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Ende März 1348


Barcelona


Im Morgengrauen warteten Arnau und die anderen Bastaixos am Strand darauf, eine mallorquinische Galeere zu entladen, die in der Nacht in den Hafen eingelaufen war. Die Zunftmeister teilten ihre Leute ein. Das Meer war ruhig, die Wellen rollten sanft ans Ufer und mahnten die Barcelonesen, ihren Tag zu beginnen. Die Sonnenstrahlen flimmerten auf dem gekräuselten Wasser, und während die Bastaixos darauf warteten, dass die Hafenschiffer die Waren an Land brachten, ließen sie sich vom Zauber des Augenblicks verführen, blickten versonnen zum Horizont und schaukelten sich in Gedanken in den Wellen.

»Merkwürdig«, sagte einer aus der Gruppe nach einer Weile. »Sie beginnen gar nicht mit dem Entladen.«

Alle blickten zu der Galeere. Die Hafenschiffer waren zu dem Schiff hinausgerudert. Nun kehrten einige von ihnen leer zum Strand zurück, andere riefen etwas zu den Matrosen an Deck hinüber, von denen einige ins Wasser sprangen und sich an die Boote klammerten. Doch niemand lud die Waren von der Galeere.

»Die Pest!« Die Rufe der ersten Hafenschiffer waren bereits am Strand zu hören, lange bevor die Boote anlegten. »Die Pest hat Mallorca erreicht!«

Arnau durchfuhr ein Schauder. War es möglich, dass dieses herrliche Meer ihnen eine solche Nachricht brachte? An einem grauen, stürmischen Tag vielleicht … Doch dieser Morgen schien verzaubert zu sein. Seit Monaten war die Pest Gesprächsthema in Barcelona: Sie wütete im fernen Orient, hatte sich dann nach Westen ausgebreitet und entvölkerte ganze Landstriche.

»Vielleicht kommt sie nicht bis Barcelona«, sagten einige. »Sie muss das gesamte Mittelmeer überqueren.«

»Das Meer wird uns schützen«, pflichteten andere bei.

Monatelang wollte das Volk einfach glauben, dass die Pest nicht bis Barcelona kam.

Mallorca, dachte Arnau. Sie hatte Mallorca erreicht. Die Seuche hatte Tausende von Meilen über das Mittelmeer zurückgelegt.

»Die Pest!«, riefen die Hafenschiffer erneut, als sie am Ufer waren.

Die Bastaixos umringten sie, um zu hören, welche Nachrichten sie brachten. In einem der Boote saß der Kapitän der Galeere.

»Bringt mich zum Stadtrichter und den Ratsherren der Stadt«, befahl er, nachdem er an Land gesprungen war. »Rasch!«

Die Zunftmeister folgten seiner Aufforderung. Die übrigen belagerten die Bootsleute.

»Sie sterben zu Hunderten«, erzählten sie, »es ist furchtbar. Man kann nichts dagegen tun. Kinder, Frauen, Männer, Reiche und Arme, Adlige und einfache Leute … Sogar die Tiere fallen der Plage zum Opfer. Die Leichen häufen sich in den Straßen und verwesen, und die Obrigkeit weiß nicht, was sie tun soll. Die Leute sterben binnen zwei Tagen unter entsetzlichen Schmerzensschreien.«

Einige Bastaixos liefen in Richtung Stadt, um aufgeregt die schlechten Neuigkeiten zu verkünden. Arnau hörte ängstlich zu. Es hieß, bei den Pestkranken bildeten sich große Eiterbeulen am Hals, in den Achselhöhlen und an den Leisten, die immer größer würden, bis sie schließlich aufbrachen.

Die Nachricht verbreitete sich in der Stadt, und viele gesellten sich zu der Gruppe am Strand, um eine Weile zuzuhören und dann wieder nach Hause zu laufen.

Ganz Barcelona war voller Gerüchte. »Wenn sich die Beulen öffnen, springen Dämonen heraus. Die Pestkranken werden verrückt und beißen die Leute. So überträgt sich die Krankheit weiter. Die Augen quellen hervor und die Genitalien schwellen an. Wenn jemand die Beulen ansieht, steckt er sich an. Man muss sie verbrennen, bevor sie sterben, sonst überträgt sich die Krankheit weiter. Ich habe die Pest gesehen!« Jeder, der eine Unterhaltung mit diesen Worten begann, stand augenblicklich im Zentrum der Aufmerksamkeit und wurde von Leuten umringt, die seine Geschichte hören wollten. Die Angst und die Phantasie so mancher, die nicht wussten, was sie erwartete, machten alles noch schlimmer. Die einzige Vorsichtsmaßnahme der Stadt bestand darin, äußerste Hygiene anzuordnen, und die Menschen strömten in Scharen in die öffentlichen Bäder … und in die Kirchen. Messen, Bittgebete, Prozessionen – das alles genügte nicht, um die Gefahr zu bannen, die über der gräflichen Stadt schwebte. Nach einem Monat voller Angst hatte die Pest Barcelona erreicht.

Das erste Opfer war ein Kalfaterer, der in der Werft arbeitete. Die Ärzte kamen, konnten jedoch nichts weiter tun, als bestätigt zu sehen, was sie in Büchern und Traktaten gelesen hatten.

»Sie sind von der Größe kleiner Mandarinen«, sagte einer und deutete auf die großen Beulen am Hals des Mannes.

»Schwarz, hart und heiß«, ergänzte ein anderer, nachdem er sie betastet hatte.

