19
Es war ein harter Tag gewesen. So kurz nach der Sommersonnenwende war es abends lange hell, und die Bastaixos arbeiteten von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang, be- und entluden die Schiffe, die in den Hafen kamen, immer angetrieben von den Händlern und Kapitänen, die so wenig Zeit wie möglich im Hafen von Barcelona verlieren wollten.
Als Arnau müde nach Hause kam, die Füße nachziehend, die Capçana in der Hand, wandten sich ihm acht Gesichter zu. Bei Pere und Mariona am Tisch saßen ein Mann und eine Frau. Joan, ein Junge und zwei Mädchen sahen ihn vom Fußboden aus an, den Rücken an die Wand gelehnt. Alle aßen mit Appetit aus ihren Schüsseln.
»Arnau«, sagte Pere, »ich möchte dir unsere neuen Mieter vorstellen. Das ist Gastó Segura, ein Gerbergeselle.« Der Mann nickte lediglich mit dem Kopf, ohne mit dem Essen aufzuhören. »Seine Frau Eulàlia.« Diese lächelte ihm zu. »Und ihre drei Kinder, Simò, Aledis und Alesta.«
Arnau, der rechtschaffen müde war, hob kurz die Hand in Richtung Joan und der Gerberkinder und wollte die Schüssel nehmen, die Mariona ihm anbot. Doch etwas trieb ihn dazu, sich noch einmal zu den drei Neuankömmlingen umzudrehen. Diese Augen! Die Augen der beiden Mädchen waren auf ihn geheftet. Sie waren riesig, dunkelbraun und lebhaft. Die beiden lächelten.
»Iss jetzt, Junge!«
Das Lächeln verschwand. Alesta und Aledis blickten in ihre Schüsseln, und Arnau sah den Gerber an, der aufgehört hatte zu essen und eine Kopfbewegung in Richtung Mariona machte, die neben dem Feuer stand und ihm die Schüssel entgegenhielt.
Mariona überließ ihm ihren Platz am Tisch, und Arnau begann seinen Eintopf zu löffeln. Gastó Segura, der ihm gegenübersaß, schlürfte und kaute mit offenem Mund. Jedes Mal, wenn Arnau von seinem Teller aufsah, begegnete er dem Blick des Gerbers, der auf ihn gerichtet war.
Nach einer Weile stand Simò auf, um Mariona seine Schüssel und die seiner Schwestern zu geben, die bereits leer waren.
»Ab ins Bett«, befahl Gastó in das Schweigen hinein.
Dann sah der Gerber Arnau mit zusammengekniffenen Augen an. Der fühlte sich unbehaglich und konzentrierte sich auf seine Schüssel. Er hörte nur, wie die Mädchen aufstanden und sich schüchtern verabschiedeten. Als ihre Schritte verklungen waren, sah Arnau wieder auf. Gastós Aufmerksamkeit schien nachgelassen zu haben.
»Wie sind sie?«, fragte er Joan in dieser Nacht, als sie zum ersten Mal unten schliefen, ihre Strohsäcke zu beiden Seiten des Herdes auf dem Boden ausgebreitet.
»Wer?«, fragte Joan zurück.
»Die Töchter des Gerbers.«
»Wie sollen sie schon sein? Normal«, sagte Joan und machte ein ratloses Gesicht, das sein Bruder in der Dunkelheit nicht sehen konnte. »Ganz normale Mädchen. Nehme ich zumindest an«, zögerte er. »Eigentlich weiß ich es nicht. Sie haben mich nicht mit ihnen sprechen lassen. Ihr Bruder hat mir nicht einmal gestattet, ihnen die Hand zu geben. Stattdessen hat er meine Hand ergriffen und mich von ihnen weggezogen.«
Doch Arnau hörte ihm nicht mehr zu. Wie konnten diese Augen normal sein? Und sie hatten ihm zugelächelt. Beide.
