standen. Einige waren vornehm gekleidet, andere trugen Priestergewänder mit edelsteinbesetzten Goldkreuzen auf der Brust, schweren Ringen und gold- und silberdurchwirkten Schärpen.

Pater Albert sah sie von der Kirchentür aus und eilte ihnen entgegen, um sie zu begrüßen. Angel sprang mit einem Satz auf und verschluckte sich erneut. Er sah den Mann, der ihnen geantwortet hatte, nicht zum ersten Mal, doch nur selten hatte er ihn von so viel Prunk umgeben gesehen. Es war Berenguer de Montagut, der Baumeister von Santa María del Mar.

Auch Arnau und Joanet standen auf. Pater Albert trat zu der Gruppe und begrüßte die Bischöfe, indem er ihre Ringe küsste.

»Was werden sie tragen?«

Joanets Frage ließ Pater Albert auf halbem Wege zu einem weiteren Handkuss verharren. Aus seiner unbequemen Haltung heraus sah er den Jungen streng an. Sprich nicht, wenn du nicht gefragt wirst, schien sein Blick zu sagen. Einer der Pröpste machte Anstalten, zur Kirche zu gehen, doch Berenguer de Montagut fasste Joanet an der Schulter und beugte sich zu ihm hinunter.

»Kinder können oft sehen, was wir nicht sehen«, sagte er laut zu seinen Begleitern. »Es würde mich also nicht wundern, wenn diese Knaben etwas bemerkt hätten, was uns womöglich entgangen ist. Du willst wissen, weshalb wir die Gerüste noch höher bauen?« Joanet nickte, nicht ohne zuvor zu Pater Albert hinüberzusehen. »Siehst du das Ende der Pfeiler? Von dort oben, von jedem einzelnen, werden acht Bögen ausgehen, und auf ihnen wird das Gewölbe der neuen Apsis ruhen.«

»Was ist ein Gewölbe?«, fragte Arnau.

Berenguer lächelte und blickte sich um. Einige der Anwesenden lauschten den Erklärungen ebenso aufmerksam wie die Kinder.

»Ein Gewölbe ist in etwa so.« Der Baumeister legte die Finger gegeneinander, sodass sie eine Art Kuppel bildeten. Die Jungen blickten gebannt auf diese magischen Hände. Einige aus der hinteren Reihe reckten die Hälse, auch Pater Albert. »Stellt euch vor, meine Finger wären die Gewölberippen, für die wir vorher Holzgerüste gebaut haben. Und ganz oben, hier« – er öffnete die Hände und wies auf die Spitze seines Zeigefingers – »kommt ein großer Stein hin, den man Schlussstein nennt. Diesen Stein müssen wir ganz nach oben auf die Gerüste hieven. Seht ihr, dort?« Alle schauten nach oben. »Wenn wir ihn an seinen Platz gebracht haben, verkleiden wir den Raum zwischen zwei Gerüsten mit Brettern und formen die Gewölbeschale aus leichtem Stein und Mörtel. Dafür brauchen wir diese hohen Gerüste. Nachher kommt das Holz natürlich wieder weg.«

»Und wozu diese ganze Arbeit?«, hakte Arnau nach. Der Priester zuckte zusammen, als er den Jungen so sprechen hörte, auch wenn er sich bereits an seine Fragen und Beobachtungen zu gewöhnen begann. »Das alles wird man doch gar nicht sehen, wenn man in der Kirche ist. Es ist über dem Dach.«

Berenguer lachte, und einige seiner Begleiter stimmten mit ein. Pater Albert seufzte.

»Natürlich wird man es sehen, mein Junge. Die kleine Kirche, die jetzt hier steht, wird im Verlauf der Bauarbeiten verschwinden. Es ist, als entstünde aus dieser kleinen Kirche eine neue, größere und …«

Joanets unwilliges Gesicht überraschte ihn. Der Junge hatte sich an die Intimität der kleinen Kirche gewöhnt, an ihren Geruch, die Dunkelheit, die Geborgenheit, die er fand, wenn er dort betete.

»Liebst du die Jungfrau vom Meer?«, fragte ihn Berenguer.

Joanet sah Arnau an und beide nickten einhellig.

