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Ostern 1367


Barcelona


Arnau kniete vor dem Gnadenbild seiner Madonna, während die Priester die Ostermesse zelebrierten. Er hatte die Kirche gemeinsam mit Elionor betreten. Das Gotteshaus war überfüllt, aber die Leute machten Platz, damit er in die erste Reihe gelangen konnte. Er erkannte ihre lächelnden Gesichter wieder: Dieser hatte ihn um eine Anleihe für sein neues Boot gebeten, jener hatte ihm seine Ersparnisse anvertraut; ein anderer hatte sich Geld für die Aussteuer seiner Tochter geliehen, und jener dort hatte seine Schulden noch nicht beglichen. Der Letztgenannte sah beschämt zu Boden, doch Arnau blieb vor ihm stehen und reichte ihm zu Elionors Unmut die Hand.

»Der Friede sei mit dir«, sagte er.

Die Augen des Mannes begannen zu strahlen und Arnau ging weiter zum Hauptaltar. Das war alles, was er besaß, sagte er der Jungfrau: die Wertschätzung der einfachen Leute, denen er half. Joan war immer noch auf der Jagd nach armen Sündern und von Guillem hatte er nichts mehr gehört. Und Mar? Was konnte er über Mar sagen?

Elionor stieß ihm gegen das Schienbein. Als Arnau sie ansah, gab sie ihm zu verstehen, er solle sich erheben. »Hat man schon einmal einen Adligen gesehen, der so lange niederkniet wie du?«, hatte sie ihm schon mehrmals vorgeworfen. Arnau achtete nicht weiter auf sie, doch Elionor trat ihm erneut gegen das Schienbein.

Das war alles, was er hatte. Eine Frau, für die nichts wichtiger war als der äußere Schein – außer vielleicht, dass er sie zur Mutter machte. Sollte er? Sie wollte nur einen Erben, einen Sohn, der ihre Zukunft sicherte. Elionor stieß ihn erneut an. Als Arnau sie anblickte, sah seine Frau zu den anderen Adligen herüber, die sich in der Kirche Santa María befanden. Einige standen, die meisten jedoch saßen. Nur Arnau kniete.

»Frevel!«

Der Schrei hallte durch die ganze Kirche. Die Priester verstummten. Arnau stand auf und alle wandten sich dem Hauptportal zu.

»Frevel!«, war erneut zu hören.

Mehrere Männer bahnten sich den Weg zum Altar. »Gotteslästerung! Häresie! Teufel! Juden!«, riefen sie. Sie sprachen mit den Priestern, doch einer von ihnen wandte sich an die Gläubigen: »Die Juden haben eine geweihte Hostie geschändet!«, rief er.

Ein Raunen ging durch die Menge.

»Nicht genug damit, dass sie Jesus Christus getötet haben«, rief der Mann vom Altar herab, »nun entweihen sie auch noch seinen Leib!«

Das anfängliche Raunen schwoll zu einem empörten Geschrei an. Arnau wandte sich zu der Menge um, doch zuvor traf sein Blick auf Elionor.

»Deine Judenfreunde«, sagte sie.

Arnau wusste, was seine Gattin meinte. Seit Mars Verheiratung hielt er es zu Hause nicht mehr aus und ging oft abends zu seinem alten Freund Hasdai Crescas, um bis spät in die Nacht mit ihm zu plaudern. Bevor Arnau Elionor eine Antwort geben konnte, begannen auch die anwesenden Adligen und Ratsherren zu diskutieren.

»Sie wollen Christus noch im Tod Schmerz zufügen«, sagte einer.

»Sie sind von Gesetzes wegen gezwungen, an Ostern in ihren Häusern zu bleiben und Türen und Fenster geschlossen zu halten. Wie also sollen sie das gemacht haben?«, fragte ein anderer, der neben ihm stand.

»Sie werden sich davongeschlichen haben«, mutmaßte ein anderer.

»Und die Kinder?«, setzte ein Dritter hinzu. »Bestimmt haben sie auch ein Christenkind entführt, um es zu kreuzigen und sein Herz zu essen …«

»Und sein Blut zu trinken.«

Arnau sah wie gebannt zu dem Grüppchen wutentbrannter Adliger hinüber. Wie konnten sie nur so etwas glauben? Er begegnete erneut Elionors Blick. Sie lächelte.

»Deine Freunde«, wiederholte seine Frau mit Nachdruck.

In diesem Moment begann in der Kirche der Ruf nach Rache laut zu werden. »Auf zum Judenviertel!«, stachelten sie sich gegenseitig an, »Ketzer!« und »Gotteslästerer!« brüllend. Arnau sah, wie sie zum Ausgang der Kirche drängten. Die Adligen blieben zurück.