Als es Tag wurde, kamen Pere und Mariona nach unten. Arnau und Joan hatten ihre Strohsäcke bereits weggeräumt. Kurz darauf erschienen der Gerber und sein Sohn. Die Frauen waren nicht dabei. Gastó hatte ihnen verboten herunterzukommen, bis die Jungen gegangen waren. Arnau verließ Peres Haus in Gedanken an diese riesigen braunen Augen.
»Heute bist du für die Kapelle zuständig«, sagte einer der Zunftmeister zu ihm, als er zum Strand kam. Tags zuvor hatte er beobachtet, wie der Junge schwankend das letzte Bündel ablud.
Arnau nickte. Es machte ihm nichts mehr aus, dass man ihn zur Kapelle schickte. Niemand zweifelte mehr an seinen Fähigkeiten als Bastaix. Die Zunftmeister hatten ihn in die Bruderschaft aufgenommen, und auch wenn er noch nicht so viel tragen konnte wie Ramon und die meisten anderen, so stürzte er sich doch mit Feuereifer auf seine Arbeit, die ihm Freude machte. Alle mochten ihn. Aber diese braunen Augen … Womöglich würden sie ihn daran hindern, sich auf seine Arbeit zu konzentrieren, und außerdem war er müde – er hatte nicht gut geschlafen neben dem Herd. Er betrat Santa María durch das Hauptportal der alten Kirche, das noch stand. Gastó Segura hatte nicht zugelassen, dass er sie ansah. Warum durfte er die Mädchen nicht ansehen? Und heute Morgen hatte er ihnen bestimmt verboten … Er stolperte über eine Schnur und wäre beinahe hingefallen. Er strauchelte noch einige Meter weiter und riss weitere Schnüre mit, bis ihn schließlich ein Paar Hände festhielt. Er verrenkte sich den Knöchel und stieß einen Schmerzensschrei aus.
»He, pass gefälligst auf.«, hörte er den Mann sagen, der ihm geholfen hatte. »Sieh nur, was du angerichtet hast!«
Sein Knöchel schmerzte, aber er schaute zu Boden. Er hatte die Schnüre und Pflöcke umgerissen, mit denen Berenguer de Montagut … Aber das war doch nicht möglich! Arnau drehte sich langsam zu dem Mann um, der ihn aufgefangen hatte. Es konnte doch nicht der Baumeister sein! Er errötete, als er Berenguer de Montagut von Angesicht zu Angesicht gegenüberstand. Dann fiel sein Blick auf die Arbeiter, die in ihrer Beschäftigung innegehalten hatten und zu ihnen hinübersahen.
»Ich … ich …«, stotterte er. »Wenn Ihr wünscht, könnte ich Euch helfen.« Er deutete auf das Knäuel aus Schnüren zu seinen Füßen. »Es tut mir leid, Meister.«
Plötzlich erhellte sich Berenguer de Montaguts Miene. Er hielt ihn noch immer am Arm gepackt.
»Du bist der Bastaix«, stellte er lächelnd fest. Arnau nickte. »Ich habe dich schon ein paar Mal gesehen.«
Berenguers Lächeln wurde breiter. Die Gesellen atmeten erleichtert auf. Arnau blickte erneut auf die Schnüre, die sich um seine Füße geschlungen hatten.
»Es tut mir leid«, wiederholte er.
»Was soll's.« Der Baumeister gab den Gesellen einen Wink. »Bringt das in Ordnung«, wies er sie an. »Komm her, setzen wir uns. Hast du dir wehgetan?«
»Ich wollte Euch nicht verärgern«, sagte Arnau und verzog schmerzlich das Gesicht, nachdem er in die Hocke gegangen war, um sich aus den Schnüren zu befreien.
»Warte.«
Berenguer de Montagut zog ihn hoch und kniete sich dann hin, um die Schnüre zu entwirren. Arnau wagte es nicht, ihn anzusehen, und blickte zu den Gesellen hinüber, die die Szene verblüfft beobachteten. Der Baumeister ging vor einem einfachen Bastaix in die Knie!