»Nun, wenn ihre neue Kirche fertig ist, wird diese Jungfrau, die ihr so sehr liebt, mehr Licht haben als jede andere Madonna auf der Welt. Sie wird nicht mehr im Dunkeln sein wie jetzt, und sie wird die schönste Kirche ihr Eigen nennen, die man sich nur vorstellen kann. Nicht mehr dicke, niedrige Mauern werden sie umgeben, sondern hohe, lichte Wände mit Pfeilern und Fenstern, die bis in den Himmel hinaufreichen.«

Alle schauten gen Himmel.

»Ja«, fuhr Berenguer de Montagut fort, »die neue Kirche der Jungfrau vom Meer wird bis in den Himmel reichen.«

Dann schritt er gemeinsam mit seinen Begleitern auf Santa María zu. Die Kinder und Pater Albert blieben zurück und sahen ihnen nach.

»Pater«, fragte Arnau schließlich, als die Besucher außer Hörweite waren, »was geschieht denn mit der Jungfrau, wenn die kleine Kirche abgebrochen wird, die neue aber noch nicht fertiggestellt ist?«

»Siehst du die Strebepfeiler dort drüben?«, antwortete der Pfarrer und deutete auf zwei der Pfeiler, die sich im Bau befanden, um den Umgang hinter dem Hauptaltar zu schließen. »Zwischen diesen beiden Pfeilern wird die Hauptkapelle errichtet, die Sakramentskapelle. Dort wird man die Jungfrau vorläufig unterbringen, neben dem Leib Christi und den Gebeinen der heiligen Eulàlia, damit sie keinen Schaden nimmt.«

»Und wer wird sie bewachen?«

»Keine Sorge«, antwortete der Priester, nun mit einem Lächeln auf den Lippen, »die Jungfrau wird gut bewacht sein. Die Sakramentskapelle gehört der Bruderschaft der Bastaixos. Sie besitzen den Schlüssel und werden deine Jungfrau bewachen.«

Arnau und Joanet kannten die Bastaixos inzwischen. Angel hatte ihnen ihre Namen genannt, wenn sie, einer hinter dem anderen, mit ihren riesigen Steinen beladen ankamen. Da war Ramon, den sie als Ersten kennengelernt hatten. Guillem, hart wie der Stein, den er auf seinem Rücken trug, von der Sonne gegerbt, das Gesicht von einem Unfall schrecklich entstellt, aber sanft und freundlich im Umgang. Ein weiterer Ramon, ›der Kleine‹ genannt, weil er kleiner war als der erste Ramon und von gedrungener Gestalt. Miquel, ein sehniger Mann, dem man gar nicht zutraute, dem Gewicht seiner Last standzuhalten, doch er schaffte es, indem er alle Sehnen seines Körpers anspannte, bis es aussah, als könnten sie jeden Augenblick reißen. Sebastià, der Schweigsamste unter ihnen, und sein Sohn Bastianet. Pere, Jaume und so viele andere Namen, die jenen Arbeitern aus dem Ribera-Viertel gehörten, die es sich zur Aufgabe gemacht hatten, die Tausende von Steinen, die für den Bau der Kirche benötigt wurden, vom königlichen Steinbruch La Roca nach Santa María del Mar zu schleppen.

Arnau dachte an die Bastaixos, daran, wie sie zu der Kirche hinübersahen, wenn sie, unter ihrer Last gebeugt, in Santa María ankamen. Wie sie lächelten, nachdem sie die Steine abgeladen hatten. Wie stark ihre Schultern waren. Er war sich sicher, dass sie seine Jungfrau gut beschützen würden.


Keine Woche später wurde in die Tat umgesetzt, was Berenguer de Montagut angekündigt hatte.

»Kommt morgen bei Tagesanbruch«, riet ihnen Angel, »wir ziehen den Schlussstein hoch.«

Und die Jungen waren da. Sie liefen hinter den Handwerkern herum, die sich allesamt vor den Gerüsten versammelt hatten. Es waren über hundert Personen: Arbeiter, Bastaixos und sogar Priester. Pater Albert hatte seinen Habit abgelegt und war gekleidet wie alle anderen. Um die Hüften trug er eine Schärpe aus festem rotem Stoff.

Arnau und Joanet mischten sich unter die Menge, wobei sie den einen oder anderen freundlich grüßten.