»Wenn du dich nicht beeilst«, hörte er Elionor sagen, »kommst du nicht mehr ins Judenviertel.«

Arnau betrachtete seine Frau, dann sah er zu seiner Madonna auf. Das Geschrei begann sich in der Calle de la Mar zu verlieren.

»Warum dieser Hass, Elionor? Hast du nicht alles, was du willst?«

»Nein, Arnau, und das weißt du. Ich will das, was du deinen Judenfreunden gibst.«

»Was meinst du damit?«

»Dich, Arnau, dich. Du weißt genau, dass du noch nie deinen ehelichen Pflichten nachgekommen bist.«

Arnau erinnerte sich, wie oft er Elionors Annäherungsversuche zurückgewiesen hatte, zuerst zaghaft, um sie nicht zu verletzen, später schroff und ohne lange Umschweife.

»Der König hat mich gezwungen, dich zu heiraten. Von der Befriedigung deiner Bedürfnisse hat er nichts gesagt«, warf er ihr entgegen.

»Der König vielleicht nicht«, entgegnete sie, »wohl aber die Kirche.«

»Gott kann mich nicht zwingen, mich zu dir zu legen!«

Elionor nahm die Worte ihres Mannes mit starrem Blick auf. Dann wandte sie den Kopf langsam in Richtung Hauptaltar. Sie waren alleine in der Kirche zurückgeblieben, mit Ausnahme von drei Priestern, die schweigend die Auseinandersetzung des Ehepaares mitverfolgten. Auch Arnau sah zu den drei Priestern hinüber. Als sich die Blicke der Ehepartner erneut trafen, kniff Elionor die Augen zusammen.

Sie sagte nichts mehr. Arnau kehrte ihr den Rücken und ging zum Ausgang der Kirche.

»Geh doch zu deiner jüdischen Geliebten!«, schrie ihm Elionor hinterher.

Ein Schauder lief Arnau über den Rücken.

In diesem Jahr bekleidete Arnau erneut das Amt des Seekonsuls. In Festtagskleidung machte er sich auf den Weg zum Judenviertel. Während er durch die Calle de la Mar zur Plaza del Blat und von dort die Bajada de la Presó hinunter zur Kirche Sant Jaume ging, wurden die Schreie der Menge immer lauter. Das Volk schrie nach Rache und drängte sich vor den von königlichen Soldaten geschützten Toren des Judenviertels. Trotz des Tumults gelangte Arnau problemlos durch die Menge.

»Das Judenviertel darf nicht betreten werden, ehrenwerter Herr Konsul«, sagte der Hauptmann der Wache. »Wir warten auf Anweisungen des königlichen Statthalters, Infant Don Juan, König Pedros Sohn.«

Und die Anweisungen kamen. Am nächsten Morgen ordnete der Infant an, alle Juden Barcelonas ohne Wasser und Nahrung in der großen Synagoge einzusperren, bis sich diejenigen stellten, die den Hostienfrevel begangen hatten.

»Fünftausend Menschen«, murmelte Arnau in seinem Arbeitszimmer in der Börse, als man ihm die Nachricht überbrachte. »Fünftausend Menschen in der Synagoge zusammengepfercht, ohne Wasser und ohne Nahrung! Was wird aus den Kindern, den Neugeborenen? Was erhofft sich der Infant davon? Wie kann man so dumm sein, zu erwarten, dass sich ein Jude für schuldig erklärt, eine Hostie entweiht zu haben? Wie blöd muss man sein, um zu glauben, dass jemand sein eigenes Todesurteil unterschreibt?«

Arnau schlug mit der Faust auf den Tisch und sprang auf. Der Diener, der ihm die Nachricht überbracht hatte, zuckte zusammen.

»Ruf die Wachen«, wies er ihn an.

Der Seekonsul eilte in Begleitung eines halben Dutzends bewaffneter Missatges durch die Stadt. Die Tore zum Judenviertel standen weit offen, immer noch von königlichen Soldaten bewacht. Die Menge davor hatte sich zerstreut, doch an die hundert Schaulustige versuchten trotz der Stöße und Hiebe der Soldaten einen Blick ins Innere zu erhaschen.

»Wer ist hier zuständig?«, fragte Arnau den Hauptmann vor dem Portal.

»Der Stadtrichter. Er ist drinnen«, antwortete dieser.

»Gebt ihm Bescheid.«

Kurz darauf erschien der Stadtrichter.

»Was willst du hier, Arnau?«, erkundigte er sich, während er ihm die Hand reichte.

