16


Arnau rannte die Calle de la Mar hinunter bis zu Peres Haus, ohne der Kirche Santa María auch nur einen Blick zu schenken. Die Augen seines Vaters hatten sich in ihm eingebrannt und seine Schreie hallten immer noch in seinen Ohren wider. Noch nie hatte er ihn so gesehen. »Was ist los mit Euch, Vater? Stimmt es, dass wir nicht frei sind, wie diese Frau behauptet?« Er betrat Peres Haus, und ohne irgendjemandem Beachtung zu schenken, verschwand er in seinem Zimmer. Dort fand Joan ihn weinend vor.

»Die Stadt ist verrückt geworden«, sagte er, als er die Zimmertür öffnete. »Was hast du?«

Arnau gab keine Antwort. Sein Bruder blickte sich um.

»Und Vater?«

Arnau schniefte und machte eine Handbewegung in Richtung Stadt.

»Er ist dabei?«, fragte Joan weiter.

»Ja«, brachte Arnau mühsam heraus.

Joan dachte an die Unruhen, denen er auf dem Weg vom Bischofspalast nach Hause ausweichen musste. Die Soldaten hatten die Tore zum Judenviertel geschlossen und sich davor postiert, um zu verhindern, dass es von der Menge gestürmt wurde. Diese hatte sich nun darauf verlegt, die Häuser der Christen zu plündern. Wie konnte Bernat sich unter ihnen befinden? Bilder von entfesselten Horden, die die Türen der Wohlhabenden aufbrachen und mit deren Besitz beladen wieder herauskamen, kehrten Joan ins Gedächtnis zurück. Es konnte einfach nicht sein.

»Das kann nicht sein«, wiederholte er laut. Arnau sah von der Matratze, auf der er saß, zu ihm hoch. »Bernat ist nicht wie sie. Wie ist das möglich?«

»Ich weiß es nicht. Da waren viele Leute. Alle schrien …«

»Aber … Bernat? Bernat ist zu so etwas nicht fähig. Vielleicht hat er nur … Ich weiß nicht, vielleicht hat er nur versucht, jemanden zu finden!«

Arnau sah Joan an. Wie sollte er ihm sagen, dass es Bernat gewesen war, der am lautesten geschrien hatte und die Leute aufwiegelte? Wie sollte er ihm das sagen, wo er es doch selbst nicht glauben konnte?

»Ich weiß es nicht, Joan. Da waren so viele Leute.«

»Sie plündern, Arnau! Sie greifen die Ratsherren der Stadt an.«

An diesem Abend warteten die Jungen vergeblich auf ihren Vater. Am nächsten Morgen machte sich Joan bereit, zum Unterricht zu gehen.

»Du solltest nicht gehen«, riet ihm Arnau.

Joan ging trotzdem.


»Die Soldaten von König Alfons haben den Aufstand niedergeschlagen«, erzählte Joan knapp, als er in Peres Haus zurückkehrte.

Auch in dieser Nacht kam Bernat nicht zum Schlafen nach Hause.

Am Morgen verabschiedete sich Joan erneut von Arnau.

»Du solltest mal aus dem Haus gehen«, sagte er zu ihm.

»Und wenn er zurückkommt? Er kann nur hierhin kommen«, erklärte Arnau, und seine Stimme versagte.

Die beiden Brüder umarmten sich. »Wo seid Ihr, Vater?«

Pere machte sich auf die Suche nach Neuigkeiten. Sie zu erhalten war nicht so schwer wie der Weg zurück nach Hause.

»Es tut mir leid, Junge«, sagte er zu Arnau. »Dein Vater wurde festgenommen.«

»Wo ist er jetzt?«

»Im Palast des Stadtrichters, aber …«

Arnau war bereits losgerannt. Pere sah seine Frau an und schüttelte dann den Kopf. Die alte Frau schlug die Hände vors Gesicht.

