3


Francesca sah das Kind nicht an. Sie gab dem Kleinen, den sie Arnau genannt hatten, erst die eine Brust, dann die andere, aber sie sah ihn nicht an. Bernat hatte viele Bäuerinnen ihre Kinder säugen sehen, und alle, von der reichsten bis zur ärmsten, hatten sie gelächelt, die Augen gesenkt oder ihre Kinder gestreichelt, während sie ihnen die Brust gaben. Nicht so Francesca. Sie wusch das Kind und versorgte es, doch in den zwei Monaten seines Lebens hatte Bernat nicht einmal gehört, dass sie mit ihm geschäkert hätte. Sie spielte nicht mit ihm, fasste es nicht an den Händchen, noch küsste oder kitzelte sie es. ›Was kann der Kleine dafür?‹, dachte Bernat, wenn er Arnau auf dem Arm hielt. Dann ging er mit ihm weg, um fernab von Francescas Kälte mit ihm zu sprechen und ihn zu streicheln.

Denn es war sein Kind. ›Alle Estanyols haben es‹, sagte sich Bernat, wenn er das Muttermal küsste, das Arnau neben der rechten Augenbraue hatte. »Wir alle haben es«, sagte er dann noch einmal laut, während er den Jungen zum Himmel hob.

Dieses Muttermal war bald mehr als nur eine Beruhigung für Bernat. Wenn Francesca zur Burg ging, um Brot zu backen, hoben die Frauen die Decke hoch, unter der Arnau lag, um ihn zu betrachten. Francesca ließ sie gewähren, und dann lächelten sie sich vor den Augen des Bäckers und der Soldaten zu. Und als Bernat ging, um das Land seines Herrn zu bestellen, klopften ihm die Bauern auf die Schultern und gratulierten ihm, diesmal vor den Augen des Verwalters, der ihre Arbeit überwachte.

Llorenç de Bellera hatte viele Bastarde, doch noch nie waren irgendwelche Forderungen erfolgreich gewesen. Sein Wort galt mehr als das einer ungebildeten Bäuerin, doch unter seinesgleichen wurde er nicht müde, mit seiner Männlichkeit zu prahlen. Es war offensichtlich, dass Arnau Estanyol nicht sein Sohn war, und der Herr von Navarcles begann ein spöttisches Grinsen bei den Bäuerinnen zu bemerken, die zur Burg kamen. Von seinen Gemächern aus sah er, wie sie untereinander und sogar mit seinen Soldaten tuschelten, wenn sie Estanyols Frau begegneten. Das Gerücht machte nicht nur unter den Bauern die Runde und Llorenç de Bellera wurde zum Gespött von seinesgleichen.

»Iss nur tüchtig, Bellera«, ermunterte ihn grinsend ein Baron, der zu Besuch auf der Burg weilte, »mir ist zu Ohren gekommen, dass du Kräfte brauchst.«

Alle Anwesenden, die am Tisch des Herrn von Navarcles saßen, quittierten die Bemerkung mit schallendem Gelächter.

»Auf meinem Grund und Boden«, erklärte ein anderer, »lasse ich nicht zu, dass ein Bauernweib meine Männlichkeit infrage stellt.«

»Lässt du etwa Muttermale verbieten?«, gab der Erste, schon unter dem Einfluss des Weins, zurück und erntete erneutes Gelächter, das Llorenç de Bellera mit einem gezwungenen Lächeln beantwortete.


Es geschah Anfang August. Arnau schlief in seiner Wiege im Schatten eines Feigenbaums auf dem Vorplatz des Gehöfts. Seine Mutter arbeitete im Garten bei den Ställen, und sein Vater, der stets ein Auge auf die hölzerne Wiege hatte, trieb die Ochsen immer wieder über das Getreide, das er im Hof ausgebreitet hatte, um die wertvollen Körner aus den Ähren zu dreschen, die sie während des Jahres ernähren sollten.