»Wir müssen achtsam mit diesen Männern umgehen!«, rief er allen Anwesenden zu, als er Arnaus Füße befreit hatte. »Ohne sie hätten wir keine Steine. Komm mit mir. Setzen wir uns. Tut es weh?«
Arnau schüttelte den Kopf, aber er humpelte. Trotzdem versuchte er, sich nicht auf den Baumeister zu stützen. Berenguer hakte ihn fest unter und führte ihn zu einigen Säulen, die auf dem Boden darauf warteten, aufgerichtet zu werden. Die beiden setzten sich darauf.
»Ich werde dir ein Geheimnis verraten«, sagte der Baumeister, nachdem sie Platz genommen hatten. Arnau sah Berenguer an. Der Baumeister wollte ihm ein Geheimnis verraten! Was würde ihm an diesem Morgen noch alles passieren? »Ich habe neulich versucht, den Stein hochzuheben, den du hierhergetragen hast. Es ist mir nicht gelungen.« Berenguer schüttelte den Kopf. »Dies ist eure Kirche«, erklärte er dann, während er seinen Blick über den Bau wandern ließ. Arnau bekam eine Gänsehaut. »Eines Tages, zu Lebzeiten unserer Enkel, ihrer Kinder oder Kindeskinder, werden die Leute nicht von Berenguer de Montagut sprechen, wenn sie diesen Bau betrachten, sondern von dir, mein Junge.«
Arnau hatte einen Kloß im Hals. Was sagte der Baumeister da? Wie sollte ein Bastaix wichtiger sein als der große Berenguer de Montagut, Baumeister von Santa María und der Kathedrale von Manresa? Er war doch der wichtige Mann hier.
»Tut es weh?«, erkundigte sich der Baumeister noch einmal.
»Nein … doch, ein bisschen. Ich habe mir nur den Knöchel verrenkt.«
»Das hoffe ich.« Berenguer de Montagut klopfte ihm auf den Rücken. »Wir brauchen deine Steine. Es ist noch viel zu tun.«
Gemeinsam mit dem Baumeister betrachtete nun auch Arnau den Bau.
»Gefällt sie dir?«, fragte Berenguer de Montagut unvermittelt.
Ob sie ihm gefiel? Diese Frage hatte er sich nie gestellt. Er sah, wie die Kirche wuchs, ihre Mauern, ihre Apsiden, ihre herrlichen schlanken Säulen, ihre Strebepfeiler, aber … Gefiel sie ihm?
»Es heißt, sie wird die schönste aller Kirchen werden, die je auf der Welt für die Jungfrau errichtet wurde«, sagte er schließlich.
Berenguer sah Arnau an und lächelte. Wie sollte er einem Jungen, einem Bastaix, erklären, wie diese Kirche aussehen sollte, wenn nicht einmal Bischöfe und Adlige imstande waren, die Größe seines Projekts zu erahnen?
»Wie heißt du?«
»Arnau.«
»Nun gut, Arnau, ich weiß nicht, ob es die schönste Kirche der Welt wird.« Arnau vergaß seinen Fuß und sah den Baumeister an. »Aber ich versichere dir, dass sie einzigartig sein wird, und einzigartig bedeutet weder besser noch schlechter, sondern einfach nur das: einzigartig.«
Berenguer de Montagut ließ seinen Blick über den Bau schweifen, dann sprach er weiter: »Hast du schon einmal von Frankreich oder der Lombardei gehört, von Genua, Pisa, Florenz?« Arnau nickte. Natürlich hatte er von den Feinden seines Landes gehört. »Nun, an all diesen Orten werden ebenfalls Kirchen erbaut. Es sind große Kathedralen, prächtig und über und über mit Schmuckelementen verziert. Die Herrschenden dieser Orte wollen, dass ihre Kirchen die größten und schönsten auf der ganzen Welt sind.«
»Wollen wir das denn nicht?«
»Ja und nein.« Berenguer de Montagut sah ihn an und lächelte. »Wir wollen, dass dies die schönste Kirche der Menschheitsgeschichte wird. Doch das wollen wir mit anderen Mitteln erreichen als die anderen. Wir wollen, dass das Haus der Schutzpatronin des Meeres das Haus aller Katalanen ist, im selben Geist ersonnen und erbaut, der uns zu dem gemacht hat, was wir sind, indem wir auf unsere ureigenen Elemente zurückgreifen: das Meer und das Licht. Begreifst du?«
Arnau dachte einige Sekunden nach. Dann schüttelte er den Kopf.