»Es waren Eilprozesse«, erklärte ihr Pere. »Eine ganze Menge Zeugen haben in Bernat mit seinem Muttermal den Rädelsführer des Aufstands wiedererkannt. Warum hat er das nur gemacht? Offenbar …«

»Weil er zwei Kinder zu versorgen hat«, fiel ihm seine Frau ins Wort. Tränen standen in ihren Augen.

»Er hatte«, korrigierte Pere mit müder Stimme. »Sie haben ihn und neun weitere Aufrührer auf der Plaza del Blat gehängt.«

Mariona schlug erneut die Hände vors Gesicht, ließ sie dann aber plötzlich sinken.

»Arnau«, rief sie und lief zur Tür, blieb jedoch auf halbem Wege stehen, als sie die Worte ihres Mannes hörte: »Lass ihn, Frau. Von heute an wird er kein Kind mehr sein.«

Mariona nickte langsam. Pere nahm sie in die Arme.

»Lass mich zumindest dem Priester Bescheid geben«, bat Mariona.

»Das habe ich bereits getan. Er wird dort sein.«


Die Hinrichtungen waren auf ausdrücklichen Befehl des Königs sofort vollstreckt worden. Es war nicht einmal Zeit gewesen, ein Gerüst zu errichten. Die Verurteilten waren auf einfachen Karren hingerichtet worden.

Als Arnau die Plaza del Blat erreichte, blieb er abrupt stehen. Er keuchte. Der Platz war voller Menschen. Sie standen mit dem Rücken zu ihm und betrachteten schweigend zehn leblose Körper, die über den Köpfen der Leute vor dem Palast baumelten.

»Nein! Vater!«

Der Schrei hallte über den ganzen Platz. Die Leute drehten sich zu ihm um. Arnau ging langsam durch die Menge, die ihm Platz machte. Er sah sich die zehn Männer genau an …

Arnau übergab sich, als er den Leichnam seines Vaters entdeckte. Die Leute ringsum traten einen Schritt zurück. Der Junge betrachtete noch einmal das aufgedunsene, bläulich-schwarz verfärbte Gesicht. Bernats Kopf war zur Seite gefallen, die Gesichtszüge verzerrt, die weit aufgerissenen Augen waren aus den Höhlen getreten, und die Zunge hing schlaff zwischen den Lippen. Als Arnau ihn zum zweiten und dritten Mal ansah, spuckte er nur noch Galle.

Arnau bemerkte, wie sich ein Arm um seine Schultern legte.

»Lass uns gehen, mein Sohn«, sagte Pater Albert zu ihm.

Der Priester versuchte ihn in Richtung Santa María zu ziehen, doch Arnau rührte sich nicht von der Stelle. Er betrachtete erneut seinen Vater, dann schloss er die Augen. Er würde nie wieder Hunger leiden. Der Junge krümmte sich unter Krämpfen zusammen. Pater Albert versuchte noch einmal, ihn von dem makabren Schauspiel wegzuziehen.

»Lasst mich, Pater. Bitte.«

Unter den Blicken des Priesters und der übrigen Anwesenden legte Arnau schwankend die wenigen Schritte zurück, die ihn von dem improvisierten Blutgerüst trennten. Er presste die Hände auf den Magen und zitterte am ganzen Körper. Als er vor seinem Vater stand, blickte er zu einem der Soldaten, die bei den Gehenkten Wache hielten.

»Kann ich ihn abnehmen?«, fragte er ihn.

Der Soldat zögerte angesichts des Blicks dieses Jungen, der dort vor dem Leichnam seines Vaters stand und zu diesem hinaufdeutete. Was hätten seine Söhne getan, wenn man ihn gehängt hätte?

»Nein«, sagte er schließlich. Er wünschte sich, nicht dort zu sein. Lieber hätte er gegen eine ganze Maurenarmee gekämpft. Was war das für ein Tod? Dieser Mann hatte es nur für seine Kinder getan, für diesen Jungen, der ihn nun fragend ansah, wie alle Anwesenden auf dem Platz. Warum war der Stadtrichter nicht hier?

