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Nach der Beisetzung der Gebeine der heiligen Eulàlia gab der König ein Festbankett in seinem Palast. Am Tisch des Königs saßen der Kardinal, das Königspaar von Mallorca, die Königin von Aragón und die Königinmutter, die Infanten des Königshauses sowie mehrere kirchliche Würdenträger, insgesamt fünfundzwanzig Personen. An weiteren Tischen saßen die Adligen und, zum ersten Mal in der Geschichte königlicher Bankette, eine große Anzahl von angesehenen Bürgern. Doch nicht nur der König und seine Höflinge begingen das Ereignis. In ganz Barcelona wurde acht Tage lang gefeiert.

Frühmorgens gingen Arnau und Joan zur Messe und nahmen an den feierlichen Prozessionen teil, die unter Glockengeläut durch die Stadt zogen. Danach flanierten sie wie alle anderen durch die Straßen der Stadt und vergnügten sich bei den Turnieren im Born-Viertel, bei denen die Adligen und Ritter ihr Geschick im Kampf bewiesen. Sie kämpften mit ihren langen Schwertern oder ritten zu Pferde gegeneinander an, die eingelegte Lanze auf den Gegner gerichtet. Auch beobachteten die beiden Knaben hingerissen, wie mit riesigem Aufwand große Seeschlachten nachgespielt wurden. »Außerhalb des Wassers wirken sie viel größer«, sagte Arnau zu Joan und deutete auf die Segelschiffe und Galeeren, die auf Karren durch die Stadt gezogen wurden, während die Matrosen Entermanöver und Kämpfe nachstellten.

Joan warf Arnau einen strafenden Blick zu, als dieser ein paar Münzen beim Kartenspiel oder Würfeln setzte, hatte jedoch nichts dagegen einzuwenden, bei den Wurf- und Kegelspielen mitzumachen, bei denen der junge Student ein erstaunliches Geschick an den Tag legte.

Doch die größte Freude hatte Joan an den vielen Troubadouren, die in die Stadt geströmt waren, um von den großen Heldentaten der Katalanen zu berichten. »Das ist die Chronik Jaimes I.«, erklärte er Arnau, nachdem sie die Geschichte der Eroberung Valencias gehört hatten. »Das ist die Chronik von Bernat Desclot«, erläuterte er, als ein anderer Troubadour mit seiner Geschichte von den Heldentaten König Pedros des Großen bei der Eroberung Siziliens oder dem französischen Feldzug gegen Katalonien geendet hatte.

»Heute müssen wir auf den Pia d'en Llull gehen«, sagte Joan nach der morgendlichen Prozession.

»Warum?«

»Ich habe gehört, dass dort ein Troubadour aus Valencia auftritt, der die Chronik von Ramon Muntaner kennt.« Arnau sah ihn fragend an. »Ramon Muntaner ist ein berühmter Chronist aus El Ampurdán, der die katalanischen Almogavaren bei ihrer Eroberung der Herzogtümer Athen und Neopatria anführte und vor sieben Jahren die Geschichte dieser Kriege niederschrieb. Es ist bestimmt sehr interessant … Zumindest wird sie der Wahrheit entsprechen.«

Der Pia d'en Llull, eine Freifläche zwischen Santa María und dem Kloster Santa Clara, war zum Bersten voll. Die Leute hatten sich auf den Boden gesetzt und plauderten, ohne den Blick von der Stelle zu wenden, wo der valencianische Troubadour erscheinen musste. Ihm ging ein solcher Ruf voraus, dass sogar einige Adlige gekommen waren, um ihn anzuhören. Sie hatten Sklaven dabei, die Stühle für die ganze Familie schleppten.

»Sie sind nicht da«, sagte Joan zu Arnau, als er den besorgten Blick bemerkte, mit dem sein Bruder die Adligen betrachtete. Arnau hatte ihm von dem Zusammentreffen mit den Puigs in Santa María erzählt. Sie fanden einen guten Platz bei einer Gruppe von Bastaixos, die bereits seit einiger Zeit darauf warteten, dass die Vorführung begann. Arnau setzte sich, nicht ohne vorher noch einmal zu den Adelsfamilien herüberzusehen, die aus der am Boden sitzenden Menge herausragten.