Sie hörten sie nicht kommen. Drei Reiter preschten im Galopp auf den Hof: Es waren der Verwalter Llorenç de Belleras sowie zwei weitere Männer. Sie waren bewaffnet und saßen auf beeindruckenden Schlachtrössern, die speziell für den Krieg gezüchtet worden waren. Bernat bemerkte, dass die Pferde nicht gepanzert waren wie bei den Ausritten seines Herrn. Wahrscheinlich hatten sie es nicht für nötig erachtet, sie zu wappnen, um einen einfachen Bauern einzuschüchtern. Der Verwalter hielt sich ein wenig abseits, aber die anderen beiden gaben ihren Tieren die Sporen. Die Pferde, die für den Kampf abgerichtet waren, zögerten nicht und gingen auf Bernat los. Bernat stolperte rückwärts und fiel schließlich hin, genau neben die Hufe der unruhigen Tiere. Erst jetzt zügelten die Reiter ihre Pferde.

»Dein Herr«, rief der Verwalter, »Llorenç de Bellera, verlangt nach den Diensten deiner Frau als Amme für Don Jaume, den Sohn deiner Herrin Doña Caterina.«

Bernat versuchte aufzustehen, doch einer der Reiter gab seinem Pferd erneut die Sporen.

Der Verwalter wandte sich an Francesca: »Nimm dein Kind und komm mit!«

Francesca nahm Arnau aus der Wiege und ging mit gesenktem Kopf hinter dem Pferd des Verwalters her. Bernat schrie auf und versuchte aufzustehen, doch bevor es ihm gelang, ging ihn einer der Reiter erneut mit seinem Pferd an und warf ihn um. Er versuchte es erneut, immer wieder, jedes Mal mit dem gleichen Ergebnis: Die beiden Reiter trieben unter Gelächter ihr Spiel mit ihm, indem sie ihm nachsetzten und ihn umwarfen. Schließlich blieb er keuchend und kraftlos auf dem Boden liegen, genau vor den Vorderläufen der Tiere, die unruhig auf ihren Trensen kauten. Als der Verwalter in der Ferne verschwunden war, machten die Reiter kehrt und gaben ihren Pferden die Sporen.

Es war wieder still auf dem Hof. Bernat blickte der Staubwolke hinterher, die die Reiter hinterließen, und sah dann hinüber zu den Ochsen, die sich an den Ähren gütlich taten, über die sie wieder und wieder getrottet waren.


Von jenem Tag an versorgte Bernat mechanisch das Vieh und die Felder, während er in Gedanken bei seinem Sohn war. Nachts wanderte er durchs Haus. Er vermisste das Kindergebrabbel, das Leben und Zukunft verhieß, das Knarren der Wiege, wenn Arnau sich bewegte, das durchdringende Weinen, wenn er Hunger hatte. Er versuchte in jedem Winkel, an den Wänden, überall den unschuldigen Duft seines Jungen zu erhaschen. Wo er jetzt wohl schlief? Da stand sein Bettchen, das er mit seinen eigenen Händen getischlert hatte. Wenn er schließlich Schlaf fand, weckte ihn die Stille wieder auf. Dann kauerte sich Bernat auf der Matratze zusammen und ließ die Stunden verstreichen. Die Geräusche des Viehs im Erdgeschoss waren seine einzige Gesellschaft.

Bernat ging regelmäßig zur Burg des Llorenç de Bellera, um Brot zu backen, und dachte dabei an Francesca, die dort eingeschlossen war und Doña Caterina und dem launischen Appetit ihres Sohnes zu Diensten sein musste. Die Burg – so hatte ihm sein Vater einmal erzählt, als sie dort zu tun hatten – war am Anfang nicht mehr als ein Wachturm auf der Anhöhe eines kleinen Vorgebirges gewesen. Jetzt gruppierten sich um den Burgturm herum ohne jegliche Ordnung das Backhaus, die Schmiede, einige neue, größere Pferdestallungen, Kornspeicher, Küchen und Gesindehäuser.

Die Burg war über eine Meile vom Hof der Estanyols entfernt. Die ersten Male hatte er nichts über seinen Jungen in Erfahrung bringen können. Wen auch immer er fragte, die Antwort war stets die gleiche: Seine Frau und sein Sohn befänden sich in Doña Caterinas Privatgemächern. Der einzige Unterschied bestand darin, dass einige, wenn sie ihm antworteten, höhnisch lachten, während andere den Kopf senkten, so als wollten sie dem Vater des Kindes nicht in die Augen schauen. Bernat nahm die Ausflüchte über einen ewig scheinenden Monat lang hin, bis er eines Tages, als er mit zwei Laiben Brot aus dem Backhaus kam, einem schmutzigen Schmiedeburschen begegnete, den er manchmal über seinen Kleinen ausgefragt hatte.