»Ich möchte mit den Juden sprechen.«

»Der Infant hat angeordnet, dass …«

»Ich weiß«, unterbrach ihn Arnau. »Genau deshalb muss ich mit ihnen sprechen. Viele meiner Geschäfte betreffen die Juden. Ich muss mit ihnen sprechen.«

»Aber der Infant …«, begann der Stadtrichter erneut.

»Der Infant lebt von den Juden im Land! Zwölftausend Sueldos jährlich müssen sie ihm auf Geheiß des Königs zahlen.« Der Stadtrichter nickte. »Der Infant mag ein Interesse daran haben, die Schuldigen der Hostienschändung ausfindig zu machen, doch du kannst gewiss sein, dass er auch ein Interesse daran hat, dass die Geschäfte der Juden weiterlaufen. Vergiss nicht, dass die Juden von Barcelona den größten Beitrag zu den zwölftausend Sueldos leisten.«

Der Stadtrichter hatte nichts weiter zu entgegnen und ließ Arnau und seine Begleiter passieren.

»Sie sind in der großen Synagoge«, erklärte er.

»Ich weiß.«

Obwohl sämtliche Juden eingesperrt waren, herrschte im Judenviertel reges Treiben. Im Vorübergehen sah Arnau, wie ein Schwarm schwarzgekleideter Mönche auf der Suche nach der blutenden Hostie jedes einzelne jüdische Haus durchsuchte.

Vor den Toren der Synagoge hielten königliche Soldaten Wache.

»Ich muss mit Hasdai Crescas sprechen.«

Der Hauptmann wollte widersprechen, doch der Wachsoldat, der sie zur Synagoge begleitet hatte, nickte zustimmend.

Während er auf Hasdai wartete, betrachtete Arnau das Judenviertel. Vor den Häusern, deren Türen sämtlich offen standen, bot sich ein trauriges Schauspiel. Die Mönche gingen ein und aus, beladen mit Gegenständen, die sie anderen Mönchen zeigten. Diese begutachteten die Fundstücke und schüttelten die Köpfe, um die Objekte dann auf den Boden zu werfen, der bereits mit den Besitztümern der Juden übersät war. »Wer schändet hier was?«, fragte sich Arnau.

»Ehrenwerter Konsul«, hörte er eine Stimme hinter sich sagen.

Arnau drehte sich um. Vor ihm stand Hasdai. Er sah in die Augen seines Freundes, die sich mit Tränen füllten, als er sah, wie ihr persönlicher Besitz geplündert wurde. Arnau befahl sämtlichen Soldaten, sich zurückzuziehen. Die Missatges gehorchten, die königlichen Soldaten hingegen rührten sich nicht von der Stelle.

»Interessiert ihr euch für die Angelegenheiten des Seekonsulats?«, fragte Arnau. »Geht zu meinen Männern. Die Angelegenheiten des Konsulats sind geheim.«

Widerstrebend gehorchten die Soldaten. Arnau und Hasdai sahen sich an.

»Ich würde dich gerne umarmen«, sagte Arnau, als sie niemand mehr hören konnte.

»Besser nicht.«

»Wie geht es euch?«

»Schlecht, Arnau. Sehr schlecht. Wir Alten sind nicht wichtig, und die Jungen werden durchhalten, aber die Kinder haben seit Stunden nichts gegessen und getrunken. Es sind einige Neugeborene darunter. Wenn den Müttern die Milch versiegt … Wir sind erst seit einigen Stunden eingeschlossen, doch die Bedürfnisse des Körpers …«

»Kann ich euch helfen?«

»Wir haben versucht zu verhandeln, aber der Stadtrichter will uns nicht anhören. Du weißt, dass es nur einen Weg gibt: Erkaufe unsere Freiheit.«

»Wie viel soll ich …?«

Hasdais Blick hinderte ihn am Weitersprechen. Wie viel war das Leben von fünftausend Juden wert?

»Ich vertraue auf dich, Arnau. Meine Gemeinde ist in Gefahr.«

Arnau reichte ihm die Hand.

»Wir vertrauen auf dich«, sagte Hasdai noch einmal und erwiderte Arnaus Händedruck.

Erneut kam Arnau an den schwarzen Mönchen vorbei. Ob sie die blutende Hostie bereits gefunden hatten? Der Hausrat und nun auch die Möbel türmten sich in den Gassen. Beim Verlassen des Judenviertels nickte er dem Stadtrichter zu. Er würde am Nachmittag bei ihm vorsprechen, doch wie viel sollte er für das Leben eines Menschen bieten? Und für das Leben einer ganzen Gemeinde? Arnau hatte mit allen möglichen Waren gehandelt – Stoffen, Gewürzen, Getreide, Vieh, Schiffen, Gold und Silber –, er kannte auch die Sklavenpreise, doch was war ein Freund wert?