»Kalte Umschläge gegen das Fieber.«

»Man muss ihn zur Ader lassen. Durch einen Aderlass werden die blutunterlaufenen Stellen rund um die Beulen verschwinden.«

»Man muss die Beulen aufschneiden«, riet ein Dritter.

Die übrigen Ärzte ließen von dem Kranken ab und sahen den Sprecher an.

»Die Bücher sagen, man dürfe sie nicht aufschneiden«, widersprach einer.

»Wenigstens ist es nur ein Kalfaterer«, sagte ein anderer. »Untersuchen wir die Achselhöhlen und die Leisten.«

Auch dort befanden sich große, schwarze, heiße Beulen. Unter Schmerzensschreien wurde der Kranke zur Ader gelassen, und das wenige Leben, das noch in ihm war, entwich durch die Schnitte, die die Ärzte an seinem Körper anbrachten.

Noch am selben Tag tauchten weitere Fälle auf. Am nächsten Tag waren es mehr, und am übernächsten noch mehr. Die Barcelonesen schlossen sich in ihren Häusern ein, wo so mancher unter entsetzlichen Qualen starb. Andere brachte man aus Angst vor Ansteckung auf die Straße, wo sie im Todeskampf lagen, bis sie schließlich starben. Die Behörden ordneten an, die Türen der Häuser, in denen ein Pestfall aufgetreten war, mit einem Kreidekreuz zu kennzeichnen. Sie riefen zur Körperpflege auf, warnten vor Kontakt mit den Pestkranken und befahlen, die Toten auf großen Scheiterhaufen zu verbrennen. Die Menschen schrubbten sich schier die Haut vom Leibe, und wer konnte, hielt sich von den Kranken fern. Doch niemand machte dasselbe mit den Flöhen, und zur Bestürzung der Ärzte und Behörden breitete sich die Krankheit immer weiter aus, ohne dass man sagen konnte, wie sie das schaffte.

Die Wochen vergingen, und wie so viele gingen Arnau und Maria täglich nach Santa María, um inständige Gebete gen Himmel zu schicken, die dieser nicht erhörte. Um sie herum raffte die Epidemie liebe Freunde dahin, so etwa den guten Pater Albert. Die Pest machte auch vor dem alten Pere und seiner Frau Mariona nicht halt, die schon bald an der tödlichen Seuche starben. Der Bischof organisierte eine Bittprozession, die einmal um die gesamte Stadt ziehen sollte. Von der Kathedrale würde man zunächst durch die Calle de la Mar bis nach Santa María ziehen, wo sich der Baldachin mit der Schutzpatronin des Meeres der Prozession anschließen sollte, bevor diese ihren vorgesehenen Weg fortsetzte.

Das Gnadenbild der Jungfrau wartete auf dem Platz vor der Kirche Santa María. Daneben standen die Bastaixos, die sie tragen würden. Die Männer sahen einander an, während sie sich fragten, wo die fehlenden Bastaixos sein mochten. Keiner sprach ein Wort. Stumm pressten sie die Lippen aufeinander und sahen zu Boden. Arnau erinnerte sich, wie sie bei großen Prozessionen darum gestritten hatten, ihre Schutzpatronin zu tragen. Die Zunftmeister mussten Ordnung schaffen und dafür sorgen, dass alle einmal an die Reihe kamen, und nun … Nun waren sie nicht einmal genug, um sich abzuwechseln. Wie viele mochten gestorben sein? Wie lange sollte das noch weitergehen, Heilige Jungfrau Maria? Die gemurmelten Gebete des Volkes näherten sich durch die Calle de la Mar. Arnau betrachtete die Spitze der Prozession. Die Menschen hatten die Köpfe gesenkt und gingen schleppend. Wo waren die Adligen, die sonst immer mit Pomp und Prunk neben dem Bischof zogen? Vier der fünf Ratsherren der Stadt waren gestorben und drei Viertel der Mitglieder des Rats der Hundert hatte dasselbe Schicksal ereilt. Die Übrigen hatten die Stadt verlassen. Die Bastaixos hoben schweigend ihre Schutzpatronin auf ihre Schultern, ließen den Bischof vorüberziehen und schlossen sich dann der Prozession und den Bittgebeten an. Von Santa María zogen sie über die Plaza del Born zum Kloster Santa Clara. Dort schlug ihnen trotz des Weihrauchs der Priester der Gestank von verbranntem Fleisch entgegen. Bei vielen gingen die Gebete in Schluchzen über. Auf Höhe des Danielstors wandten sie sich nach links zum Portal Nou und dem Kloster Sant Pere de les Puelles. Sie wichen dem einen oder anderen Leichnam aus und vermieden es, die Pestkranken anzusehen, die an den Straßenecken oder vor den mit einem weißen Kreuz gekennzeichneten Türen, die sich nie mehr für sie öffnen würden, auf den Tod warteten. »Heilige Jungfrau«, dachte Arnau, das Tragegestell auf den Schultern, »weshalb so viel Leid?« Von Sant Pere gingen sie betend bis zum Stadttor Santa Anna, von dort nach links in Richtung Meer bis zum Viertel Forn dels Arcs, um schließlich zur Kathedrale zurückzukehren.

Aber das Volk begann, an der Wirksamkeit der Kirche und ihrer Vertreter zu zweifeln. Da beteten sie bis zur Erschöpfung, und die Pest wütete noch immer.

»Sie sagen, dies sei das Ende der Welt«, erzählte Arnau eines Tages, als er nach Hause kam. »Ganz Barcelona ist verrückt geworden. Flagellanten nennen sie sich.«

Maria stand mit dem Rücken zu ihm. Arnau setzte sich und wartete, dass seine Frau ihm die Schuhe auszog. Unterdessen erzählte er weiter.