»Was weißt du über meinen Arnau?«, fragte er ihn.

Weit und breit war niemand zu sehen. Der Junge versuchte, ihm auszuweichen, als ob er ihn nicht gehört hätte, doch Bernat hielt ihn am Arm fest.

»Ich habe dich gefragt, was du über meinen Arnau weißt.«

»Deine Frau und dein Sohn …«, begann der Junge mit gesenktem Blick.

»Ich weiß, wo sie sind«, fiel ihm Bernat ins Wort. »Meine Frage ist, ob es Arnau gut geht.«

Der Junge bohrte seine Zehen in den Sand, den Blick immer noch gesenkt. Bernat schüttelte ihn.

»Geht es ihm gut?«

Der Bursche sah nicht auf und Bernat schüttelte ihn erneut.

»Nein, tut es nicht!«, schrie der Junge. Bernat trat einen Schritt zurück, um ihm in die Augen zu sehen. »Nein, tut es nicht«, wiederholte der Junge. Bernat sah ihn fragend an.

»Was ist mit ihm?«

»Ich kann nicht … Wir haben Befehl, dir nichts zu sagen …« Die Stimme des Jungen brach.

Bernat schüttelte ihn erneut heftig und erhob die Stimme, ohne sich darum zu scheren, dass er die Wache auf sich aufmerksam machen konnte.

»Was ist mit meinem Sohn? Was ist mit ihm? Antworte!«

»Ich kann nicht. Wir können nicht …«

»Würde das deine Meinung ändern?«, fragte er ihn und hielt ihm einen Brotlaib hin.

Der Schmiedebursche riss die Augen auf. Ohne zu antworten, riss er Bernat das Brot aus den Händen und biss hinein, als hätte er tagelang nichts gegessen. Bernat zog ihn in eine Ecke, wo sie vor Blicken sicher waren.

»Was ist mit meinem Arnau?«, fragte er noch einmal nachdrücklich.

Der Junge sah ihn mit vollem Mund an und gab ihm ein Zeichen, ihm zu folgen. Verstohlen schlichen sie sich an den Hauswänden entlang bis zur Schmiede. Sie schlüpften hinein und gingen in den hinteren Teil. Der Junge öffnete die Tür zu einem kleinen Verschlag, in dem Material und Werkzeug aufbewahrt wurden, und ging hinein. Bernat folgte ihm. Kaum waren sie drinnen, hockte sich der Bursche auf den Boden und stürzte sich auf das Brot. Bernat sah sich in dem kleinen Raum um. Es war brütend heiß. Er entdeckte nichts, was ihm erklärt hätte, warum der Schmiedelehrling ihn dorthin geführt hatte: In diesem Raum gab es nur Werkzeuge und altes Eisen.

Er sah den Jungen fragend an. Dieser deutete in eine Ecke des Verschlags, während er genüsslich weiterkaute. Bernat wandte sich dorthin.

Auf einigen Holzplanken lag in einem zerfransten Weidenkorb verlassen und abgemagert sein Sohn und schien dort auf seinen Tod zu warten. Die weißleinene Decke war schmutzig und zerlumpt. Bernat konnte den Schrei nicht unterdrücken, der sich seiner Brust entrang. Es war ein erstickter Schrei, ein unmenschliches Schluchzen. Er nahm Arnau und drückte ihn an sich. Das Kind reagierte nur sehr schwach, aber es reagierte.

»Der Herr hat befohlen, deinen Sohn hierzulassen«, hörte Bernat den Schmiedeburschen sagen. »Am Anfang ist deine Frau noch ein paar Mal am Tag vorbeigekommen, um ihn zu beruhigen und ihm die Brust zu geben.«

Bernat drückte den kleinen Körper mit Tränen in den Augen an seine Brust, um ihm Leben einzuhauchen.

»Zuerst kam der Verwalter«, erzählte der Junge weiter. »Deine Frau wehrte sich und schrie … Ich habe es gesehen, ich war in der Schmiede.« Er deutete auf einen Spalt in der Bretterwand. »Aber der Verwalter ist sehr kräftig … Als er fertig war, kam der Herr in Begleitung einiger Soldaten herein. Deine Frau lag auf dem Boden, und der Herr begann, über sie zu lachen. Dann lachten alle. Von da an warteten jedes Mal neben der Tür die Soldaten darauf, dass deine Frau herauskam, um deinen Sohn zu stillen. Sie konnte sich nicht wehren. Seit einigen Tagen kommt sie kaum noch. Die Soldaten … sie fallen über sie her, sobald sie Doña Caterinas Gemächer verlässt. Sie schafft es nicht mal mehr bis hierher. Manchmal sieht der Herr sie, aber er lacht nur.«

Ohne zu überlegen, hob Bernat sein Hemd und schob den kleinen Körper seines Sohnes darunter. Dann verbarg er die Ausbuchtung hinter dem Brot, das ihm verblieben war. Der Kleine bewegte sich nicht. Der Schmiedelehrling sprang auf, als Bernat zur Tür ging.