»Kinder«, sagte einer der Maurermeister zu ihnen, »wenn wir anfangen, den Schlussstein hochzuziehen, will ich euch hier nicht mehr sehen.«

Die beiden nickten.

»Und wo ist der Schlussstein?«, fragte Joanet und sah zu dem Meister auf.

Sie liefen zu der Stelle, die der Mann ihnen zeigte, vor dem ersten Gerüst, dem niedrigsten von allen.

»Gütige Jungfrau!«, riefen sie wie aus einer Kehle, als sie vor dem großen, runden Stein standen.

Auch viele der Männer betrachteten den Stein, doch sie schwiegen. Sie wussten, dass dies ein wichtiger Tag war.

»Er wiegt über sechstausend Kilo«, sagte jemand zu ihnen.

Joanet sah mit tellergroßen Augen zu Ramon hinüber, dem Bastaix, den er neben dem Stein entdeckt hatte.

»Nein«, erriet dieser seine Gedanken, »den haben wir nicht hergeschleppt.«

Die Bemerkung wurde mit nervösem Gelächter quittiert, das jedoch rasch wieder verstummte. Arnau und Joanet sahen, wie die Männer einer nach dem anderen vorbeikamen, den Stein betrachteten und dann zu den Gerüsten hinaufblickten. Sie mussten über sechstausend Kilo mithilfe von Seilen auf eine Höhe von dreißig Metern hinaufziehen!

»Wenn etwas schiefgeht …«, hörten sie einen von ihnen sagen, während er sich bekreuzigte.

»… wird er uns unter sich begraben«, brachte ein anderer den Satz zu Ende und biss sich auf die Lippen.

Niemand stand still. Sogar Pater Albert in seiner ungewohnten Kleidung lief unruhig zwischen den Männern umher, klopfte ihnen aufmunternd auf die Schultern und nahm sich Zeit für ein paar kurze Worte. Zwischen den Leuten und den Gerüsten erhob sich die alte Kirche. Viele sahen zu ihr herüber. Barceloneser Bürger begannen sich in einiger Entfernung von der Baustelle zu versammeln.

Schließlich erschien Berenguer de Montagut. Noch bevor ihn jemand grüßen konnte, schwang er sich auf das unterste Gerüst und wandte sich an die versammelte Menge. Während er sprach, befestigten einige Maurer einen großen Seilzug an dem Stein.

»Wie ihr seht«, rief Berenguer de Montagut, »wurden oben am Gerüst mehrere Flaschenzüge angebracht, mit denen wir den Schlussstein nach oben ziehen. Die Seilzüge dort oben, wie auch jener, der den Stein hält, bestehen aus drei Laufrädern hintereinander, die wiederum jeweils aus drei Blockrollen bestehen. Wie ihr wisst, benutzen wir keine Winden, da wir den Stein jederzeit auch seitlich bewegen können müssen. Über die Rollen laufen drei Trossen, sie werden nach oben geführt und dann wieder auf den Boden.« Hundert Köpfe folgten dem Lauf der Seile, den der Baumeister beschrieb. »Ich möchte, dass ihr euch hier um mich herum in drei Gruppen aufteilt.«

Die Maurermeister begannen, die Männer einzuteilen. Arnau und Joanet schlichen zu der rückwärtigen Fassade der alten Kirche und verfolgten von dort aus, an die Mauer gelehnt, die Vorbereitungen. Als Berenguer sah, dass sich die drei Gruppen formiert hatten, sprach er weiter: »Jede der drei Gruppen wird an einem der Seile ziehen. Ihr«, setzte er, an eine der Gruppen gewandt, hinzu, »seid Santa María. Sprecht mir nach: Santa María!« Die Männer riefen Santa María. »Ihr seid Santa Clara.« Die zweite Gruppe rief im Chor den Namen Santa Clara. »Und ihr seid Santa Eulàlia. Ich werde euch mit diesen Namen ansprechen. Wenn ich sage: ›Alle zusammen!‹, dann meine ich alle drei Gruppen. Ihr müsst gerade ziehen, so wie man euch aufstellt. Orientiert euch an eurem Vordermann und achtet auf die Befehle des Meisters, der die Gruppe leitet. Jetzt stellt euch in Reihen auf!«

Jede Gruppe hatte einen Meister, der die Männer in einer Reihe ausrichtete. Die Seile lagen bereit. Die Männer ergriffen sie. Berenguer de Montagut ließ ihnen keine Zeit zum Nachdenken.