»Du solltest lernen zu vergeben«, raunte ihm Joan zu. Arnaus einzige Erwiderung bestand in einem unfreundlichen Blick. »Ein guter Christ …«

»Nein, Joan«, fiel ihm Arnau ins Wort, »niemals. Ich werde nie vergessen, was diese Frau meinem Vater angetan hat.«

In diesem Moment erschien der Troubadour und die Leute begannen zu applaudieren. Martí de Xàtiva, ein großer, schlanker Mann mit gewandten, eleganten Bewegungen, hob die Hände und bat um Ruhe.

»Ich will euch die Geschichte erzählen, wie sechstausend Katalanen den Orient eroberten und die Türken, Byzantiner, Alanen und alle kriegerischen Völker besiegten, die sich ihnen entgegenzustellen versuchten.«

Erneut brandete Applaus auf dem Pia d'en Llull auf. Auch Arnau und Joan klatschten Beifall.

»Ich will euch auch erzählen, wie der Kaiser von Byzanz unseren Admiral Roger de Flor und viele andere Katalanen ermordete, die er zu einem Fest eingeladen hatte …«

»Verräter!«, schrie jemand dazwischen, worauf die Zuhörer in Verwünschungen ausbrachen.

»Sodann werde ich euch berichten, wie die Katalanen den Tod ihres Anführers rächten und Tod und Verwüstung über den Orient brachten. Dies ist die Geschichte der katalanischen Almogavaren, die im Jahre 1305 unter dem Befehl Roger de Flors in See stachen …«

Der Valencianer verstand es, seine Zuhörer zu fesseln. Er gestikulierte und schauspielerte, und hinter ihm stellten zwei Gehilfen die Szenen nach, die er erzählte. Auch das Publikum beteiligte er an der Darstellung. Er wandte sich an einen der vornehm gekleideten Adligen und bat ihn, nach vorne zu kommen, um Roger de Flor darzustellen. Alle waren mit den Herzen bei den Eroberungen der Almogavaren dabei, bis diese schließlich siegreich das Herzogtum Athen erreichten. Auch dort siegten sie, nachdem sie über zwanzigtausend Mann getötet und Roger Deslaur zu ihrem Hauptmann ernannt hatten, so berichtete der Troubadour. Auf der Burg von Solin gab man ihm die Witwe des Herrn von Solin zur Gemahlin. Der Valencianer suchte einen Adligen aus dem Publikum aus, bat ihn auf die Bühne und stellte ihm eine Frau zur Seite, die erstbeste, die er im Publikum fand und die er zu dem neuen Hauptmann führte.

»Und so«, berichtete der Troubadour, während er den Adligen und die Frau an den Händen fasste, »teilten sie die Stadt Theben und alle Orte und Festungen des Herzogtums unter sich auf. Die Frauen wurden den Almogavaren zu Eigen gegeben, einem jeden nach seinem Rang.«

Während der Troubadour die Chronik nacherzählte, wählten seine Gehilfen Männer und Frauen aus dem Publikum aus und stellten sie in zwei Reihen einander gegenüber. Die Bastaixos machten die Gehilfen auf Arnau aufmerksam, denn er war der einzig Unverheiratete. Seine Zunftbrüder zogen ihn hoch und priesen ihn als Kandidaten für das Fest an. Zu ihrer Freude wurde er von den Gehilfen ausgewählt und unter großem Beifall betrat Arnau die Bühne.

Als sich der Junge in die Reihe der Almogavaren stellte, erhob sich im Publikum eine Frau und heftete ihre großen braunen Augen auf den jungen Bastaix. Die Gehilfen wurden auf sie aufmerksam. Niemand konnte diese junge, schöne Frau übersehen. Als sie auf sie zutraten, packte ein misslauniger Alter sie am Arm und versuchte, sie unter dem Gelächter der Leute wieder zum Hinsetzen zu bewegen. Das Mädchen widersetzte sich dem alten Mann und die Gehilfen sahen zu dem Troubadour hinüber. Dieser machte eine aufmunternde Geste, und die Menge lachte über den alten Mann, der nun aufgesprungen war und mit dem Mädchen rang.

»Sie ist meine Frau«, hielt er einem der Gehilfen vor, während er mit ihm ins Handgemenge geriet.

»Die Besiegten haben keine Frauen«, bemerkte der Troubadour von der Bühne aus. »Sämtliche Frauen des Herzogtums Athen gehören den Katalanen.«

Der Alte zögerte kurz, ein Moment, den die Gehilfen nutzten, um ihm das Mädchen zu entreißen und es unter dem Gejohle der Menge in die Reihe der Frauen zu stellen.