»Der Herr hat es verboten. Du kannst nicht einfach …!«

»Lass mich vorbei, Junge!«

Der Bursche versuchte, ihm zuvorzukommen. Bernat hatte keinen Zweifel daran. Während er mit einer Hand das Brot und den kleinen Arnau festhielt, ergriff er mit der anderen eine Eisenstange, die an der Wand lehnte, und drehte sich unerwartet um. Die Stange traf den Jungen am Kopf, als er gerade aus dem Verschlag schlüpfen wollte. Er fiel zu Boden, ohne dass ihm die Zeit blieb, ein Wort zu sagen. Bernat sah nicht einmal hin. Er ging einfach hinaus und zog die Tür hinter sich zu.

Es war leicht, die Burg Llorenç de Belleras zu verlassen. Niemand wäre auf die Idee gekommen, dass Bernat unter dem Brotlaib den geschundenen Körper seines Sohnes trug. Erst als er vor dem Burgtor stand, dachte er an Francesca und die Soldaten. In seiner Wut machte er ihr Vorwürfe, weil sie nicht versucht hatte, sich mit ihm in Verbindung zu setzen, ihn vor der Gefahr zu warnen, in der sich ihr Kind befand, dass sie nicht um Arnau gekämpft hatte … Bernat drückte den Körper seines Sohnes an sich und dachte an all die Zeit, die er untätig gewesen war, während Arnau auf ein paar elenden Holzplanken den Tod erwartete.


Wie lange würden sie brauchen, um den Jungen zu finden, den er niedergeschlagen hatte? Ob er tot war? Hatte er die Tür des Verschlags hinter sich geschlossen? Unzählige Fragen schossen Bernat durch den Kopf, während er zu seinem Hof zurückging. Ja, er hatte sie geschlossen, er erinnerte sich vage daran.

Als er um die erste Kehre des Serpentinenpfades bog, der zur Burg hinaufführte, und diese aus der Sicht verschwand, holte Bernat seinen Sohn hervor. Seine stumpfen Augen blickten ins Leere. Er war leichter als der Brotlaib! Seine Ärmchen und Beinchen … Bernat schluckte schwer. Tränen traten ihm in die Augen. Er sagte sich, dass dies nicht der Moment war, um zu weinen. Er wusste, dass sie ihn verfolgen würden, dass sie die Hunde auf ihn hetzen würden, aber … Was nützte es zu fliehen, wenn das Kind nicht überlebte? Bernat verließ den Weg und versteckte sich in einem Gebüsch. Er kniete nieder, legte das Brot hin und nahm Arnau in beide Hände, um ihn vor sein Gesicht zu halten. Das Kind lag hilflos vor seinen Augen, sein Köpfchen fiel zur Seite. »Arnau!«, flüsterte Bernat. Er schüttelte ihn sanft, immer und immer wieder. Seine kleinen Äuglein bewegten sich, um ihn anzusehen. Mit tränenüberströmtem Gesicht stellte Bernat fest, dass das Kind nicht einmal die Kraft hatte zu weinen. Er legte sich das Bündel auf den Arm, zerkrümelte ein wenig Brot, befeuchtete es mit Speichel und hielt es dem Kleinen vor den Mund. Arnau reagierte nicht, aber Bernat versuchte es geduldig immer wieder, bis es ihm schließlich gelang, das Brot in den winzigen Mund zu schieben. Er wartete ab. »Iss, mein Sohn«, bat er ihn. Bernats Lippen bebten, als sich Arnaus Kehle fast unmerklich zusammenzog. Er zerkrümelte noch mehr Brot und wiederholte den Vorgang. Arnau schluckte noch siebenmal.