Arnau verließ das Judenviertel und ging nach links die Banys Nous hinunter, über die Plaza del Blat und die Calle Carders entlang, doch kurz vor der Calle de Monteada blieb er abrupt stehen. Wozu nach Hause gehen? Um Elionor zu begegnen? Er machte kehrt und ging durch die Calle de la Mar zu seiner Wechselstube. Seit dem Tag, an dem er Mars Vermählung zugestimmt hatte, ließ Elionor ihm keine Ruhe mehr. Zunächst hatte sie es mit Schmeichelei versucht, ihn sogar Liebster genannt! Bislang hatte sie sich weder für seine Geschäfte interessiert noch dafür, was er gerne aß oder wie es ihm ging. Als diese Taktik nicht aufging, beschloss Elionor, zum direkten Angriff überzugehen. »Ich bin eine Frau«, sagte sie eines Tages zu ihm. Der Blick, mit dem Arnau sie bedachte, schien ihr nicht zu gefallen, denn sie sagte nichts mehr. Doch einige Tage später fing sie wieder damit an: »Wir müssen unsere Ehe vollziehen. Wir leben in Sünde.«

»Seit wann interessierst du dich für mein Seelenheil?«, entgegnete Arnau.

Elionor gab trotz der Zurückweisung ihres Mannes nicht auf und beschloss schließlich, mit Pater Juli Andreu zu sprechen, einem der Priester von Santa María, und ihm die Angelegenheit darzulegen. Er hatte ganz gewiss Interesse am Seelenheil seiner Gläubigen, von denen Arnau einer der Beliebtesten war. Gegenüber dem Priester konnte sich Arnau nicht herausreden, wie er es bei Elionor tat.

»Ich kann nicht, Pater«, erklärte er, als dieser ihn eines Tages in der Kirche abpasste.

Und das entsprach der Wahrheit. Kurz nachdem Arnau Mar an Felip de Ponts übergeben hatte, hatte er versucht, das Mädchen zu vergessen und – warum nicht? – eine eigene Familie zu gründen. Er war einsam. Alle Menschen, die er liebte, waren aus seinem Leben verschwunden. Er konnte Kinder bekommen, mit ihnen spielen, sie umsorgen und in ihnen das finden, was ihm fehlte, und das alles war nur mit Elionor möglich. Doch wenn er sah, wie sie seine Nähe suchte, ihm durch die Räume des Palastes folgte, wenn er ihre falsche, gekünstelte Stimme hörte, die so ganz anders klang als die Stimme, mit der sie ihn bisher behandelt hatte, brachen all seine Vorsätze in sich zusammen.

»Was wollt Ihr damit sagen, mein Sohn?«, fragte ihn der Pfarrer.

»Der König hat mich zur Heirat mit Elionor gezwungen, Pater. Er hat mich nie gefragt, ob mir seine Ziehtochter gefällt.«

»Die Baronin …«

»Die Baronin zieht mich nicht an, Pater. Mein Körper verweigert sich.«

»Ich kann dir einen guten Arzt empfehlen …«

Arnau lächelte.

»Nein, nein, Pater. Darum geht es nicht. Körperlich fehlt mir nichts. Es ist nur …«

»Dann müsst Ihr Euch zwingen, Eure ehelichen Pflichten zu erfüllen. Unser Herr erwartet …«

Arnau ließ die Predigt des Pfarrers über sich ergehen, bis er sich vorstellte, wie Elionor sich bei ihm einschmeichelte, wie sie ihn bedrängte, wie sie Gift und Galle spuckte.

»Pater«, fiel er dem Priester ins Wort, »ich kann meinen Körper nicht zwingen, eine Frau zu begehren, die ich nicht begehre.« Der Priester wollte etwas sagen, doch Arnau sprach weiter. »Ich habe geschworen, meiner Frau die Treue zu halten, und das tue ich. Niemand kann mir das Gegenteil vorwerfen. Ich bin häufig hier, um zu beten, und gebe Geld für Santa María. Mir scheint, mein Beitrag zum Bau dieser Kirche ist Sühne genug für die Schwächen meines Körpers.«

Der Priester hörte auf, seine Hände zu kneten.

»Mein Sohn …«

Der Priester durchforstete sein schmales theologisches Wissen, um Arnaus Argumente zu entkräften, was ihm indes nicht gelang. Schließlich ging er rasch davon und verschwand zwischen den Handwerkern von Santa María. Als Arnau wieder alleine war, kniete er vor seiner Jungfrau nieder.