»Sie ziehen zu Hunderten mit nacktem Oberkörper durch die Straßen, verkünden, der Tag des Jüngsten Gerichts sei nahe, schreien ihre Sünden in die Welt hinaus und geißeln sich mit Peitschen. Einige haben nur noch rohes Fleisch am Rücken und machen trotzdem weiter …«

Arnau streichelte Maria, die nun vor ihm kniete, über den Kopf. Was war das? Er hob ihr Kinn an. Es konnte nicht sein. Nicht sie. Maria sah mit glasigen Augen zu ihm auf. Sie schwitzte, ihr Gesicht war schmerzverzerrt. Arnau versuchte, ihren Kopf noch weiter anzuheben, um den Hals zu sehen, doch sie zuckte vor Schmerz zusammen.

»Nicht du!«, schrie Arnau.

Maria kniete vor ihm, die Hände auf den Strohsandalen ihres Mannes, und sah Arnau an, während die Tränen über ihre Wangen zu rollen begannen.

»Mein Gott, nicht du. Mein Gott!« Arnau kniete sich neben sie.

»Geh, Arnau«, stammelte Maria. »Bleib nicht bei mir.«

Arnau wollte sie umarmen, doch als er sie an den Schultern fasste, verzog sie erneut das Gesicht vor Schmerzen.

»Komm«, sagte er, während er sie so sanft wie möglich hochzog. Erneut bat ihn Maria schluchzend zu gehen. »Wie könnte ich dich alleine lassen? Du bist alles, was ich habe … alles! Was soll ich ohne dich machen? Einige werden gesund, Maria. Du wirst wieder gesund! Du wirst wieder gesund!«

Während er versuchte, ihr Trost zuzusprechen, brachte er sie zur Schlafkammer und legte sie aufs Bett. Jetzt konnte er ihren Hals sehen, der immer so schön gewesen war und sich nun schwarz zu verfärben begann.

»Einen Arzt!«, schrie er aus dem Fenster.

Niemand schien ihn zu hören. Doch noch in derselben Nacht, als sich die Beulen an Marias Hals zu bilden begannen, malte jemand ein Kreidekreuz an ihre Tür.

Arnau konnte nichts weiter tun, als Marias Stirn mit feuchten Tüchern zu kühlen. Die Frau lag auf dem Bett und zitterte. Jede Bewegung verursachte ihr furchtbare Schmerzen und ihr leises Stöhnen richtete Arnaus Nackenhaare auf. Maria starrte mit leerem Blick an die Decke. Arnau sah, wie die Beulen am Hals wuchsen und ihre Haut sich schwarz färbte. »Ich liebe dich, Maria. So oft schon hätte ich dir das gerne gesagt.« Er nahm ihre Hand und kniete neben dem Bett nieder. So verbrachte er die Nacht, die Hand seiner Frau umklammernd, während er mit ihr zitterte und schwitzte und bei jedem Krampf, der Maria schüttelte, zum Himmel flehte.


Er hüllte sie in das beste Leintuch, das sie besaßen, und wartete, dass der Leichenkarren vorbeikam. Er wollte sie nicht auf der Straße ablegen, sondern sie den Totengräbern selbst übergeben. Als er das müde Trappeln der Pferdehufe hörte, nahm er Marias Leichnam und trug ihn nach unten auf die Straße.

»Leb wohl«, sagte er und küsste sie auf die Stirn.

Die beiden Totengräber, die Handschuhe trugen und ihre Gesichter mit dicken Tüchern verhüllt hatten, sahen überrascht zu, wie Arnau das Leintuch von Marias Gesicht zurückschlug und sie küsste. Niemand wollte den Pesttoten nahekommen, nicht einmal ihre liebsten Angehörigen. Sie ließen sie einfach auf der Straße liegen oder riefen bestenfalls die Totengräber, damit diese sie abholten. Arnau übergab seine Frau den Männern, die beeindruckt versuchten, sie vorsichtig zu den Dutzenden von Leichen zu legen, die sie transportierten.

Mit Tränen in den Augen sah Arnau dem Karren hinterher, bis er in den Straßen Barcelonas verschwand. Er würde der Nächste sein. Er ging ins Haus und setzte sich hin, um auf den Tod zu warten, voller Sehnsucht, wieder mit Maria vereint zu sein. Drei ganze Tage wartete Arnau darauf, dass die Pest bei ihm ausbrach, während er ständig seinen Hals betastete, um nach einer Schwellung zu suchen. Die Beulen kamen nicht, und Arnau begann zu begreifen, dass der Herr ihn fürs Erste verschont hatte.

Arnau ging am Strand entlang und watete durch die Wellen, die sich am Ufer der verfluchten Stadt brachen. Er streifte durch Barcelona, ohne Augen für das Elend und die Kranken zu haben oder das Stöhnen wahrzunehmen, das aus den Fenstern der Häuser drang. Etwas trieb ihn nach Santa María. Die Bauarbeiten waren eingestellt worden, die Gerüste waren verwaist, Steine lagen herum und warteten darauf, dass sie jemand bearbeitete. Doch die Menschen strömten nach wie vor in die Kirche. Er ging hinein. Die Gläubigen standen oder knieten rund um den unvollendeten Hauptaltar und beteten. Obwohl der Bau durch die noch nicht fertiggestellten Apsiden nach wie vor nach oben offen war, war die Luft geschwängert von Weihrauch, der verbrannt wurde, um den Geruch des Todes zu überdecken, der die Menschen begleitete. Als er gerade zu seiner Jungfrau gehen wollte, richtete ein Priester vom Hauptaltar aus das Wort an die Gläubigen.