»Alle zusammen! Auf los beginnt ihr zu ziehen, zunächst ganz langsam, bis die Seile unter Spannung stehen. Los!«

Arnau und Joanet sahen, wie Bewegung in die Reihen kam, bis sich die Trossen spannten.

»Alle zusammen! Feste!«

Die Jungen hielten den Atem an. Die Männer stemmten die Hacken in die Erde und begannen zu ziehen, und ihre Arme, ihre Rücken und ihre Gesichter spannten sich an. Arnau und Joanet sahen zu dem riesigen Stein hinüber. Er bewegte sich nicht von der Stelle.

»Alle zusammen! Fester!«

Der Befehl hallte auf dem Platz wider. Die Gesichter der Männer begannen sich zu verzerren. Die Holzplanken der Gerüste knarrten, und der Stein hob sich eine Handbreit vom Boden. Sechstausend Kilo!

»Weiter!«, brüllte Berenguer, ohne den Stein aus den Augen zu lassen.

Noch eine Handbreit. Die Jungen vergaßen zu atmen.

»Santa María! Fester! Höher!«

Arnau und Joanet sahen zu der Gruppe Santa María. Dort stand Pater Albert und zog mit geschlossenen Augen am Seil.

»Gut so, Santa María, gut so! Alle zusammen! Fester!«

Das Holz knarrte. Arnau und Joanet blickten zu den Gerüsten und dann zu Berenguer de Montagut, der nur auf den Stein achtete, der sich nun langsam, ganz langsam nach oben bewegte.

»Weiter! Weiter! Weiter! Alle zusammen! Feste!«

Als der Schlussstein auf Höhe des ersten Gerüsts war, wies Berenguer die Reihen an, nicht weiterzuziehen und den Stein in der Schwebe zu halten.

»Santa María und Santa Eulàlia, halt!«, befahl er dann. »Santa Clara, zieht!« Der Schlussstein bewegte sich seitlich auf das Gerüst zu, von dem aus Berenguer seine Befehle gab. »Jetzt alle! Lasst ganz langsam los.«

Alle, auch die, die an den Seilen zogen, hielten die Luft an, als sich der Stein vor Berenguer auf das Gerüst senkte.

»Langsam!«, rief der Baumeister.

Die Planke bog sich unter dem Gewicht des Steins.

»Und wenn sie nachgibt?«, flüsterte Arnau Joanet zu.

Dann würde Berenguer …

Aber sie hielt. Doch dieses Gerüst war nicht darauf ausgelegt, dem Gewicht des Steins lange standzuhalten. Er musste weiter nach oben, wo die Gerüste nach Berenguers Berechnungen standhalten würden. Die Maurer befestigten die Trossen am nächsten Flaschenzug, und die Männer zogen erneut an den Seilen. Das nächste Gerüst und das übernächste. Der sechstausend Kilo schwere Stein schwebte höher und höher, bis er sich an der Stelle befand, wo die Gerüste der Bogenrippen zusammenliefen, hoch über den Köpfen der Leute, ganz oben am Himmel.

Die Männer schwitzten, ihre Muskeln waren verkrampft. Manchmal fiel einer hin, und der zuständige Meister lief zu ihm, um ihn unter den Füßen seiner Vorderleute herauszuziehen. Einige kräftige Bürger waren dazugetreten, und wenn einer nicht mehr konnte, wählte der Meister einen von ihnen aus, damit er dessen Platz einnahm.

Von oben gab Berenguer seine Anweisungen, die ein weiterer Meister, der auf einem niedrigeren Gerüst stand, an die Männer weitergab. Als der Schlussstein das letzte Gerüst erreichte, entspannten sich so manche fest zusammengepresste Lippen zu einem Lächeln. Doch dies war der schwierigste Moment. Berenguer hatte genau berechnet, wo der Schlussstein platziert werden musste, damit er exakt in die Rippen eingepasst werden konnte. Tagelang hatte er mit Seilen und Pflöcken den Raum zwischen den zehn Pfeilern vermessen, hatte mit dem Senkblei auf den Gerüsten gestanden und immer neue Schnüre von den in die Erde gesteckten Pflöcken zu den Gerüsten hinaufgezogen. Tagelang hatte er Zahlen auf Pergamente gekritzelt, sie wieder ausradiert und neu beschrieben. Wenn der Schlussstein nicht exakt an der richtigen Stelle lag, würden die Bögen dem Schub nicht standhalten, und das Gewölbe könnte einstürzen.