»Ich denke nur an sie, Mutter. Weshalb hast du zugelassen, dass ich sie Felip de Ponts überließ?«

Seit ihrer Heirat mit Felip de Ponts hatte er Mar nicht wiedergesehen. Als dieser wenige Monate nach der Vermählung gestorben war, hatte er versucht, Kontakt zu der Witwe aufzunehmen, doch Mar wollte ihn nicht sehen. Vielleicht war es besser so, sagte sich Arnau. Der Schwur vor der Jungfrau war nun eine stärkere Fessel als je zuvor: Er war dazu verdammt, einer Frau die Treue zu halten, die ihn nicht liebte und die er nicht lieben konnte. Und dem einzigen Menschen zu entsagen, mit dem er glücklich gewesen war …


»Hat man die Hostie schon gefunden?«, fragte Arnau den Stadtrichter, als sie sich in dessen Amtssitz an der Plaza del Blat gegenübersaßen.

»Nein«, antwortete dieser.

»Ich habe mit den Ratsherren der Stadt gesprochen«, sagte Arnau, »und sie sind meiner Meinung. Die Festnahme der gesamten jüdischen Gemeinde kann den Geschäftsinteressen Barcelonas ernstlichen Schaden zufügen. Die Schifffahrtssaison hat gerade begonnen. Wenn du in den Hafen gehst, wirst du so manches Schiff sehen, das nur darauf wartet, ablegen zu können. Sie haben Warenlieferungen von Juden an Bord. Entweder müssen sie diese wieder löschen oder auf die Händler warten, die mitreisen sollen. Das Problem ist, dass nicht die gesamte Fracht den Juden gehört. Es sind auch Waren von Christen dabei.«

»Weshalb lädt man sie nicht einfach wieder aus?«

»Weil damit der Frachtpreis für die Waren der Christen steigen würde.«

Der Stadtrichter hob ohnmächtig die Hände.

»Bringt die Waren der Juden und der Christen auf gesonderte Schiffen«, schlug er schließlich als Lösung vor.

Arnau schüttelte den Kopf.

»Das geht nicht. Nicht alle Schiffe haben denselben Bestimmungsort. Du weißt doch, dass die Schifffahrtsperiode kurz ist. Wenn die Schiffe nicht auslaufen, kommt der gesamte Handel ins Stocken, und sie kehren nicht rechtzeitig zurück. Ihnen entgeht die eine oder andere Fahrt und das wird den Preis für die Waren in die Höhe treiben. Wir alle werden Geld verlieren.« Auch du, dachte Arnau. »Zum anderen ist es gefährlich für die Schiffe, im Hafen von Barcelona abzuwarten. Wenn ein Sturm aufkommt …«

»Und was schlägst du vor?«

Lasst sie alle frei, hätte er am liebsten gesagt. Sagt den Mönchen, sie sollen aufhören, in ihren Häusern herumzuschnüffeln. Gebt ihnen zurück, was ihnen gehört. Doch er sagte: »Belegt die jüdische Gemeinde mit einer Geldstrafe.«

»Das Volk will Schuldige sehen, und der Infant hat versprochen, sie zu finden. Die Schändung einer Hostie …«

»Die Schändung einer Hostie wird sie teurer zu stehen kommen als jedes andere Vergehen«, fiel ihm Arnau ins Wort. Warum diskutieren? Die Juden waren beschuldigt und verurteilt worden, ganz gleich, ob die blutende Hostie auftauchte oder nicht. Der Stadtrichter sah ihn skeptisch und mit gerunzelter Stirn an. »Weshalb versuchst du es nicht? Wenn es uns gelingt, sind die Juden die Einzigen, die zahlen. Andernfalls wird es ein schlechtes Jahr für den Handel, und wir alle zahlen drauf.«


Umgeben von Handwerkern, Lärm und Staub, sah Arnau zu dem Schlussstein empor, der das zweite der vier Mittelschiffjoche der Kirche Santa María krönte, das zuletzt fertiggestellt worden war. Auf dem großen Schlussstein war die Verkündigungsszene zu sehen, mit einer knienden Maria im roten, goldverbrämten Mantel, der ein Engel die frohe Botschaft verkündete. Die leuchtenden Farben, das Rot und Blau, insbesondere aber das Gold, nahmen Arnaus Blick gefangen.

Es war eine wunderschöne Szene.