»Unser Papst Clemens VI. hat eine Bulle erlassen, welche die Juden davon freispricht, die Pest verursacht zu haben. Die Krankheit ist lediglich eine Pestilenz, mit der Gott das christliche Volk prüft.« Ein missbilligendes Murren ging durch die Versammelten. »Betet«, fuhr der Priester fort, »und empfehlt eure Seelen dem Herrn.«

Viele verließen lautstark diskutierend die Kirche.

Arnau achtete nicht länger auf die Predigt und ging zur Sakramentskapelle. Die Juden? Was hatten die Juden mit der Pest zu tun? Die kleine Marienstatue erwartete ihn am selben Platz wie immer. Die Kerzen der Bastaixos spendeten ihr Licht. Wer mochte sie entzündet haben? Trotzdem konnte Arnau seine Mutter kaum erkennen. Sie war von einer dichten Weihrauchwolke eingehüllt. Er sah ihr Lächeln nicht. Arnau wollte beten, aber es gelang ihm nicht. »Weshalb hast du das zugelassen, Mutter?« Bei dem Gedanken an Maria, ihr Leiden, ihren dem Schmerz ausgelieferten Körper, die Beulen, von denen sie gequält wurde, rollten ihm erneut die Tränen über die Wangen. Es war eine Strafe, doch eigentlich war er es, der diese Strafe verdient hatte. Er hatte gesündigt, indem er mit Aledis untreu gewesen war.


»Fehlt dir etwas, mein Sohn?«, hörte er jemanden hinter sich fragen. Arnau drehte sich um und stand vor dem Priester, der gerade eben noch zu den Gläubigen gesprochen hatte.

»Ach, Arnau«, sagte dieser, nachdem er in ihm einen der Bastaixos erkannt hatte, die so eifrig am Bau von Santa María mitwirkten. »Fehlt dir etwas?«, erkundigte er sich noch einmal.

»Maria.«

Der Priester nickte.

»Wir wollen für sie beten«, forderte er ihn auf.

»Nein, Pater«, widersetzte sich Arnau. »Noch nicht.«

»Nur in Gott wirst du Trost finden, Arnau.«

Trost? Wie sollte er irgendwo Trost finden? Arnau versuchte, seine Jungfrau zu erkennen, doch der Weihrauch hinderte ihn auch diesmal daran.

»Wir wollen beten …«, beharrte der Pfarrer.

»Was hat das mit den Juden zu bedeuten?«, unterbrach ihn Arnau auf der Suche nach einer Ausflucht.

»Ganz Europa glaubt, die Juden seien schuld an der Pest.« Arnau sah den Priester fragend an. »Angeblich haben im Schloss Chillon bei Genf einige Juden gestanden. Die Seuche sei von einem Juden aus Savoyen verbreitet worden, der mit einer von den Rabbinern zubereiteten Substanz die Brunnen vergiftete.«

»Und stimmt das?«, fragte Arnau.

»Nein. Der Papst hat sie von jeder Schuld freigesprochen, doch die Leute suchen nach Sündenböcken. Wollen wir nun beten?«

»Betet Ihr für mich, Pater.«

Arnau verließ Santa María. Auf dem Vorplatz war er plötzlich von einer Gruppe von etwa zwanzig Flagellanten umringt. »Übe Reue!«, riefen sie, während sie unablässig ihre Rücken geißelten. »Das Ende der Welt ist gekommen!«, schrien andere, ihm die Worte ins Gesicht speiend. Arnau sah, wie ihnen das Blut über die wunden Rücken rann und an ihren nackten Beinen herabsickerte. Um die Hüften trugen sie Bußgürtel. Er betrachtete ihre Gesichter und die weit aufgerissenen Augen, die ihn anstarrten. Er lief in Richtung Calle de Monteada davon, bis die Schreie verhallten. Hier war es still, aber … die Türen! Nur an wenigen der großen Portale zu den Stadtpalästen in der Calle Monteada war das weiße Kreuz zu sehen, das wie ein Kainsmal die meisten Türen der Stadt zeichnete. Arnau stand vor dem Palast der Puigs. Auch dort befand sich kein weißes Kreuz. Die Fenster waren verschlossen und in dem Gebäude regte sich nichts. Er wünschte, die Pest möge sie dort einholen, wohin sie sich geflüchtet hatten, damit sie genauso litten, wie Maria gelitten hatte. Arnau suchte noch schneller das Weite als vor den Flagellanten.

Als er die Stelle erreichte, wo die Calle Monteada auf die Calle Carders stieß, begegnete Arnau erneut einer aufgeregten Menschenmenge, doch diese war mit Stöcken, Schwertern und Armbrüsten bewaffnet. »Die Leute sind alle verrückt geworden«, dachte Arnau, während er sich von der Menge entfernte. Die Predigten in allen Kirchen der Stadt hatten wenig genützt. Die Bulle Clemens' VI. hatte die Gemüter im Volk nicht besänftigt, das seinen Zorn an jemandem auslassen wollte. »Zum Judenviertel!«, hörte er sie brüllen. »Ketzer! Mörder! Büßen sollt ihr!« Auch die Flagellanten waren dort und wiegelten die Umstehenden auf, während sie sich geißelten, bis das Blut spritzte.

