8


Die beiden neuen Freunde trafen sich jeden Tag. Sie liefen zusammen zum Strand, um die Schiffe zu betrachten, oder streiften durch die Straßen von Barcelona. Jedes Mal, wenn sie vor der Gartenmauer spielten und die Stimmen von Josep, Genis oder Margarida aus dem Garten der Puigs zu hören waren, sah Joanet, wie sein Freund in den Himmel blickte, so als hielte er Ausschau nach etwas, das über den Wolken schwebte.

»Was schaust du da?«, fragte er ihn eines Tages.

»Ach, nichts«, antwortete Arnau.

Das Lachen im Garten wurde lauter und Arnau blickte erneut in den Himmel.

»Sollen wir auf den Baum klettern?«, fragte Joanet, der glaubte, es seien die Äste, die die Aufmerksamkeit seines Freundes weckten.

»Nein«, antwortete Arnau, während er nach einem Vogel Ausschau hielt, dem er eine Botschaft an seine Mutter mitgeben konnte.

»Warum willst du nicht auf den Baum klettern? Dann könnten wir sehen, wie …«

Was sollte er der Jungfrau Maria sagen? Was sagte man einer Mutter? Joanet unterhielt sich nicht mit seiner Mutter. Er hörte ihr nur zu und sagte ja oder nein … Aber er konnte wenigstens ihre Stimme hören und ihre Liebkosungen spüren, dachte Arnau.

»Klettern wir rauf?«

»Nein!«, schrie Arnau so laut, dass Joanet das Lächeln verging. »Du hast schon eine Mutter, die dich liebt, du brauchst keinen anderen Müttern hinterherzuspionieren.«

»Wenn wir raufklettern …«, erwiderte Joanet.

Dass sie sie liebten! Das sagten ihre Kinder zu Guiamona. »Sag ihr das, Vögelchen.« Arnau sah den Vogel in den Himmel fliegen. »Sag ihr, dass ich sie liebe.«

»Was ist jetzt? Klettern wir rauf?«, beharrte Joanet, während er bereits nach den unteren Ästen griff.

»Nein. Ich brauche das nicht …« Joanet ließ den Ast los und sah seinen Freund fragend an. »Ich habe auch eine Mutter.«

»Eine neue?«

Arnau zögerte.

»Ich weiß nicht. Sie heißt Jungfrau Maria.«

»Jungfrau Maria? Und wer ist das?«

»Sie lebt in bestimmten Kirchen. Ich weiß, dass sie immer in diese Kirche gegangen sind.« Er deutete in Richtung Mauer. »Aber sie haben mich nie mitgenommen.«

»Ich weiß, wo eine ist.« Arnau sah Joanet mit großen Augen an. »Wenn du willst, bringe ich dich hin. Zu der größten von Barcelona!«

Wie immer rannte Joanet davon, ohne die Antwort seines Freundes abzuwarten. Aber Arnau war schon auf der Hut und hatte ihn gleich eingeholt.

Sie liefen bis zur Calle de la Boquería und durch die Calle de Bisbe am Judenviertel entlang, bis sie vor der Kathedrale standen.

»Und du glaubst, die Jungfrau Maria ist da drin?«, fragte Arnau seinen Freund und deutete auf die Gerüste, die an den noch unvollendeten Mauern emporwuchsen. Er folgte mit dem Blick einem großen Stein, der von mehreren Männern mithilfe eines Seilzugs nach oben gehoben wurde.

»Natürlich«, antwortete Joanet überzeugt. »Das ist eine Kirche.«

»Das ist keine Kirche!«, hörten die beiden jemanden hinter ihrem Rücken sagen. Sie fuhren herum und standen vor einem grobschlächtigen Mann, der einen Hammer und eine Raspel in der Hand hielt. »Das ist die Kathedrale«, erklärte er, stolz auf seine Arbeit als Gehilfe des Steinmetzmeisters. »Verwechselt sie nie mit einer Kirche.«

Arnau warf Joanet einen wütenden Blick zu.