Nach Tausenden von Berechnungen und unendlich vielen Skizzen hatte er schließlich die exakte Stelle auf den Planken des obersten Gerüsts angezeichnet. Dort musste der Schlussstein liegen, keine Handbreit weiter rechts oder links. Die Männer wurden ungeduldig, als Berenguer de Montagut, anders als auf den anderen Ebenen, nicht zuließ, dass sie den Stein auf die Planken absenkten, und immer neue Anweisungen gab.

»Noch ein Stückchen, Santa María. Nein! Zieht, Santa Clara. Jetzt wartet. Santa Eulàlia! Santa Clara! Santa María! Weiter nach oben! Nach unten! Jetzt!«, rief er plötzlich. »Halt! Nach unten! Stück für Stück! Ganz langsam!«

Plötzlich war keine Spannung mehr auf den Seilen. Schweigend sahen alle nach oben, wo Berenguer de Montagut sich bückte, um die Lage des Schlusssteins zu prüfen. Er ging um den Stein herum, der zwei Meter im Durchmesser maß, dann richtete er sich auf und winkte nach unten.

An die Mauer der alten Kirche gelehnt, glaubten Arnau und Joanet den Widerhall des Jubelgeschreis zu spüren, der aus den Kehlen der Männer kam, die seit Stunden an den Seilen gezogen hatten. Einige umarmten sich und vollführten Luftsprünge vor Freude. Die Hunderte von Zuschauern, die das Schauspiel verfolgt hatten, johlten und applaudierten. Arnau hatte einen Kloß im Hals und eine Gänsehaut.


»Ich wäre so gerne schon älter«, flüsterte Arnau an diesem Abend seinem Vater zu, als sie nebeneinander auf dem Strohsack lagen. Ringsum war das Husten und Schnarchen der Sklaven und Lehrlinge zu hören.

Bernat versuchte zu ergründen, woher dieser Wunsch rührte. Arnau war glückstrahlend nach Hause gekommen und hatte tausendmal erzählt, wie sie den Schlussstein der Apsis von Santa María an seinen Platz gebracht hatten. Selbst Jaume hatte gebannt zugehört.

»Warum denn das, mein Junge?«

»Alle haben eine Aufgabe. In Santa María sind viele Jungen, die ihren Vätern oder Lehrmeistern zur Hand gehen. Joanet und ich hingegen …«

Bernat legte den Arm um die Schultern des Jungen und zog ihn an sich. Tatsächlich lungerte Arnau jeden Tag dort herum, außer wenn man ihm hin und wieder einen Auftrag erteilte. Was also konnte er Sinnvolles tun?

»Du magst doch die Bastaixos, nicht wahr?«

Bernat hatte die Begeisterung bemerkt, mit der sein Sohn ihm von diesen Männern erzählte, die die Steine zur Kirche schleppten. Die Jungen folgten ihnen bis vor die Tore der Stadt, um dort auf sie zu warten und dann mit ihnen am Strand entlang zurückzugehen, von Framenors bis zur Kirche Santa María.

»Ja«, antwortete Arnau, während sein Vater etwas unter der Matratze hervorholte.

»Hier, nimm«, sagte er und überreichte ihm den alten Wasserschlauch, der sie auf ihrer Flucht begleitet hatte. »Biete ihnen kühles Wasser an. Du wirst sehen, sie werden es nicht zurückweisen und dir dankbar dafür sein.«

Am nächsten Morgen wartete Joanet wie immer in aller Frühe vor Graus Werkstatt auf ihn. Arnau zeigte ihm den Schlauch. Dann hängte er ihn sich um den Hals und sie liefen zum Strand hinunter, zum Angel-Brunnen am Markt Los Encantes. Es war der einzige Brunnen, der am Weg der Bastaixos lag. Der nächste befand sich bereits bei der Kirche Santa María.