Arnau folgte der Horde gemeinsam mit einer schweigenden Menge, in der er den einen oder anderen Pestkranken sah. Ganz Barcelona strömte zum Judenviertel und umstellte das von Mauern umgebene Barrio. Einige rotteten sich neben dem Bischofspalast zusammen, andere im Westen neben der alten römischen Stadtmauer. Wieder andere versammelten sich in der Calle del Bisbe, die im Osten an das Judenviertel grenzte, die restlichen, darunter auch die Gruppe, der Arnau folgte, trafen sich im Süden in der Calle de la Boquería und vor dem Castell Nou, wo sich der Eingang zum Judenviertel befand. Es herrschte ein ohrenbetäubender Lärm. Das Volk schrie nach Rache, doch für den Augenblick beschränkte es sich darauf, vor den Toren zu brüllen und mit seinen Stöcken und Armbrüsten zu fuchteln.

Arnau gelang es, einen Platz auf der überfüllten Kirchentreppe von Sant Jaume zu ergattern, aus der man ihn und Joanet eines lange zurückliegenden Tages hinausgeworfen hatte, als er auf der Suche nach dieser Jungfrau gewesen war, die er Mutter nennen konnte. Die Kirche Sant Jaume lag genau gegenüber der südlichen Mauer des Judenviertels, und von dort konnte Arnau über die Köpfe der Leute hinweg sehen, was geschah. Ein Kommando königlicher Soldaten unter dem Befehl des Stadtrichters stand bereit, um das Judenviertel zu schützen. Bevor die Menge angriff, näherte sich eine Abordnung von Bürgern der Mauer, um vor dem halb geöffneten Tor des Judenviertels mit dem Stadtrichter darüber zu verhandeln, dass er die Truppen abziehen solle. Die Flagellanten schrien und sprangen um die Gruppe herum, und der Mob stieß weiterhin Drohungen gegen die Juden aus, von denen nichts zu sehen war.

»Sie werden nicht abziehen«, hörte Arnau eine Frau sagen.

»Die Juden sind Eigentum des Königs, sie hängen einzig und allein vom König ab«, pflichtete ein anderer bei. »Wenn die Juden sterben, verliert der König alle Steuern, die er von ihnen einholt …«

»Und alle Darlehen, die er bei diesen Wucherern aufnimmt.«

»Und nicht nur das«, mischte sich ein Dritter ein. »Wenn das Judenviertel geschleift wird, verliert der König auch die Möbel, die die Juden ihm und seinem Hofstaat überlassen, wenn er nach Barcelona kommt.«

»Da werden die Adligen halt auf dem Boden schlafen müssen«, war irgendwo unter lautem Gelächter zu vernehmen.

Arnau konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen.

»Der Stadtrichter wird die Interessen des Königs verteidigen«, sagte die Frau.

Und so war es. Der Stadtrichter gab nicht nach. Als die Unterredung beendet war, zog er sich rasch ins Judenviertel zurück. Das war das Zeichen, auf das die Leute gewartet hatten. Noch bevor das Tor verschlossen war, stürzten die ersten zur Mauer, während sich ein Hagel aus Stöcken, Pfeilen und Steinen über die Mauern des Judenviertels ergoss. Der Überfall hatte begonnen.

Arnau sah, wie eine Meute blindwütiger Bürger in wilder Unordnung gegen die Tore und Mauern des Judenviertels anrannte. Was einem Befehl am nächsten kam, waren die Schreie der Flagellanten, die sich vor den Mauern geißelten und die Menschen anstachelten, diese zu stürmen und die Ketzer zu töten. Viele fielen unter den Schwerthieben der königlichen Soldaten, als sie die Mauern erklommen hatten, doch das Judenviertel wurde von allen vier Seiten heftig bestürmt, und anderen gelang es, die Soldaten zu überrennen und den Juden gegenüberzutreten.

Arnau blieb zwei Stunden auf der Kirchentreppe von Sant Jaume stehen. Die Schlachtrufe der Kämpfenden erinnerten ihn an seine Zeit als Soldat, an Bellaguarda und Chateau-Roussillon. Die Gesichter der Gefallenen verschwammen mit den Gesichtszügen der Männer, denen er damals den Tod gebracht hatte. Der Geruch des Blutes versetzte ihn zurück nach Roussillon, erinnerte ihn an die Lüge, die ihn in diesen absurden Krieg geführt hatte, an Aledis und Maria … Er verließ den Aussichtsposten, von dem aus er das Gemetzel verfolgt hatte.

Er ging in Richtung Meer, während er an Maria dachte und an die Umstände, die ihn dazu gebracht hatten, sein Heil im Krieg zu suchen. Doch auf der Höhe des Castell de Regomir, der Bastion in der alten römischen Stadtmauer, wurde er jäh aus seinen Gedanken gerissen, als er ganz in der Nähe Schreie hörte.

»Ketzer!«

»Mörder!«

Arnau sah etwa zwanzig mit Stöcken und Messern bewaffnete Männer, die auf der Straße standen und einige Personen beschimpften, die, in die Enge getrieben, an einer der Hauswände standen. Weshalb gaben sie sich nicht damit zufrieden, ihre Toten zu beweinen? Er blieb nicht stehen und zwängte sich durch die aufgebrachte Menge, um seinen Weg fortzusetzen. Während er sich mit den Ellbogen einen Weg bahnte, sah er kurz zu der Stelle, um die sich die Leute drängten. Vor einem der Hauseingänge versuchte ein blutender Maurensklave, mit seinem Körper drei schwarz gekleidete Kinder mit dem gelben Zeichen auf der Brust zu schützen. Plötzlich stand Arnau zwischen dem Mauren und den Angreifern. Das Geschrei verstummte und die Kinder lugten mit angsterfüllten Gesichtern hinter dem Sklaven hervor. Arnau betrachtete sie. Er bedauerte es, Maria keine Kinder geschenkt zu haben. Ein Stein streifte Arnau und flog auf eines der Köpfchen zu. Der Maure warf sich dazwischen. Als der Stein ihn in den Magen traf, krümmte er sich vor Schmerz. Das ängstliche Kindergesicht sah Arnau direkt an. Seine Frau hatte Kinder geliebt. Ihr war es gleichgültig gewesen, ob sie Christen, Mauren oder Juden waren. Sie hatte ihnen sehnsüchtig nachgeblickt, am Strand, in den Straßen … Und dann hatte sie ihn angesehen.