»Wenigstens bist du ehrlich«, lachte der Baumeister. »Die Herrschenden handeln zu ihrem eigenen, persönlichen Ruhm. Anders hingegen wir. Ich habe gesehen, dass ihr eure Lasten manchmal zu zweit mithilfe einer Stange tragt statt auf dem Rücken.«
»Ja, wenn sie zu groß sind, um sie auf dem Rücken zu tragen.«
»Was würde geschehen, wenn wir die Länge der Stange verdoppelten?«
»Sie würde zerbrechen.«
»Nun, genauso ist es mit den Kirchen der Herrschenden … Nein, ich will damit nicht sagen, dass sie einstürzen«, erklärte er angesichts der erschreckten Miene des Jungen. »Aber weil sie so groß, so hoch und so lang sein sollen, muss man sie sehr schmal bauen. Hoch, lang und schmal, verstehst du?« Diesmal nickte Arnau. »Unsere wird das genaue Gegenteil sein. Sie wird weder so lang werden noch so hoch, dafür aber sehr breit, damit alle Katalanen hineinpassen, vor ihrer Jungfrau vereint. Wenn sie eines Tages fertig ist, wirst du es sehen. Es wird Raum für alle Gläubigen da sein, ohne Unterschiede, und der einzige Schmuck wird das Licht sein, das Licht des Mittelmeeres. Mehr Schmuck brauchen wir nicht. Nur den Raum und das Licht, das dort hineinfallen wird.« Berenguer de Montagut deutete auf das Gewölbe und beschrieb eine Handbewegung bis zum Boden. Arnau folgte seiner Hand mit dem Blick. »Diese Kirche wird für das Volk erbaut werden, nicht zum höheren Ruhme eines Fürsten.«
»Meister …« Einer der Gesellen war zu ihnen getreten. Die Pflöcke und Schnüre waren wieder in Ordnung gebracht.
»Begreifst du nun?«
Eine Kirche für das Volk!
»Ja, Meister.«
»Deine Steine sind Gold wert für diese Kirche, denk daran«, setzte Montagut hinzu und stand auf. »Tut es noch weh?«
Arnau hatte den Knöchel völlig vergessen und schüttelte den Kopf.
Weil er von der Arbeit als Bastaix freigestellt war, kehrte Arnau an diesem Tag früher nach Hause zurück. Er fegte rasch die Kapelle, putzte die Kerzen, ersetzte die bereits heruntergebrannten und verabschiedete sich nach einem kurzen Gebet von der Jungfrau. Pater Albert sah, wie er in aller Eile die Kirche Santa María verließ, und genauso eilig sah ihn Mariona ins Haus stürzen.
»Was ist los?«, fragte ihn die alte Frau. »Was machst du so früh hier?«
Arnau blickte sich in dem Raum um. Dort saßen sie, Mutter und Töchter, am Tisch und nähten. Die drei sahen ihn an.
»Arnau«, fragte Mariona erneut, »ist etwas?«
Arnau merkte, dass er errötete.
»Nein, nein …«
Er hatte sich keine Ausrede ausgedacht! Wie hatte er nur so dumm sein können! Und sie sahen ihn an. Alle sahen ihn an, wie er dort keuchend an der Tür stand.