»Wo gibt es eine Kirche?«, fragte Joanet den Mann, als dieser sich bereits zum Gehen wandte.

»Gleich dort drüben«, antwortete dieser zu ihrer Überraschung, während er mit der Raspel zu der Straße zeigte, durch die sie gekommen waren. »An der Plaza Sant Jaume.«

Sie rannten die Calle del Bisbe wieder hinunter bis zur Plaza de Sant Jaume. Dort entdeckten sie ein kleines Gebäude, das sich von den übrigen unterschied, mit unzähligen Reliefbildern über dem Portal, zu dem eine kleine Treppe hinaufführte. Die beiden zögerten nicht lange und schlüpften rasch hinein. Innen war es dunkel und kühl. Bevor ihre Augen Zeit hatten, sich an das dämmrige Licht zu gewöhnen, wurden sie von kräftigen Händen an den Schultern gepackt und ebenso schnell die Stufen wieder hinunterbefördert, wie sie hineingekommen waren.

»Wie oft muss ich euch noch sagen, dass ich kein Gerenne in der Kirche Sant Jaume will!«

Arnau und Joanet sahen sich an, ohne den Pfarrer weiter zu beachten. Die Kirche Sant Jaume! Auch dies war nicht die Kirche der Jungfrau Maria, sagten sie sich schweigend.

Als der Pfarrer verschwunden war, rappelten sie sich auf. Sie waren von einer Gruppe von sechs Jungen umringt, die genauso barfuß, zerlumpt und schmutzig waren wie Joanet.

»Mit dem ist nicht gut Kirschen essen«, sagte einer von ihnen, wobei er mit dem Kopf zum Kirchenportal hinüberdeutete.

»Wenn ihr wollt, können wir euch verraten, wo man hineinkann, ohne dass er es merkt«, sagte ein anderer, »aber dann müsst ihr selbst zurechtkommen. Wenn er euch erwischt …«

»Nein, darum geht es uns nicht«, antwortete Arnau. »Kennt ihr noch eine andere Kirche?«

»Man wird euch nirgendwo hineinlassen«, beteuerte ein Dritter.

»Das lasst unsere Sache sein«, entgegnete Joanet.

»Schaut euch den Kleinen an!«, lachte der Älteste von ihnen und kam auf Joanet zu. Er war um einiges größer und Arnau hatte Angst um seinen Freund. »Alles, was auf diesem Platz passiert, ist unsere Sache, kapiert?«, sagte er und gab ihm einen Schubs.

Joanet wollte sich gerade auf den älteren Jungen stürzen, als etwas auf der anderen Seite des Platzes ihre Aufmerksamkeit erregte.

»Ein Jude!«, rief einer der Jungs.

Die ganze Bande rannte in Richtung eines Jungen, auf dessen Brust das gelbe Zeichen prangte. Der kleine Jude nahm die Beine in die Hände, als er merkte, was da auf ihn zukam, und erreichte den Eingang zum Judenviertel, bevor die Bande ihn erwischte. Die Jungen blieben wie angewurzelt vor dem Torbogen stehen. Einer von ihnen war allerdings bei Arnau und Joanet stehen geblieben. Er war noch kleiner als Joanet und hatte mit großen Augen beobachtet, wie diese gegen den Ältesten aufbegehrt hatten.

»Dort drüben ist noch eine Kirche, hinter Sant Jaume«, erklärte er ihnen. »Seht zu, dass ihr hier wegkommt.« Er machte eine Kopfbewegung zu der Gruppe, die jetzt zu ihnen zurückgeschlendert kam. »Pau wird sehr wütend sein und euch dafür büßen lassen. Er ist immer wütend, wenn ihm ein Jude entwischt.«

Arnau wollte Joanet wegziehen, der herausfordernd auf diesen Pau wartete. Aber als er sah, wie die Jungs plötzlich losliefen, gab Joanet dem Drängen seines Freundes nach.