»Weg da! Verschwinde«, hörte Arnau eine Stimme hinter sich sagen.

Arnau blickte in die schreckensweiten Kinderaugen.

»Was habt ihr mit den Kindern vor?«, fragte er.

Mehrere mit Messern bewaffnete Männer bauten sich vor ihm auf.

»Sie sind Juden«, antworteten sie kurz angebunden.

»Und nur deshalb wollt ihr sie umbringen? Habt ihr nicht schon genug mit ihren Eltern?«

»Sie haben die Brunnen vergiftet«, entgegnete einer. »Sie haben Jesus umgebracht. Sie töten christliche Kinder für ihre heidnischen Riten. Ja, wirklich, sie reißen ihnen das Herz heraus … Sie stehlen geweihte Hostien.« Arnau hörte nicht hin. Der Blutgeruch aus dem Judenviertel hing ihm immer noch in der Nase. Es war der Blutgeruch aus Chateau-Roussillon. Er packte den Nächstbesten am Arm und schlug ihm ins Gesicht. Dann zog er sein Messer und drohte den Übrigen damit.

»Niemand wird einem Kind etwas zuleide tun!«

Die Angreifer sahen, mit welcher Entschlossenheit Arnau das Messer umklammerte, wie er es vor ihnen kreisen ließ, wie er sie ansah.

»Niemand wird einem Kind etwas zuleide tun«, wiederholte er. »Geht zum Judenviertel und kämpft gegen die Soldaten, gegen erwachsene Männer.«

»Sie werden Euch umbringen«, hörte er den Mauren, der nun hinter ihm stand, sagen.

»Ketzer!«, schrien sie ihm aus der Menge entgegen.

»Jude!«

Man hatte ihm beigebracht, zuerst anzugreifen, den Feind zu überrumpeln, den Gegner nicht aufkommen zu lassen, ihm Angst einzujagen. Mit dem Ruf »Sant Jordi!« ging Arnau mit dem Messer auf die Umstehenden los. Er stieß dem Ersten die Klinge in den Leib, dann fuhr er herum, sodass diejenigen, die sich auf ihn stürzen wollten, zurückwichen. Der Dolch zerschlitzte mehr als einem die Brust. Am Boden liegend, stieß ihm einer der Angreifer ein Messer in die Wade. Arnau sah ihn an, packte ihn am Schopf, zog seinen Kopf nach hinten und schnitt ihm die Kehle durch. Blut sprudelte aus der Wunde. Drei Männer lagen am Boden, die Übrigen begannen zurückzuweichen. »Flieh, wenn die Lage schlecht für dich steht«, hatte man ihm geraten. Arnau tat so, als wollte er sich erneut auf seine Widersacher stürzen. Die Leute liefen durcheinander, während sie versuchten, sich von ihm zu entfernen. Ohne sich umzudrehen, winkte er den Mauren zu sich heran. Als er die schlotternden Kinder an seinen Beinen spürte, begann er rückwärts in Richtung Meer zu gehen, ohne die Angreifer aus den Augen zu lassen.

»Im Judenviertel wartet man auf euch«, rief er der Menge zu, während er die Kinder vor sich herschob.

Als sie das alte Stadttor am Castell de Regomir erreichten, begannen sie zu laufen. Ohne nähere Erklärungen hinderte Arnau die Kinder daran, zum Judenviertel zurückzukehren.

Wo konnte er die Kinder verstecken? Arnau führte sie zur Kirche Santa María. Vor dem Hauptportal blieb er unvermittelt stehen. Von dort, wo sie standen, konnte man durch die noch nicht fertiggestellten Mauern ins Innere des Baus sehen.

»Ihr … Ihr wollt die Kinder doch nicht etwa in einer christlichen Kirche verstecken?«, fragte ihn der Sklave keuchend.

»Nein«, antwortete Arnau. »Aber ganz in der Nähe.«

»Weshalb habt Ihr uns nicht in unsere Häuser zurückkehren lassen?«, fragte nun das Mädchen, offensichtlich die Älteste der drei, der das Laufen nicht so zugesetzt hatte wie den Übrigen.

Arnau betastete sein Wade. Die Wunde blutete stark.

»Weil eure Häuser von diesen Leuten überfallen werden«, antwortete er. »Sie geben euch die Schuld an der Pest. Sie behaupten, ihr hättet die Brunnen vergiftet.«

Niemand sagte ein Wort.

»Es tut mir leid«, erklärte Arnau.

Der muslimische Sklave fasste sich als Erster.

»Hier können wir nicht bleiben«, sagte er, während er darauf bestand, Arnaus Bein zu untersuchen. »Tut, was Ihr für richtig haltet, aber versteckt die Kinder.«

»Und du?«, wollte Arnau wissen.