»Der Stadtrichter hat angeordnet, dass sie drei Tage hier auf der Plaza zur Schau gestellt werden«, sagte er schließlich.

»Ich werde warten.«

»Danach werden sie vor die Stadttore gebracht, wie jeder Hingerichtete in Barcelona, damit alle, die dort ein und aus gehen, das Gesetz des Stadtrichters kennenlernen.«

Der Soldat kehrte Arnau den Rücken und begann seine Runde.

»Es war der Hunger«, hörte er hinter sich. »Er hatte nur Hunger.«

Als ihn seine sinnlose Runde erneut zu Bernat führte, saß der Junge zu Füßen seines Vaters auf der Erde. Er hatte den Kopf in die Hände gestützt und weinte. Der Soldat wagte es nicht, ihn anzusehen.

»Lass uns gehen, Arnau«, sagte der Pater, der nun wieder neben ihm stand.

Arnau schüttelte den Kopf. Pater Albert wollte etwas sagen, doch ein Schrei hielt ihn davon ab. Die Angehörigen der übrigen Gehängten begannen auf dem Platz einzutreffen. In einem fassungslosen Schweigen, das nur hin und wieder von einem schmerzlichen Aufschrei übertönt wurde, versammelten sich Mütter, Kinder und Geschwister zu Füßen der Toten. Der Soldat konzentrierte sich auf seine Runde, während er sich an den Schlachtruf der Ungläubigen zu erinnern versuchte. Joan, der auf dem Nachhauseweg über den Platz musste, sank ohnmächtig zusammen, als er das entsetzliche Schauspiel sah. Ihm blieb nicht einmal Zeit, Arnau zu entdecken, der immer noch am selben Platz saß und den Oberkörper vor- und zurückwiegte. Joans Klassenkameraden hoben ihn auf und trugen ihn zum Bischofspalast zurück. Auch Arnau sah seinen Bruder nicht.

Die Stunden vergingen, und Arnau hatte immer noch keinen Blick für die Bürger, die aus Mitleid, Neugier oder Schaulust auf die Plaza del Blat strömten. Nur die Schritte des Soldaten, der vor ihm auf und ab ging, rissen ihn aus seinen Gedanken.

»Arnau, ich habe alles aufgegeben, was ich besaß, damit du frei sein kannst«, hatte sein Vater vor nicht allzu langer Zeit zu ihm gesagt. »Ich habe unser Land verlassen, das den Estanyols über Jahrhunderte gehörte, damit niemand dir antun kann, was man mir angetan hat, meinem Vater und dem Vater meines Vaters … Und nun befinden wir uns wieder in der gleichen Lage: den Launen jener ausgeliefert, die sich adlig nennen. Aber mit einem Unterschied: Wir können uns weigern. Mein Sohn, lerne die Freiheit zu nutzen, die zu erlangen uns so viele Opfer gekostet hat. Die Entscheidung liegt nur bei dir.«

»Können wir uns wirklich weigern, Vater?« Erneut ging der Soldat an ihm vorüber. »Es gibt keine Freiheit, wenn man hungert. Ihr habt nun keinen Hunger mehr, Vater. Und Eure Freiheit?«

»Seht sie euch genau an, Kinder.«

Diese Stimme …

»Sie sind Verbrecher. Seht sie euch gut an.« Zum ersten Mal nahm Arnau die Menschen wahr, die sich vor den Leichen drängten. Die Baronin und ihre drei Stiefkinder betrachteten das aufgedunsene Gesicht von Bernat Estanyol. Arnaus Blick fiel auf Margaridas Füße. Er sah ihr ins Gesicht. Seine Cousins waren blass geworden, doch die Baronin lächelte und sah ihn direkt an. Arnau stand auf. Er zitterte.