»Wir schaffen das«, sagte er zu ihm. »Ich verspreche es dir.«

Bernat ging auf den Weg zurück. Alles blieb ruhig. Mit Sicherheit hatten sie den Jungen noch nicht entdeckt. Andernfalls hätte er Lärm gehört. Für einen Augenblick dachte er an Llorenç de Bellera, grausam, niederträchtig und gnadenlos, wie er war. Welche Befriedigung würde es ihm verschaffen, einen Estanyol zu jagen!

»Wir schaffen das, Arnau«, sagte er erneut und lief zum Gehöft.

Er sah sich auf dem ganzen Weg nicht einmal um. Auch bei seiner Ankunft gönnte er sich keinen Moment Ruhe. Er legte Arnau in die Wiege, holte einen Sack und tat gemahlenes Getreide und getrocknetes Gemüse hinein, einen Schlauch mit Wasser und einen zweiten mit Milch, Pökelfleisch, eine Schüssel, einen Löffel und Kleider, etwas Geld, das er versteckt hatte, ein Jagdmesser und seine Armbrust … Wie stolz war sein Vater auf diese Armbrust gewesen!, dachte er, während er sie in der Hand wog. Mit ihr hatten die Estanyols an der Seite des Grafen Ramón Borrell gekämpft, als sie noch freie Männer gewesen waren. Frei! Bernat band sich das Kind vor die Brust und schulterte den Rest. Er würde immer ein Leibeigener sein, es sei denn …

»Fürs Erste werden wir Flüchtlinge sein«, sagte er zu dem Kind, bevor er sich auf den Weg ins Gebirge machte. »Niemand kennt diese Berge besser als die Estanyols«, versicherte er ihm, als sie schon zwischen den Bäumen waren. »Wir sind immer schon hier auf die Jagd gegangen, weißt du.« Bernat ging durch den Wald bis zu einem Bach, stieg hinein und watete bis zu den Knien im Wasser bachaufwärts. Arnau hatte die Augen geschlossen und schlief, aber Bernat sprach weiter mit ihm. »Die Hunde des Herrn sind nicht besonders schlau, sie wurden zu oft misshandelt. Wir gehen bis ganz nach oben, wo der Wald dichter wird und man mit dem Pferd nur schwer vorankommt. Die Herrschaften jagen nur zu Pferde, und dorthin kommen sie nie. Sie würden sich ihre Kleider zerreißen. Und die Soldaten … Weshalb sollten sie hier jagen? Sie begnügen sich damit, uns das Essen wegzunehmen. Wir werden uns verstecken, Arnau. Niemand wird uns finden, ich schwöre es dir.« Bernat streichelte das Gesicht seines Sohnes, während er weiter den Bach hinaufwatete.

Am Nachmittag machte Bernat Rast. Der Wald war so dicht geworden, dass die Bäume bis an den Bach heranreichten und den Himmel vollständig verdeckten. Er setzte sich auf einen Felsbrocken und betrachtete seine Beine, die weiß waren und aufgeweicht vom Wasser. Erst jetzt nahm er den Schmerz in seinen Füßen wahr, aber er gab nichts darauf. Er legte das Gepäck ab und band Arnau los. Der Kleine hatte die Augen geöffnet. Er vermischte Milch mit Wasser, fügte gemahlenes Getreide hinzu, rührte die Mischung um und hielt dem Kind die Schüssel an die Lippen. Arnau verzog das Gesicht. Bernat tauchte einen Finger in den Bach, tunkte ihn dann in den Brei und versuchte es erneut. Nach mehreren Versuchen reagierte Arnau und ließ sich von seinem Vater mit dem Finger füttern. Als die Schüssel leer war, schloss er die Augen und schlief ein. Bernat aß nur ein wenig Pökelfleisch. Er hätte sich gerne ausgeruht, aber er hatte noch einen weiten Weg vor sich.

»Die Höhle der Estanyols«, so hatte sein Vater sie genannt. Sie erreichten sie im Dunkeln, nachdem sie eine weitere Rast eingelegt hatten, damit Arnau etwas zu essen bekam. Man betrat die Höhle durch einen schmalen Spalt im Fels, den Bernat, sein Vater und zuvor sein Großvater von innen mit Baumstämmen verschlossen hatten, um geschützt vor Unwetter und wilden Tieren zu schlafen, wenn sie auf der Jagd waren.