Sie rannten die Straße hinunter in Richtung Meer, aber als sie feststellten, dass Pau und seine Bande ihnen nicht folgten – wahrscheinlich galt ihr Augenmerk eher den Juden, die über ihren Platz gingen –, verlangsamten sie ihre Schritte. Sie waren kaum eine Straße von der Plaza Sant Jaume entfernt, als sie auf eine weitere Kirche stießen. Sie blieben vor der Treppe stehen und sahen sich an. Joanet deutete auf die Tür.

»Lass uns warten«, sagte Arnau.

In diesem Moment kam eine alte Frau aus der Kirche und stieg langsam die Treppe hinunter. Arnau überlegte nicht lange.

»Gute Frau«, sagte er, als sie auf der Straße stand, »was ist das für eine Kirche?«

»Sant Miquel«, antwortete die Frau, ohne stehen zu bleiben.

Arnau seufzte. Sant Miquel.

»Wo gibt es hier noch eine Kirche?«, fragte Joanet dazwischen, als er den enttäuschten Gesichtsausdruck seines Freundes sah.

»Gleich am Ende dieser Straße.«

»Und was ist das für eine?« Mit seiner erneuten Frage weckte er zum ersten Mal die Aufmerksamkeit der Frau.

»Das ist die Kirche Sant Just i Pastor. Weshalb wollt ihr das so genau wissen?«

Die Jungen gaben keine Antwort und ließen die alte Frau stehen, die ihnen hinterhersah, wie sie mit gesenkten Köpfen davonschlichen.

»Alles Männerkirchen!«, entfuhr es Arnau. »Wir müssen eine Frauenkirche finden. Dort ist bestimmt auch die Jungfrau Maria.«

Joanet ging nachdenklich weiter.

»Ich kenne da einen Ort …«, sagte er schließlich. »Da sind nur Frauen. Es ist am Ende der Stadtmauer, gleich am Meer. Er heißt …« Joanet versuchte sich zu erinnern. »Er heißt Santa Clara.«

»Santa Clara ist nicht die Jungfrau Maria.«

»Aber sie ist eine Frau. Bestimmt ist deine Mutter bei ihr. Oder ist sie mit einem Mann zusammen, der nicht dein Vater ist?«

Sie gingen die Calle de la Ciutat entlang bis zum Portal de la Mar, dem Stadttor am Meer, das sich neben der Festung Regomir in der alten römischen Stadtmauer befand. Von dort führte ein Weg zum Konvent Santa Clara, das den östlichen Abschluss der neuen Stadtmauer bildete, gleich am Meer. Nachdem sie die Festung Regomir hinter sich gelassen hatten, wandten sie sich nach links und gingen weiter bis zur Calle de la Mar, die von der Plaza del Blat bis zur Kirche Santa María del Mar führte und weiter in kleinen, parallel verlaufenden Gässchen auslief, die am Strand mündeten. Von dort gelangte man, wenn man die Plaza del Born und den Pia d'en Llull überquerte, durch die Calle de Santa Clara zu dem gleichnamigen Kloster.

Trotz des unbedingten Wunsches, die Kirche zu finden, nach der sie suchten, konnte keiner der beiden Jungen dem Impuls widerstehen, an den Ständen der Silberschmiede zu verweilen, die sich zu beiden Seiten der Calle de la Mar befanden. Barcelona war eine prosperierende, reiche Stadt, und die zahllosen kostbaren Gegenstände, die an diesen Ständen feilgeboten wurden, waren ein guter Beleg dafür: Silbergeschirr, Krüge und Becher aus wertvollen Metallen mit eingearbeiteten Edelsteinen, Ketten, Armbänder und Ringe, Gürtel, eine schier endlose Menge von Kunstwerken, die in der Sommersonne funkelten und auf die Arnau und Joanet einen Blick zu erhaschen versuchten, bevor der Goldschmied sie zum Weitergehen nötigte.

Während sie vor dem Lehrling eines der Silberschmiede Reißaus nahmen, gelangten sie zur Plaza de Santa María. Zu ihrer Rechten lag ein kleiner Friedhof, der Fossar Mayor, zu ihrer Linken die Kirche.