»Sie haben es nicht verdient, Bürger Barcelonas zu sein«, hörte er Isabel sagen. Seine Fingernägel gruben sich in seine Handflächen. Sein Gesicht verzerrte sich und seine Unterlippe bebte. Die Baronin lächelte immer noch. »Was konnte man auch von einem geflohenen Leibeigenen anderes erwarten?«

Arnau wollte sich auf die Baronin stürzen, doch der Soldat stellte sich ihm in den Weg. Arnau stieß mit ihm zusammen.

»Was ist denn mit dir los, Junge?« Der Soldat folgte Arnaus Blick. »Ich würde es nicht tun«, riet er ihm. Arnau versuchte an dem Soldaten vorbeizukommen, doch dieser hielt ihn fest am Arm gepackt. Isabel lächelte nun nicht mehr, den Kopf hoch erhoben, hochmütig, herausfordernd. »Ich würde es nicht tun. Du läufst in dein Verderben«, hörte er den Mann sagen. Arnau blickte zu ihm auf. »Er ist tot, aber du lebst«, beschwor ihn der Soldat. »Setz dich wieder hin, Junge.« Der Soldat bemerkte, dass Arnaus Anspannung ein wenig nachließ. »Setz dich wieder hin«, forderte er ihn noch einmal auf.

Arnau gab nach. Der Soldat wich nicht von seiner Seite.

»Seht sie euch genau an, Kinder.« Die Baronin lächelte wieder. »Morgen kommen wir wieder. Die Gehenkten bleiben an ihrem Strick, bis sie verfaulen, so wie auch die flüchtigen Verbrecher verfaulen sollen.«

Arnau konnte nichts gegen das Beben seiner Unterlippe tun. Er starrte die Puigs an, bis die Baronin beschloss, ihm den Rücken zuzukehren.

»Eines Tages … eines Tages wirst du tot sein … Ihr alle werdet tot sein …«, schwor er sich. Arnaus Hass verfolgte die Baronin und ihre Stiefkinder über den ganzen Platz. Sie hatte gesagt, dass sie am nächsten Tag wiederkommen würde. Arnau sah zu seinem Vater hinauf.

»Ich schwöre bei Gott, dass sie sich nicht noch einmal am Anblick meines toten Vaters ergötzen werden. Aber was kann ich tun?« Wieder sah er den Soldaten vorbeigehen. »Vater, ich werde nicht zulassen, dass Ihr an diesem Strick verfault.«

Die folgenden Stunden verbrachte Arnau damit, darüber nachzugrübeln, wie er es anstellen sollte, den Leichnam seines Vaters verschwinden zu lassen. Doch jede Idee, die ihm in den Sinn kam, scheiterte an den Stiefeln, die vor ihm auf und ab gingen. Er konnte ihn nicht vom Seil abnehmen, ohne gesehen zu werden, und nachts würden Fackeln brennen … Fackeln … Fackeln. In diesem Augenblick erschien Joan auf dem Platz. Sein Gesicht war bleich, beinahe weiß, seine Augen waren verquollen und gerötet, seine Schritte bleischwer. Arnau stand auf, und Joan kam auf ihn zu und warf sich in seine Arme.

»Arnau … ich …«, stammelte er.

»Hör mir gut zu«, unterbrach ihn Arnau, die Arme um ihn gelegt. »Und hör nicht auf zu weinen.«

»Das könnte ich gar nicht, Arnau«, dachte Joan, überrascht über den Ton seines Bruders.

»Warte heute Abend um zehn an der Ecke auf mich, wo die Calle de la Mar auf den Platz stößt. Niemand darf dich sehen. Bring eine Decke mit, die größte, die du in Peres Haus finden kannst. Und jetzt geh.«

»Aber …«

»Geh, Joan. Ich will nicht, dass die Soldaten auf dich aufmerksam werden.«

Arnau musste seinen Bruder wegstoßen, um sich aus seiner Umarmung zu befreien. Joan sah forschend in Arnaus Gesicht. Dann sah er noch einmal zu Bernat hinauf. Er zitterte.