»Nein, nein …«, wiederholte er. »Es ist nur … Ich habe heute früher Schluss gemacht.«
Mariona lächelte und warf einen vielsagenden Blick auf die Mädchen. Auch Eulàlia, die Mutter, konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen.
»Nun, wenn du schon einmal früher freihast«, riss Mariona ihn aus seinen Gedanken, »kannst du Wasser für mich holen gehen.«
Sie hatte ihn wieder angesehen, dachte der Junge, als er mit dem Eimer zum Angel-Brunnen ging. Wollte sie ihm etwas sagen? Arnau schwenkte den Eimer hin und her. Ganz bestimmt wollte sie das.
Doch er hatte keine Gelegenheit, es herauszufinden. Wenn Eulàlia nicht da war, sah er sich Gastós schwarzen Zahnstummeln gegenüber – den wenigen, die ihm geblieben waren. Und wenn keiner von beiden zu sehen war, hatte Simò ein wachsames Auge auf die Mädchen. Tagelang musste sich Arnau damit begnügen, sie verstohlen zu beobachten. Hin und wieder gelang es ihm, einen raschen Blick auf ihre fein gezeichneten Gesichter zu erhaschen, das wohlgeformte Kinn, die vorstehenden Wangenknochen, die gerade, zierliche italische Nase, die weißen, ebenmäßigen Zähne und diese beeindruckenden braunen Augen. Manchmal, wenn die Sonne in Peres Haus fiel, konnte Arnau beinahe den bläulichen Schimmer ihres langen, seidigen, rabenschwarzen Haars spüren. Und ganz selten, wenn er sich unbeobachtet fühlte, wanderte sein Blick an Aledis' Hals hinab bis dorthin, wo die Brüste der älteren der beiden Schwestern zu erahnen waren, trotz des groben Kittels, den sie trug. Dann durchfuhr ein unbekannter Schauder seinen ganzen Körper, und wenn niemand hinschaute, ließ er seinen Blick noch weiter hinabgleiten, um sich an den Rundungen des Mädchens zu ergötzen.
Gastó Segura hatte während der Hungersnot alles verloren, was er besaß, und dieses Schicksal hatte ihn, der schon vorher ein schroffes Wesen besaß, noch verbitterter gemacht. Sein Sohn Simò arbeitete als Gerberlehrling mit ihm zusammen. Seine große Sorge waren diese beiden Mädchen, denen er keine Mitgift geben konnte, damit sie einen guten Ehemann fanden. Doch die Mädchen waren von einer außergewöhnlichen Schönheit, und Gastó vertraute darauf, dass sie einen anständigen Mann fanden. Dann hätte er zwei Mäuler weniger zu stopfen.
Dazu, so dachte der Mann, mussten die Mädchen ihre Unschuld bewahren. Niemand in Barcelona durfte auch nur den geringsten Zweifel an ihrem Anstand hegen. Nur so, schärfte er Eulàlia und Simò immer wieder ein, würden Alesta und Aledis einen guten Ehemann finden. Die drei – Vater, Mutter und älterer Bruder – hatten dieses Ziel zu ihrem eigenen gemacht. Doch während Gastó und Eulàlia fest darauf vertrauten, dass es ein Leichtes sein würde, dieses Ziel zu erreichen, sah das bei Simò anders aus, je länger sie mit Arnau und Joan unter einem Dach lebten.
Joan hatte sich zum begabtesten Schüler der Domschule entwickelt. Schon nach kurzer Zeit beherrschte er das Lateinische, und seine Lehrer lobten diesen ruhigen, besonnenen, nachdenklichen und vor allem gläubigen Schüler in den höchsten Tönen. Bei seinen ganzen Vorzügen zweifelten nur wenige daran, dass ihm eine große Zukunft innerhalb der Kirche bevorstand. Joan gelang es, die Achtung von Gastó und Eulàlia zu gewinnen, die oft gemeinsam mit Pere und Mariona aufmerksam und hingerissen den Ausführungen des Jungen über die Heiligen Schriften folgten. Nur die Priester konnten diese lateinischen Bücher lesen, und nun saßen die vier in einem bescheidenen Häuschen am Strand und konnten den heiligen Worten, den alten Geschichten und den Botschaften des Herrn lauschen, die sie zuvor nur von den Kanzeln herab gehört hatten.