Der Stadtrichter hatte Arnaus Argumente abgewogen und schließlich eingewilligt. Fünfundzwanzigtausend Libras und fünfzehn Schuldige! So hatte das Angebot des Stadtrichters am nächsten Tag gelautet, nachdem er Rücksprache am Hof des Infanten Don Juan gehalten hatte.

»Fünfzehn Schuldige? Ihr wollt wegen der Heimtücke von vier Lügnern fünfzehn Menschen hinrichten?«

Der Stadtrichter hieb mit der Faust auf den Tisch.

»Diese Lügner sind die heilige katholische Kirche.«

»Du weißt genau, dass das nicht stimmt«, entgegnete Arnau.

Die beiden Männer sahen sich an.

»Keine Schuldigen«, erklärte Arnau.

»Unmöglich. Der Infant …«

»Keine Schuldigen! Fünfundzwanzigtausend Libras sind ein Vermögen.«

Arnau verließ den Palast des Stadtrichters ohne festes Ziel. Was sollte er Hasdai sagen? Dass fünfzehn von ihnen sterben sollten? Aber er bekam das Bild der fünftausend Menschen nicht aus dem Kopf, die ohne Wasser und ohne Nahrung in einer Synagoge eingepfercht waren …

»Wann kann ich mit einer Antwort rechnen?«, fragte er den Stadtrichter.

»Der Infant ist auf der Jagd.«

Auf der Jagd! Fünftausend Menschen wurden auf sein Geheiß gefangen gehalten, und er war zur Jagd gegangen. Von Barcelona zu den Besitzungen des Infanten in Gerona, der zugleich Graf von Gerona und Cervera war, waren es nicht mehr als drei Stunden zu Pferde, doch Arnau musste bis zum Abend des folgenden Tages warten, bevor er zum Stadtrichter bestellt wurde.

»Fünfunddreißigtausend Libras und fünf Schuldige.«

Tausend Libras für jeden Schuldigen weniger. Vielleicht war das der Preis eines Menschen, dachte Arnau.

»Vierzigtausend ohne Schuldige.«

»Nein.«

»Ich werde mich an den König wenden.«

»Du weißt doch, dass der König genug mit dem Krieg gegen Kastilien zu tun hat, um sich nicht auch noch mit seinem Sohn herumzuärgern. Schließlich hat er ihn zu seinem Stellvertreter ernannt.«

»Fünfundvierzigtausend, aber ohne Schuldige.«

»Nein, Arnau, nein …«

»Frag ihn!«, entfuhr es Arnau. »Ich bitte dich«, setzte, er, milder, hinzu.


Der Gestank, der aus der Synagoge drang, schlug Arnau bereits entgegen, als er noch ein gutes Stück entfernt war. In den Gassen des Judenviertels sah es noch verheerender aus als beim letzten Mal. Überall lagen Möbel und Hausrat der Juden herum. Aus dem Inneren der Häuser war das Hämmern der schwarzen Mönche zu hören, die auf der Suche nach dem Leib Christi Wände und Fußböden aufmeißelten. Arnau musste sich zusammenreißen, um ruhig zu erscheinen, als er Hasdai entgegentrat, der diesmal in Begleitung zweier Rabbiner und weiterer Vertreter der Gemeinde war. Arnaus Augen brannten. War es wegen des beißenden Uringestanks, der aus der Synagoge drang, oder wegen der Nachrichten, die er ihnen überbringen musste?

Arnau beobachtete die Männer, die ihre Lungen mit frischer Luft füllten, während aus dem Gebäude Jammern und Stöhnen zu hören war. Wie mochte es da drinnen sein? Die Männer blickten auf die verwüsteten Straßen des Judenviertels, und für einen Moment stockte ihnen der Atem.

»Sie fordern Schuldige«, sagte Arnau, als sich die fünf wieder gefasst hatten. »Wir haben mit fünfzehn begonnen. Jetzt sind wir bei fünf, und ich habe die Hoffnung, dass …«

»Wir können nicht länger warten, Arnau Estanyol«, unterbrach ihn einer der Rabbiner. »Heute ist ein alter Mann gestorben. Er war krank, aber unsere Ärzte konnten nichts für ihn tun, sie konnten ihm nicht einmal die Lippen benetzen. Sie erlauben uns nicht, ihn zu bestatten. Weißt du, was das bedeutet?« Arnau nickte. »Morgen wird sich der Verwesungsgestank breitmachen …«

»Wir können uns kaum rühren in der Synagoge«, sagte Hasdai. »Die Leute können nicht aufstehen, um ihre Notdurft zu verrichten. Die Mütter haben keine Milch mehr. Sie haben die Neugeborenen und auch die anderen Kinder gesäugt, um ihren Durst zu stillen. Wenn wir noch lange warten, sind fünf Schuldige eine Kleinigkeit.«

»Und fünfundvierzigtausend Libras«, ergänzte Arnau.