»Jetzt geh, Joan!«, wisperte Arnau ihm zu.

Am Abend, als der Platz verwaist war und nur noch die Angehörigen zu Füßen der Gehenkten saßen, wechselte die Wache. Die neuen Soldaten gingen nicht länger vor den Toten auf und ab, sondern setzten sich rund um ein Feuer, das sie am Ende der nebeneinander aufgereihten Karren entzündet hatten. Alles war ruhig und die Nachtluft hatte sich abgekühlt. Arnau stand auf und ging an den Soldaten vorbei, wobei er sich bemühte, sein Gesicht zu verbergen.

»Ich gehe mir eine Decke holen«, sagte er.

Einer der Soldaten warf ihm einen kurzen Blick zu.

Er ging über die Plaza del Blat bis zur Einmündung der Calle de la Mar. Dort wartete er eine Weile, während er sich fragte, wo Joan steckte. Es war die vereinbarte Zeit, er hätte bereits da sein müssen. Arnau stieß einen Pfiff aus. Ringsum blieb es still.

»Joan?«, wagte er zu rufen.

Aus einem Hauseingang löste sich ein Schatten.

»Arnau?«, war in der Dunkelheit zu hören.

»Natürlich bin ich das.« Joans erleichterter Seufzer war über mehrere Meter zu hören. »Was dachtest du, wer ich bin? Warum hast du nicht geantwortet?«

»Es ist stockfinster«, entgegnete Joan.

»Hast du die Decke dabei?« Der Schatten hob ein Bündel hoch. »Gut. Ich habe ihnen gesagt, dass ich eine Decke holen gehe. Jetzt leg sie dir um und nimm meinen Platz ein. Geh auf Zehenspitzen, damit du größer aussiehst.«

»Was hast du vor?«

»Ich werde ihn verbrennen«, antwortete er, als Joan neben ihm stand. »Ich will, dass du meinen Platz einnimmst. Die Soldaten sollen glauben, dass ich es bin. Du brauchst dich nur dorthin zu setzen, wo ich gesessen habe, nichts weiter. Verhülle einfach dein Gesicht. Und rühr dich nicht von der Stelle. Du tust nichts, was auch immer du siehst und was auch immer geschieht, hast du verstanden?« Arnau wartete Joans Antwort nicht ab. »Wenn alles vorbei ist, bist du ich. Du bist Arnau Estanyol und dein Vater hatte keinen anderen Sohn. Hast du verstanden? Wenn die Soldaten dich fragen …«

»Arnau …«

»Was?«

»Ich traue mich nicht.«

»Wie bitte?«

»Ich traue mich nicht. Sie werden es bemerken. Wenn ich Vater sehe …«

»Willst du zusehen, wie er dort verwest? Willst du zusehen, wie er vor den Toren der Stadt baumelt, während Krähen und Würmer seinen Körper auffressen?«

Arnau machte eine Pause, damit sein Bruder sich diese Szenerie vorstellen konnte.

»Willst du, dass die Baronin unseren Vater weiter verspottet … sogar noch im Tod?«

»Ist es auch keine Sünde?«, fragte Joan plötzlich.

Arnau versuchte, seinen Bruder in der Dunkelheit zu erkennen, doch er erahnte nur einen Schatten.

»Er hatte nur Hunger! Ich weiß nicht, ob es eine Sünde ist, aber ich werde nicht zulassen, dass unser Vater an einem Strick verfault. Wenn du mir helfen willst, dann leg dir diese Decke um und tu weiter gar nichts. Wenn nicht …«

Arnau lief die Calle de la Mar hinunter, während Joan, in die Decke gehüllt, auf die Plaza del Blat ging. Er hatte den Blick fest auf Bernat gerichtet, eines von zehn Gespenstern, die auf den Karren baumelten, schwach beleuchtet vom Widerschein des Feuers, um das die Soldaten saßen. Joan wollte sein Gesicht nicht sehen, seine heraushängende, schwarz verfärbte Zunge, doch seine Augen gehorchten seinem Willen nicht, und so ging er weiter, den Blick starr auf Bernat gerichtet. Die Soldaten beobachteten ihn, während er näher kam. Unterdessen lief Arnau zu Peres Haus. Er nahm seinen Wasserschlauch und schüttete das Wasser aus, dann füllte er Lampenöl hinein. Pere und seine Frau, die am Feuer saßen, sahen ihm zu.