Während der Troubadour in seiner Darstellung fortfuhr, den Almogavaren die athenischen Frauen übergab und die Menge bei jedem neuen Paar, das aus ihrer Mitte ausgewählt wurde, in Jubelrufe ausbrach, sahen sich Arnau und Aledis in die Augen. »Wie viel Zeit ist vergangen, Arnau?«, schienen ihn ihre dunklen Augen zu fragen. »Vier Jahre?« Arnau sah zu den Bastaixos hinüber, die ihm zugrinsten und ihn anfeuerten. Joans Blick jedoch wich er aus. »Sieh mich an, Arnau.« Aledis hatte den Mund nicht aufgemacht, doch ihre Aufforderung war laut und deutlich für ihn zu vernehmen. Arnau versank in ihren Augen. Der Valencianer nahm die Hand des Mädchens und führte es durch die beiden Reihen, dann ergriff er Arnaus Hand und legte die Hand von Aledis in die seine.

Erneut wurden Rufe laut. Alle Paare standen nun in einer Reihe, angeführt von Arnau und Aledis, mit dem Gesicht zum Publikum. Das Mädchen merkte, dass es am ganzen Körper zitterte. Sanft drückte es Arnaus Hand, während er verstohlen den Alten beobachtete, der aufrecht inmitten der Menge stand und ihn mit Blicken durchbohrte.

»So ordneten die Almogavaren ihr Leben«, verkündete der Troubadour und wies auf die Paare. »Sie ließen sich im Herzogtum Athen nieder, und dort, im fernen Orient, leben sie noch immer, zum Ruhme Kataloniens.«

Beifall brandete über den Pia d'en Llull. Aledis drückte erneut Arnaus Hand. »Nimm mich mit, Arnau«, flehten ihre tiefdunklen Augen. Plötzlich merkte Arnau, dass er ins Leere griff. Aledis war verschwunden. Der Alte hatte sie gepackt und schleifte sie zur Belustigung der Zuschauer in Richtung Santa María.

»Eine kleine Spende, der Herr?«, bat ihn der Troubadour und trat zu ihm.

Der Alte spuckte aus und zerrte Aledis weiter.


»Du Hure! Wieso hast du das getan?«

Der alte Gerbermeister hatte noch Kraft in den Armen, doch Aledis spürte die Ohrfeige nicht.

»Ich … Ich weiß es nicht. Die Leute, das Geschrei … plötzlich hatte ich das Gefühl, im Orient zu sein. Wie hätte ich zusehen sollen, wie man ihm eine andere gibt?«

»Im Orient? Du Dirne!«

Der Gerber ergriff einen Lederriemen und Aledis wurde bleich. »Bitte, Pau, bitte nicht. Ich weiß nicht, warum ich es getan habe. Ich schwöre es dir. Verzeih mir! Bitte, verzeih mir!«

Aledis fiel vor ihrem Mann auf die Knie und senkte den Kopf. Der Lederriemen in der Hand des Alten zitterte.

»Du verlässt dieses Haus erst wieder, wenn ich es dir erlaube«, lenkte der Mann ein.

Aledis sagte nichts mehr und rührte sich nicht von der Stelle, bis sie die Haustür zuschlagen hörte.

Vor vier Jahren hatte ihr Vater sie verheiratet. Da sie keinerlei Mitgift besaß, war ein verwitweter, kinderloser Gerbermeister die beste Partie, die Gastó für seine Tochter machen konnte. »Eines Tages wirst du erben«, war seine einzige Begründung. Er erklärte ihr nicht, dass in diesem Falle er, Gastó Segura, an die Stelle des Gerbers treten und den Betrieb übernehmen würde. Seiner Ansicht nach brauchten Töchter von solchen Details nichts zu wissen.

Am Tag der Hochzeit wartete der Alte nicht einmal das Ende der Feier ab, um seine junge Ehefrau in die Schlafkammer zu führen. Aledis ließ es über sich ergehen, als er sie mit fahrigen Händen entkleidete und seinen sabbernden Mund auf ihre Brüste presste. Bei der ersten Berührung seiner schwieligen, rauen Hände zuckte Aledis zusammen. Dann führte Pau sie zum Bett und stürzte sich, noch angekleidet, auf sie. Zitternd und stöhnend befummelte er sie, biss in ihre Brustwarzen und rieb mit der Hand zwischen ihren Beinen, um sich dann, immer noch in Kleidern, auf sie zu legen und sich, immer heftiger keuchend, hin und her zu bewegen, bis er schließlich nach einem letzten Stöhnen in sich zusammensank und einschlief.