»Was interessiert uns das Geld, wenn uns allen der Tod droht?«, erklärte der andere Rabbiner.

»Und nun?«, fragte Arnau.

»Versuch es weiter, Arnau«, bat ihn Hasdai.

Zehntausend Libras mehr machten dem Boten des Infanten Beine – vielleicht machte er sich gar nicht erst auf den Weg. Arnau wurde am nächsten Morgen vorgeladen. Drei Schuldige.

»Sie sind Menschen!«, hielt Arnau dem Stadtrichter vor.

»Sie sind Juden, Arnau. Sie sind nur Juden. Ketzer im Eigentum der Krone. Ohne die Gunst des Königs wären sie längst tot, und nun hat der König beschlossen, dass drei von ihnen für den Hostienfrevel büßen sollen. Das Volk verlangt danach.«

Seit wann gab der König etwas auf die Meinung seines Volkes?, dachte Arnau.

»Außerdem wären damit die Probleme des Seekonsulats gelöst«, erklärte der Stadtrichter.

Der Leichnam des alten Mannes, die ausgedörrten Brüste der Mütter, die weinenden Kinder, das Stöhnen und der Gestank – das alles bewegte Arnau dazu, dem Vorschlag zuzustimmen. Der Stadtrichter lehnte sich in seinem Lehnstuhl zurück.

»Zwei Bedingungen«, ergänzte Arnau und zwang seinen Gesprächspartner erneut zur Aufmerksamkeit. »Sie wählen die Schuldigen selbst aus.« Der Stadtrichter nickte. »Und der Bischof muss der Vereinbarung zustimmen und zusichern, dass er die Gläubigen beruhigt.«

»Das habe ich bereits veranlasst, Arnau. Glaubst du, ich sähe gerne ein neuerliches Blutbad im Judenviertel?«


Die Prozession machte sich im Judenviertel auf den Weg. Die Fenster und Türen der Häuser waren verschlossen und die mit Mobiliar übersäten Straßen menschenleer. Die Stille im Judenviertel stand im Kontrast zu dem Lärm, der vor den Toren herrschte, wo sich eine Menschenmenge um den im Mittelmeerlicht goldschimmernden Bischof und eine Unzahl von Priestern und schwarzen Mönchen drängten. Zwei Reihen Soldaten trennten die Geistlichen vom Volk.

Ein Schrei erhob sich in den Himmel, als die drei Gestalten vor den Toren des Judenviertels erschienen. Die Leute reckten die geballten Fäuste in die Höhe, und ihre Schmährufe gingen in dem metallischen Geräusch unter, mit dem die Soldaten ihre Schwerter zogen, um den Zug zu schützen. Zwei Reihen schwarzer Mönche nahmen die an Händen und Füßen gefesselten Gestalten in ihre Mitte, und angeführt durch den Bischof von Barcelona, setzte sich die Prozession in Bewegung. Die Gegenwart der Soldaten und der Dominikanermönche konnte nicht verhindern, dass das Volk die drei Beschuldigten, die sich mühsam voranschleppten, mit Steinen bewarf und bespuckte.

Arnau befand sich in der Kirche Santa María, um zu beten. Er hatte die Nachricht ins Judenviertel gebracht, wo er von Hasdai, den Rabbinern und den Vertretern der Gemeinde vor der Synagoge empfangen wurde.

»Drei Schuldige«, sagte er und versuchte, ihre Blicke auszuhalten. »Ihr … Ihr könnt sie selbst auswählen.«

Niemand sagte ein Wort. Sie betrachteten einfach die Gassen des Judenviertels, in Gedanken bei dem Jammern und Klagen, das aus dem Gotteshaus drang. Arnau hatte nicht den Mut, ein weiteres Mal zu verhandeln, und rechtfertigte sich vor dem Stadtrichter, als er aus dem Judenviertel kam.