»Nach Santa Clara müssen wir dort entlang …«, begann Joanet, doch dann verstummte er. Das hier war beeindruckend!

»Wie sie das wohl gemacht haben?«, fragte sich Arnau, während er mit offenem Mund dastand.

Vor ihnen erhob sich eine mächtige, trutzige Kirche, streng, abweisend, gedrungen, ohne Fenster und mit außergewöhnlich dicken Mauern. Rund um den Kirchenbau hatte man das Gelände geräumt und eingeebnet. Überall waren Pflöcke in den Boden geschlagen, die durch Seile miteinander verbunden waren und geometrische Figuren bildeten.

Rings um die Apsis der kleinen Kirche erhoben sich zehn schlanke Säulen von sechzehn Metern Höhe, deren weißer Stein unter den Gerüsten hervorstrahlte, von denen sie umgeben waren.

Die hölzernen Gerüste, die am hinteren Teil der Kirche angebracht waren, wuchsen wie riesige Treppen nach oben. Selbst aus der Ferne musste Arnau den Kopf in den Nacken legen, um das Ende der Gerüste zu sehen, das weit oberhalb der Säulen lag.

»Gehen wir weiter«, drängte Joanet, als er lange genug das gefährliche Hin und Her der Arbeiter auf den Gerüsten beobachtet hatte. »Das ist bestimmt wieder eine Kathedrale.«

»Es ist keine Kathedrale«, hörten sie eine Stimme hinter sich. Arnau und Joanet blickten sich an und lächelten. Dann drehten sie sich um und sahen den kräftigen, schwitzenden Mann, der einen riesigen Steinquader auf dem Rücken trug, fragend an. Was ist es dann?, schien Joanet mit seinem Lächeln sagen zu wollen.

»Die Kathedrale wird von den Adligen und der Stadt finanziert. Diese Kirche hingegen, die noch viel bedeutender und schöner sein wird als die Kathedrale, wird vom Volk bezahlt und gebaut.«

Der Mann war nicht einmal stehen geblieben. Das Gewicht des Steins schien ihn vorwärts zu treiben. Aber er hatte ihnen zugelächelt.

Die beiden Jungen folgten ihm bis zur Seitenmauer der Kirche, an die ein weiterer Friedhof grenzte, der Fossar Menor.

»Können wir Euch helfen?«, fragte Arnau.

Der Mann schnaufte, bevor er sich umwandte und erneut lächelte.

»Vielen Dank, mein Junge, aber besser nicht.«

Schließlich bückte er sich und wuchtete den Stein auf den Boden. Die Jungen blickten sich an und Joanet trat näher heran. Er versuchte, den Stein zu bewegen, doch es gelang ihm nicht. Der Mann brach in schallendes Lachen aus, das Joanet mit einem Lächeln beantwortete.

»Wenn es keine Kathedrale ist, was ist es dann?«, fragte Arnau, wobei er auf die achteckigen Säulen deutete.

»Das hier ist die neue Kirche, die das Ribera-Viertel in Dankbarkeit und Verehrung für unsere Schutzpatronin, die Jungfrau, erbaut …«

Arnau zuckte zusammen. »Die Jungfrau Maria?«, unterbrach er ihn mit weit aufgerissenen Augen.

»Natürlich, mein Junge«, antwortete der Mann und fuhr ihm übers Haar. »Die Jungfrau Maria, Schutzpatronin des Meeres.«

»Und … und wo ist die Jungfrau Maria?«, fragte Arnau weiter und sah zur Kirche herüber.

»Dort drüben in der kleinen Kirche. Aber wenn dieser Bau fertig ist, wird sie das größte Gotteshaus ihr Eigen nennen, das sie je besaß.«

Dort drinnen! Arnau hörte nicht mehr länger zu. Dort drinnen war seine Jungfrau. Plötzlich war ein Rauschen zu hören und alle blickten nach oben: Ein Schwarm Vögel war vom obersten Gerüst aufgeflogen.

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