Doch wenn Joan die Achtung seiner Mitbewohner gewonnen hatte, so stand ihm Arnau in nichts nach. Selbst Simò betrachtete ihn mit Neid. Ein Bastaix! Nur wenige im Ribera-Viertel wussten nicht, dass Arnau im Schweiße seines Angesichts Steine für die Jungfrau heranschleppte. »Angeblich hat der große Berenguer de Montagut vor ihm niedergekniet, um ihm zu helfen«, hatte ihm ein anderer Lehrling in der Gerberwerkstatt erzählt. Simò stellte sich vor, wie der große, von Adligen und Bischöfen geachtete Baumeister zu Arnaus Füßen niederkniete. Wenn der Baumeister etwas sagte, verstummten alle, sogar sein Vater. Und wenn er brüllte, dann zitterten sie. Simò beobachtete Arnau, wenn dieser abends nach Hause kam. Er war müde und verschwitzt, in der Hand die Capçana … und doch lächelte er! Wann hatte er selbst einmal gelächelt, wenn er von der Arbeit kam? Einmal war er Arnau begegnet, als dieser Steine nach Santa María schleppte. Seine Beine, die Arme, die Brust – alles schien aus Eisen zu sein. Simò betrachtete den Stein und dann Arnaus verzerrtes Gesicht. Hatte er da ein Lächeln gesehen?
So kam es, dass sich Simò sehr zurückhielt, wenn Arnau oder Joan kamen, obwohl er älter war als die beiden und eigentlich auf seine Schwestern aufpassen sollte. Die beiden Mädchen genossen die Freiheit, die ihnen verwehrt blieb, wenn ihre Eltern da waren.
»Machen wir einen Spaziergang am Strand!«, schlug Alesta eines Tages vor.
Simò wollte sich weigern. Am Strand spazieren gehen … Wenn sein Vater sie sah!
»Einverstanden«, sagte Arnau.
»Es wird uns guttun«, pflichtete Joan bei.
Simò schwieg. Zu fünft gingen sie hinaus in die Sonne, Aledis neben Arnau, Alesta neben Joan, Simò als Letzter hinterdrein. Die Mädchen ließen ihre Haare im Wind flattern, der ihre weiten Kittel fest gegen ihre Körper presste, sodass sich die Brüste durch den Stoff abzeichneten.
Schweigend blickten sie aufs Meer hinaus oder gruben ihre Füße in den Sand, bis sie auf eine Gruppe untätiger Bastaixos trafen. Arnau winkte ihnen zu.
»Soll ich sie dir vorstellen?«, fragte er Aledis.
Das Mädchen sah zu den Männern herüber. Alle starrten sie an. Warum glotzten sie so? Mein Gott, sie schienen durch den Stoff ihres Kittels hindurchzusehen! Das Mädchen errötete und schüttelte den Kopf, doch Arnau ging bereits zu ihnen. Aledis kehrte um und Arnau blieb auf halbem Wege stehen.
»Lauf ihr hinterher, Arnau«, hörte er einen seiner Zunftbrüder rufen.
»Lass sie nicht entwischen«, riet ihm ein Zweiter.
»Sie ist wirklich hübsch!«, urteilte ein Dritter.
Arnau beschleunigte seine Schritte, bis er Aledis eingeholt hatte.
»Was hast du denn?«
Das Mädchen gab keine Antwort. Sie wandte ihr Gesicht ab und hatte die Arme vor der Brust verschränkt, aber sie ging nicht nach Hause. So liefen sie nebeneinanderher, nur begleitet vom Rauschen der Wellen.