Als die Jungen die Schlange der Bastaixos, die gebückt unter der Last der Steine liefen, langsam herannahen sahen, kletterten sie auf eines der Boote, das am Strand lag. Arnau hielt dem ersten Bastaix den Schlauch hin. Der Mann lächelte und blieb neben dem Boot stehen, damit ihm Arnau einen Strahl Wasser direkt in den Mund spritzen konnte. Die übrigen warteten, bis er mit dem Trinken fertig war, dann kam der Nächste an die Reihe. Auf dem Rückweg zum Steinbruch, von ihrer Last befreit, hielten die Bastaixos bei dem Boot an, um ihnen für das kühle Wasser zu danken.

Von diesem Tag an wurden Arnau und Joanet die Wasserträger der Bastaixos. Sie warteten neben dem Angel-Brunnen auf sie, und wenn ein Schiff zu entladen war und die Bastaixos nicht in Santa María arbeiteten, folgten sie ihnen durch die Stadt, um ihnen Wasser zu geben, ohne dass sie die schweren Bündel abladen mussten, die sie auf dem Rücken trugen.

Sie gingen auch weiterhin nach Santa María, um die Bauarbeiten zu verfolgen, mit Pater Albert zu sprechen und Angel beim Essen zuzusehen. Wer sie sah, konnte einen neuen Glanz in ihren Augen entdecken, wenn sie die Kirche betrachteten. Auch sie trugen nun zu ihrem Bau bei! So hatten es ihnen die Bastaixos und sogar Pater Albert gesagt.

Während der Schlussstein oben auf dem Gerüst thronte, konnten die Jungen beobachten, wie von den zehn Pfeilern die Rippen emporzuwachsen begannen. Die Maurer reihten auf den Bogengerüsten einen Stein an den anderen, immer näher auf den Schlussstein zu. Um die ersten acht Pfeiler herum waren bereits die Mauern des Chorumgangs errichtet worden. Die Strebepfeiler ragten nach innen, ins Innere der Kirche. Zwischen zweien dieser Strebepfeiler, so hatte ihnen Pater Albert erzählt, sollte sich die Sakramentskapelle befinden, die Kapelle der Bastaixos, wo die Jungfrau ihren Platz finden würde.

»Wisst ihr, woraus das Deckengewölbe bestehen wird?«, fragte der Pfarrer sie. Die Jungen schüttelten die Köpfe. »Aus allen zersprungenen Keramikgefäßen der Stadt. Zuerst werden Quader angebracht und darauf eine Schicht aus sämtlichen Keramikscherben, eine auf der anderen. Darüber erst kommt das Kirchendach.«

Arnau hatte die ganzen Gefäße auf einem Haufen neben den Steinen für Santa María liegen sehen. Er hatte seinen Vater gefragt, warum sie dort lagen, doch Bernat hatte keine Antwort gewusst.

»Ich weiß nur«, erklärte er, »dass alle zerbrochenen Stücke gesammelt werden, bis sie abgeholt werden. Ich wusste nicht, dass sie für deine Kirche bestimmt sind.«

So nahm die neue Kirche hinter der Apsis der alten Kirche Gestalt an. Man hatte bereits damit begonnen, diese vorsichtig abzubrechen, um die Steine wieder verwenden zu können. Das Ribera-Viertel sollte nicht auf eine Kirche verzichten müssen, auch nicht in der Zeit, während die neue, wunderbare Marienkirche entstand. Die Gottesdienste gingen unverändert weiter. Dennoch war es ein sonderbares Gefühl. Wie alle anderen betrat Arnau die Kirche durch das trichterförmige Portal des kleinen romanischen Baus. Im Inneren war die Dunkelheit, in die er sich immer geflüchtet hatte, um mit seiner Jungfrau zu sprechen, dem Licht gewichen, das durch die großen Fenster der neuen Apsis flutete. Die alte Kirche glich einem kleinen Raum, der von der Großartigkeit eines weiteren, größeren Raums umgeben war, ein Raum, der immer weiter verschwand, je weiter der Bau des zweiten voranschritt. Ein winziger Raum, an dessen Ende sich die hohe, bereits überwölbte Apsis von Santa María del Mar öffnete.

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