»Ich muss herausfinden, was mit ihren Familien passiert ist. Wie kann ich die Kinder wiederfinden?«

»Das kannst du nicht«, entgegnete Arnau, während er dachte, dass er ihm im Augenblick nicht den Zugang zu dem römischen Friedhof zeigen konnte. »Ich werde dich finden. Komm um Mitternacht an den Strand beim neuen Fischmarkt.«

Der Sklave nickte. Als sie bereits auseinandergehen wollten, fügte Arnau hinzu: »Wenn du drei Nächte hintereinander nicht erscheinst, gehe ich davon aus, dass du tot bist.«

Der Maure nickte erneut und sah Arnau aus seinen großen, schwarzen Augen an.

»Danke«, sagte er, bevor er in Richtung Judenviertel davonrannte.

Das kleinste Kind versuchte, dem Mauren hinterherzulaufen, doch Arnau hielt es an den Schultern fest.


In dieser ersten Nacht kam der Maure nicht zum verabredeten Ort. Arnau wartete über eine Stunde auf ihn. Er hörte den fernen Lärm der Unruhen im Judenviertel und sah in den von Bränden rot erleuchteten Nachthimmel. Während er wartete, hatte er Zeit, über die Ereignisse dieses verrückten Tages nachzudenken. Er hatte drei jüdische Kinder in der römischen Begräbnisstätte unter dem Hauptaltar von Santa María, der Kirche seiner Schutzpatronin, versteckt. Der Eingang zu dem Friedhof, den er und Joanet damals entdeckt hatten, war noch genauso wie beim letzten Mal, als sie dort gewesen waren. Die Eingangstreppe in der Calle del Born war immer noch nicht fertiggestellt und das Holzgerüst erleichterte ihnen den Zugang. Doch wegen der Wächter, die fast eine Stunde lang auf der Straße ihre Runde machten, hatten sie still zusammengekauert auf eine Gelegenheit warten müssen, bis sie unter das Gerüst kriechen konnten.

Die Kinder folgten ihm widerspruchslos durch den dunklen Tunnel, bis Arnau ihnen sagte, wo sie sich befanden, und ihnen riet, nichts anzufassen, wenn sie keine unangenehme Überraschung erleben wollten. Daraufhin brachen die drei in bittere Tränen aus. Arnau wusste nicht, wie er auf ihr Schluchzen reagieren sollte. Maria hätte bestimmt gewusst, wie man sie beruhigte.

»Es sind nur Tote«, herrschte er sie an, »und nicht einmal Pesttote. Was ist euch lieber: Hier unten bei den Toten zu sein und zu leben, oder dort draußen, wo man euch umbringt?« Das Weinen verstummte. »Ich werde jetzt gehen, um eine Kerze, Wasser und etwas zu essen zu besorgen. Einverstanden? Einverstanden?«, wiederholte er noch einmal, als sie schwiegen.

»Einverstanden«, hörte er das Mädchen antworten.

»Damit eines klar ist: Ich habe mein Leben für euch aufs Spiel gesetzt und setze es auch jetzt aufs Spiel, falls jemand entdeckt, dass ich drei jüdische Kinder unter der Kirche Santa María versteckt habe. Ich bin nicht bereit, weiterhin mein Leben zu riskieren, wenn ihr bei meiner Rückkehr verschwunden seid. Also, was sagt ihr? Wartet ihr hier auf mich oder wollt ihr wieder hinaus auf die Straße?«

»Wir werden warten«, antwortete das Mädchen entschlossen.

Auf Arnau wartete ein leeres Haus. Er wusch sich und versuchte, sein Bein zu versorgen. Nachdem er die Wunde verbunden hatte, füllte er seinen alten Wasserschlauch, nahm eine Lampe und Öl, um sie zu füllen, einen Laib hartes Brot sowie Dörrfleisch und humpelte nach Santa María zurück.

Die Kinder hatten sich nicht vom Ende des Tunnels wegbewegt, wo er sie zurückgelassen hatte. Arnau entzündete die Lampe und sah drei verschreckte Rehlein, die sein Lächeln nicht erwiderten, mit dem er sie zu beruhigen versuchte. Das Mädchen umarmte die beiden anderen. Die drei hatten dunkle Haut und langes, gepflegtes Haar. Sie sahen gesund aus, mit schneeweißen Zähnen, und sie waren hübsch, insbesondere das Mädchen.

»Seid ihr Geschwister?«, wollte Arnau wissen.

»Wir beide sind Geschwister«, antwortete erneut das Mädchen und deutete auf den Kleinsten. »Er ist ein Nachbarsjunge.«

»Nun, ich finde, nach allem, was geschehen ist und was noch vor uns liegt, sollten wir uns vorstellen. Mein Name ist Arnau.«

Das Mädchen übernahm das Reden: Sie heiße Raquel, ihr Bruder Jucef und ihr Nachbar Saúl. Im Schein der Lampe stellte Arnau ihnen weitere Fragen, während die Kinder sich scheu in der Begräbnisstätte umblickten. Sie waren dreizehn, elf und sechs Jahre alt. Sie waren in Barcelona geboren und lebten mit ihren Eltern im Judenviertel, wohin sie eben zurückgehen wollten, als sie von der aufgebrachten Menge angegriffen wurden, vor der Arnau sie gerettet hatte. Der Sklave, den sie immer Sahat gerufen hatten, gehörte den Eltern von Raquel und Jucef, und wenn er gesagt hatte, dass er zum Strand kam, würde er das auch ganz gewiss tun. Er hatte sie noch nie belogen.