Am nächsten Morgen verlor Aledis ihre Jungfräulichkeit unter einem gebrechlichen, kraftlosen Körper, der ungeschickt Besitz von ihr ergriff. Sie fragte sich, ob sie je etwas anderes dabei würde empfinden können als Ekel.

Wenn Aledis aus irgendeinem Grund nach unten in die Werkstatt musste, betrachtete sie die jungen Lehrlinge ihres Mannes. Weshalb nur würdigten sie sie keines Blickes? Sie hingegen schaute genau hin. Ihre Augen ruhten auf den Muskeln dieser jungen Burschen und ergötzten sich an den Schweißperlen, die ihnen auf der Stirn standen, über Gesicht und Hals hinabrannen und auf ihren starken, kräftigen Körpern glänzten. Aledis' Blicke verfolgten die steten Bewegungen ihrer Arme, während sie das Leder walkten, immer und immer wieder … Doch die Anweisung ihres Mannes war unmissverständlich gewesen: »Zehn Peitschenhiebe für jeden, der meine Frau zum ersten Mal ansieht. Beim zweiten Mal setzt es zwanzig Hiebe, beim dritten Mal ist das Essen gestrichen.« Aledis fragte sich Nacht für Nacht, wo die Lust blieb, von der man ihr erzählt hatte, die Lust, nach der ihre Jugend verlangte und die ihr der Greis niemals würde schenken können, dem man sie zur Frau gegeben hatte.

In manchen Nächten zerkratzte ihr der alte Gerbermeister mit seinen zerschundenen Händen die Haut, andere Male zwang er sie, ihn mit der Hand zu befriedigen, dann wieder drang er in sie ein, in aller Hast, bevor ihn die Schwäche daran hinderte, den Akt zu vollziehen. Danach schlief er immer sofort ein. In einer dieser Nächte stand Aledis leise auf, um ihn nicht zu wecken, doch der Alte drehte sich nicht einmal um.

Sie schlich in die Werkstatt hinunter. Dort ging sie zwischen den Arbeitstischen umher, die sich im Halbdunkel abzeichneten, und strich mit den Fingern über die glatten Tischplatten. Begehrt ihr mich nicht? Gefalle ich euch nicht? Aledis dachte sehnsuchtsvoll an die Lehrlinge, während sie zwischen den Tischen umherschlich, als plötzlich ein schwacher Lichtstrahl in einer Ecke der Gerberei ihre Aufmerksamkeit erregte. In der Bretterwand, die die Werkstatt von dem Schlafraum der Lehrlinge trennte, befand sich ein kleines Astloch. Aledis blickte hindurch und schreckte zurück. Sie zitterte. Dann presste sie erneut das Auge an die Öffnung. Sie waren nackt! Für einen Moment befürchtete sie, ihr Atem könnte sie verraten. Einer von ihnen lag auf seinem Bett und berührte sich selbst!

»An wen denkst du?«, fragte ein anderer ganz nah an der Wand, hinter der Aledis lauschte. »An die Frau des Meisters?«

Der andere gab keine Antwort. Aledis brach der Schweiß aus. Ohne es zu merken, glitt eine Hand zwischen ihre Beine, und während sie den Jungen beobachtete, der an sie dachte, lernte sie, sich selbst Lust zu verschaffen. Den Rücken gegen die Wand gelehnt, ließ sie sich zu Boden sinken.

Am nächsten Morgen ging Aledis voller Verlangen an dem Arbeitsplatz des Lehrlings vorbei. Vor dem Tisch hielt sie unwillkürlich inne. Schließlich blickte der Lehrling einen Augenblick hoch. Sie wusste, dass der Junge sich berührt und dabei an sie gedacht hatte, und lächelte.

Am Nachmittag wurde Aledis in die Werkstatt gerufen. Dort erwartete sie der Gerbermeister, hinter dem Lehrling stehend.

»Meine Liebe«, sagte er zu ihr, als sie vor ihm stand, »du weißt doch, dass ich es nicht mag, wenn man meine Lehrlinge ablenkt.«

Aledis betrachtete den Rücken des Jungen. Zehn feine, blutige Striemen zeichneten sich darauf ab. Sie gab keine Antwort. In dieser Nacht schlich sie nicht in die Werkstatt hinunter, auch nicht in der nächsten und übernächsten. Doch dann begann sie wieder, sich erneut Nacht für Nacht davonzustehlen, um ihren Körper zu liebkosen und dabei an Arnaus Hände zu denken. Er war alleine. Seine Augen hatten es ihr verraten. Sie musste ihn bekommen!

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