Er machte ein Feuer vor dem Eingang der Höhle und ging dann mit einer Fackel hinein, um sich zu vergewissern, dass kein Tier darin hauste. Dann legte er Arnau auf ein improvisiertes Lager aus dem Sack und trockenem Reisig und fütterte ihn erneut. Der Kleine nahm die Nahrung an und fiel dann in einen tiefen Schlaf, genau wie Bernat, der nicht einmal mehr die Kraft hatte, von dem Pökelfleisch zu essen. Hier waren sie in Sicherheit vor dem Grundherrn, dachte er, bevor er die Augen schloss und, dem Atem seines Sohnes lauschend, einschlief.


Llorenç de Bellera preschte mit seinen Männern im gestreckten Galopp davon, nachdem der Schmiedemeister seinen Gehilfen tot in einer Blutlache gefunden hatte. Arnaus Verschwinden und die Tatsache, dass sein Vater auf der Burg gesehen worden war, wiesen direkt auf Bernat hin. Der Herr von Navarcles, der hoch zu Pferde vor dem Tor des Gehöfts der Estanyols wartete, lächelte, als seine Männer ihm mitteilten, dass drinnen großes Durcheinander herrsche und Bernat offensichtlich mit seinem Sohn geflohen sei.

»Nach dem Tod deines Vaters bist du noch einmal davongekommen«, presste er hervor, »aber jetzt wird all das mir gehören. Sucht ihn!«, rief er seinen Männern zu. Dann wandte er sich an seinen Verwalter: »Mach eine Aufstellung aller Güter, des Hausrats und des Viehs dieses Anwesens und gib acht, dass kein Gran Korn fehlt. Dann mach dich auf die Suche nach Bernat.«

Nach einigen Tagen wurde der Verwalter bei seinem Herrn im Burgfried vorstellig.

»Wir haben auf den übrigen Gehöften gesucht, in den Wäldern und auf den Feldern. Keine Spur von Estanyol. Er muss in eine Stadt geflohen sein, vielleicht nach Manresa oder …«

Llorenç de Bellera brachte ihn mit einer Handbewegung zum Schweigen.

»Er wird schon auftauchen. Gib den übrigen Grundherren und unseren Spitzeln in den Städten Bescheid. Sag ihnen, ein Leibeigener sei von meinem Land verschwunden und müsse ergriffen werden.«

In diesem Moment erschienen Francesca und Doña Caterina. Francesca hatte Jaume, Caterinas Sohn, auf dem Arm. Llorenç de Bellera sah sie an und verzog das Gesicht. Er brauchte sie nicht mehr. »Meine Liebe«, sagte er zu seiner Frau, »ich begreife nicht, wie Ihr es zulassen könnt, dass eine Hure meinen Sohn nährt.« Doña Caterina zuckte zusammen. »Wisst Ihr etwa nicht, dass Eure Amme es mit der gesamten Soldatenschaft treibt?«

Doña Caterina riss Francesca ihren Sohn aus den Armen.


Als Francesca erfuhr, dass Bernat mit Arnau geflohen war, fragte sie sich, was wohl aus ihrem Kleinen geworden war. Das Land und der Besitz der Estanyols gehörte nun dem Herrn de Bellera. Sie wusste nicht wohin, und solange fielen die Soldaten weiter über sie her. Ein Stück hartes Brot, etwas verfaultes Gemüse, manchmal ein Knochen zum Abnagen, das war der Preis für ihren Körper.

Keiner der zahlreichen Bauern, die zur Burg hinaufkamen, würdigte sie auch nur eines Blickes. Francesca versuchte einige Male, einen von ihnen anzusprechen, aber sie wichen ihr aus. Nach Hause zu ihren Eltern traute sie sich nicht, denn ihre Mutter hatte sie vor dem Backhaus öffentlich verstoßen, und so war sie gezwungen, in der Nähe der Burg zu bleiben, eine von vielen Bettlern, die an der Burgmauer nach Abfällen wühlten. Ihr einziges Schicksal schien es zu sein, im Gegenzug für die Essensreste des Soldaten, der sie an diesem Tag ausgewählt hatte, von Hand zu Hand zu gehen.

Es wurde September. Mit Arnau ging es allmählich aufwärts. Bernat hatte seinen Sohn bereits lächeln sehen und er machte auf allen vieren Ausflüge durch die Höhle und in die nähere Umgebung. Aber die Vorräte begannen knapp zu werden und der Winter stand vor der Tür. Es war Zeit für den Aufbruch.

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