»Es sind drei Unschuldige. Du weißt genauso gut wie ich, dass die Sache mit der Hostienschändung nicht stimmt.«


Arnau hörte das Johlen der Menge entlang der Calle de la Mar. Es erfüllte die Kirche, drang durch die noch unvollendeten Portale und stieg über die hölzernen Gerüste bis in die Gewölbekuppeln hinauf. Drei Unschuldige! Wie mochten sie ihre Wahl getroffen haben? Hatten die Rabbiner entschieden oder hatten sich Freiwillige gefunden? Auf einmal dachte Arnau daran, wie Hasdai die Gassen des Judenviertels betrachtet hatte. Was war es, das er in seinen Augen gesehen hatte? Resignation? War es nicht der Blick eines Menschen gewesen, der … der sich verabschiedete? Arnau zitterte. Seine Beine gaben nach und er musste sich an der Bank festklammern. Die Prozession näherte sich Santa María. Das Johlen wurde lauter. Arnau erhob sich und sah zu dem Portal hinüber, das auf den Vorplatz führte. Die Prozession würde gleich dort eintreffen. Er blieb in der Kirche und sah auf den Platz hinaus, bis die Schmährufe der Leute ganz nah waren.

Arnau rannte zur Tür. Niemand hörte seinen Schrei. Niemand sah ihn weinen. Niemand sah, wie er auf die Knie fiel, als er Hasdai mit müden Schritten und in Ketten vorüberziehen sah, während Beschimpfungen, Steine und Spucke auf ihn herabregneten. Als Hasdai an der Kirche Santa María vorbeiging, galt sein Blick nur dem Mann, der dort kniete und mit den Fäusten auf den Boden einhieb. Arnau jedoch sah ihn nicht und hieb immer weiter auf die Erde ein, bis die Prozession vorüber war und der Boden sich rot färbte. Da kniete jemand vor ihm nieder und fasste ihn sanft bei den Händen.

»Mein Vater würde nicht wollen, dass du dich seinetwegen grämst«, sagte Raquel, als Arnau aufblickte.

»Sie … Sie werden ihn töten.«

»Ja, ich weiß.«

Arnau betrachtete das Gesicht des Mädchens, das mittlerweile zur Frau geworden war. Genau hier, unter dieser Kirche, hatte er sie vor vielen Jahren versteckt. Raquel weinte nicht. Trotz der Gefahr trug sie die Kleidung mit dem gelben Zeichen, das sie als Jüdin auswies.

»Wir müssen jetzt stark sein«, sagte ihm das kleine Mädchen, als das er sie in Erinnerung hatte.

»Warum, Raquel? Warum er?«

»Er tut es für mich. Für Jucef. Für meine und Jucefs Kinder, seine Enkel. Für seine Freunde. Für alle Juden von Barcelona. Er sagte, er sei schon alt und habe genug gelebt.«

Arnau ließ sich von Raquel aufhelfen und gemeinsam folgten sie dem Gejohle.

Sie wurden bei lebendigem Leib verbrannt. Man hatte sie an Pfähle gebunden, um die herum Reisig und Holz aufgeschichtet war. Diese wurden in Brand gesteckt, ohne dass die Racherufe der Christen auch nur einen Moment verstummten. Als die Flammen seinen Körper erreichten, blickte Hasdai zum Himmel auf. Nun war es Raquel, die sich schluchzend an Arnau klammerte und ihr tränenüberströmtes Gesicht an seiner Brust verbarg. Sie standen etwas abseits der Menge.

Während er Hasdais Tochter im Arm hielt, konnte Arnau den Blick nicht von dem brennenden Körper seines Freundes abwenden. Es kam ihm vor, als blutete er, doch das Feuer fraß sich rasch in den Körper. Plötzlich hörte er die Schreie der Leute nicht mehr. Er sah nur noch ihre drohend gereckten Fäuste. Dann zwang ihn etwas, nach rechts zu sehen. Etwa fünfzig Meter entfernt standen der Bischof und der Generalinquisitor und neben ihnen Elionor, die mit den beiden sprach und dabei mit ausgestrecktem Arm zu ihm hinüberdeutete. Neben ihr stand eine weitere, vornehm gekleidete Dame, die Arnau zunächst nicht erkannte. Sie wechselte einen Blick mit dem Inquisitor, während Elionor lautstark gestikulierend zu ihm hinüberwies.

»Die da ist es. Diese Jüdin ist seine Geliebte. Seht sie Euch an. Seht nur, wie er sie umarmt.«

Genau in diesem Moment schloss Arnau Raquel besonders fest in den Arm, während die Flammen unter dem Toben der Menge in den Himmel loderten. Als Arnau schließlich wegschaute, um dem Horror zu entgehen, begegnete ihm Elionors Blick. Als er den abgrundtiefen Hass in ihren Augen sah, die Boshaftigkeit gelungener Rache, überlief es ihn kalt. Und dann hörte er das Lachen der Frau, die neben Elionor stand. Es war ein unverwechselbares, spöttisches Lachen, das sich seit Kindertagen in Arnaus Gedächtnis eingegraben hatte. Margarida Puigs Lachen.

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