»Also gut«, sagte Arnau nach diesen Erklärungen, »ich denke, es lohnt sich, uns diesen Ort genauer anzusehen. Es ist lange her, seit ich das letzte Mal hier war – ich muss ungefähr in eurem Alter gewesen sein. Obwohl ich nicht glaube, dass sich hier seither jemand von der Stelle gerührt hat.«

Nur er selbst lachte. Auf Knien rutschte er bis zur Mitte der Höhle und hielt die Lampe hoch. Die Kinder blieben, wo sie waren, und betrachteten verängstigt die offenen Gräber und die Skelette. »Ein besseres Versteck ist mir nicht eingefallen«, entschuldigte er sich, als er ihre entsetzten Gesichter sah. »Hier wird euch bestimmt niemand finden, bis sich die Lage wieder beruhigt hat …«

»Und was, wenn sie unsere Eltern umbringen?«, unterbrach ihn Raquel.

»Denk nicht einmal daran. Bestimmt geschieht ihnen nichts. Seht mal hier. Hier ist eine Stelle ohne Gräber, groß genug für uns alle. Los, kommt schon!«

Er musste sie noch mehrmals ermuntern, bis sie schließlich zu ihm kamen und sie sich zu viert in eine kleine Nische zwängten, wo sie auf dem Boden sitzen konnten, ohne ein Grab zu berühren. Die alte römische Begräbnisstätte war noch im selben Zustand wie beim letzten Mal, als Arnau sie gesehen hatte, mit ihren merkwürdigen Ziegelgräbern in Form länglicher Pyramiden und den großen Amphoren mit den Toten darin. Arnau stellte die Lampe auf einer von ihnen ab und bot den Kindern Wasser, Brot und Dörrfleisch an. Die drei tranken gierig, doch vom Essen nahmen sie nur das Brot.

»Es ist nicht koscher«, entschuldigte sich Raquel mit Blick auf das Dörrfleisch.

»Koscher?«

Raquel erklärte ihm, was koscher bedeutete und welche Regeln die Mitglieder der jüdischen Gemeinde befolgen mussten, wenn sie Fleisch essen wollten. So plauderten sie, bis die beiden Jungen erschöpft ihre Köpfe in den Schoß des Mädchens legten. Flüsternd, um sie nicht zu wecken, fragte das Mädchen: »Und du glaubst nicht, was man sagt?«

»Was?«

»Dass wir die Brunnen vergiftet haben.«

Arnau zögerte kurz, bevor er antwortete.

»Sind Juden an der Pest gestorben?«, fragte er.

»Viele.«

»Nein, dann glaube ich es nicht«, erklärte er.

Als Raquel eingeschlafen war, kroch Arnau durch den Tunnel und ging zum Strand.


Die Übergriffe auf das Judenviertel dauerten zwei Tage, in denen die wenigen königlichen Soldaten gemeinsam mit den Mitgliedern der jüdischen Gemeinde versuchten, das Viertel gegen die ständigen Angriffe des blindwütig tobenden Pöbels zu verteidigen, der im Namen der Christenheit die Fahne der Plünderung und der Selbstjustiz hisste. Schließlich entsandte der König ausreichend Truppen, und die Situation begann sich zu entspannen.

In der dritten Nacht konnte sich Sahat, der aufseiten seiner Besitzer gekämpft hatte, davonstehlen, um Arnau wie verabredet am Strand beim Fischmarkt zu treffen.

»Sahat!«, hörte er ein Wispern in der Dunkelheit.

»Was machst du denn hier?«, fragte der Sklave Raquel, die ihm entgegenstürzte.

»Der Christ ist sehr krank.«

»Ist es …«

»Nein«, kam ihm das Mädchen zuvor, »es ist nicht die Pest. Er hat keine Beulen. Es ist sein Bein. Die Wunde hat sich entzündet und er hat hohes Fieber. Er kann nicht gehen.«

»Und die anderen beiden?«, fragte der Sklave.

»Denen geht es gut. Und zu Hause …?«

»Sie warten auf euch.«

Raquel führte den Mauren zu dem Holzgerüst vor dem Kirchenportal von Santa María in der Calle del Born.

»Hier ist es?«, fragte der Sklave, als das Mädchen unter das Gerüst kroch.

»Sei still«, antwortete sie. »Folge mir einfach!«

Die beiden krochen durch den Tunnel bis zu der römischen Begräbnisstätte. Alle mussten mithelfen, um Arnau nach draußen zu schaffen. Sahat kroch rückwärts und zog ihn an den Armen, die Kinder schoben an den Füßen. Arnau hatte das Bewusstsein verloren. Zu fünft – Arnau auf den Schultern des Sklaven – machten sie sich auf den Weg zum Judenviertel. Die Kinder hatten sich mit Hilfe von Sahat, der ihnen Kleider besorgt hatte, als Christen verkleidet. Dennoch versuchten sie, sich im Schatten zu halten. Als sie das Tor zum Judenviertel erreichten, das von einem starken Kontingent königlicher Soldaten bewacht wurde, klärte Sahat den wachhabenden Hauptmann über die wahre Identität der Kinder auf und warum sie nicht das gelbe Zeichen trugen. Was Arnau angehe, so sei er ein Christ, der an starkem Fieber leide und die Hilfe eines Arztes benötige, wie der Hauptmann sich vergewissern könne. Was dieser auch tat, doch nahm er rasch wieder Abstand, aus Furcht, es könne sich um einen Pestkranken handeln. In Wirklichkeit war es die prallgefüllte Börse, die der Sklave in die Hand des Hauptmanns gleiten ließ, während er mit ihm sprach, die ihnen die Tore des Judenviertels öffnete.

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