»Mich gibt es nicht«, sagte Arnau mit versagender Stimme zu ihnen. Er kniete vor ihnen nieder und ergriff die Hand der alten Frau, die ihn liebevoll ansah. »Joan wird ich sein. Mein Vater hatte nur einen Sohn. Kümmert euch um ihn, wenn etwas passiert.«

»Aber Arnau …«, begann Pere.

»Psst«, wisperte Arnau.

»Was hast du vor, Junge?«, wollte der Alte wissen.

»Ich muss es tun«, entgegnete Arnau und stand auf.


Es gibt mich nicht. Ich bin Arnau Estanyol. Die Soldaten beobachteten Joan immer noch. Einen Toten zu verbrennen musste eine Sünde sein, dachte er. Bernat sah ihn an! Joan blieb einige Meter vor dem Gehenkten stehen. Er sah ihn an!

»Ist etwas, Junge?« Einer der Soldaten machte Anstalten, aufzustehen.

»Nein, nichts«, antwortete Joan, bevor er weiter auf die Augen des Toten zuging, die ihn fragend ansahen.


Arnau nahm eine Lampe und verließ das Haus. Unterwegs rieb er sich das Gesicht mit Schlamm ein. Sein Vater hatte ihm so oft von ihrer Ankunft in dieser Stadt erzählt, die ihn nun getötet hatte. Auch er hatte sich damals Schlamm ins Gesicht reiben müssen, um am Stadttor nicht erkannt zu werden. Arnau ging um die Plaza del Blat herum, über die Plaza de la Llet und die Plaza de la Corretgeria, bis er die Calle Tapineria erreichte. Dann stand er vor den aufgereihten Karren mit den Gehängten. Joan saß zu Füßen seines Vaters und versuchte das verräterische Zittern zu unterdrücken.

Arnau ließ die Lampe in der Straße stehen, warf sich den Schlauch über den Rücken und schlich zur Rückseite der Karren, die direkt an der Mauer des stadtrichterlichen Palasts standen. Bernat befand sich auf dem vierten Karren. Die Soldaten saßen immer noch schwatzend um das Feuer am anderen Ende der Reihe. Arnau kroch hinter die ersten Karren. Als er den zweiten erreichte, wurde eine Frau auf ihn aufmerksam. Ihre Augen waren vom Weinen verquollen. Arnau erstarrte, doch die Frau wandte den Blick ab und gab sich weiter ihrem Schmerz hin. Der Junge kletterte auf den Karren, auf dem sein Vater baumelte. Joan hörte ihn und drehte sich um.

»Schau nicht hin!« Sein Bruder hörte auf, in die Dunkelheit zu spähen. »Und versuch, nicht so zu zittern«, raunte Arnau ihm zu.

Er richtete sich auf, um Bernats Körper zu erreichen, doch ein Geräusch zwang ihn, sich wieder hinzulegen. Er wartete einige Sekunden und unternahm einen weiteren Versuch. Erneut ließ ihn ein Geräusch zusammenzucken, doch diesmal blieb Arnau stehen. Die Soldaten schwatzten immer noch. Arnau hob den Schlauch hoch und begann, das Öl über den Leichnam seines Vaters zu gießen. Der Kopf war ziemlich hoch, also reckte er sich, so gut er konnte, und presste den Schlauch fest zusammen, damit das Öl herausspritzte. Ein zähflüssiger Strahl begann Bernats Haar zu verkleben. Als das Öl aufgebraucht war, schlich Arnau in die Calle Tapineria zurück.

Er hatte nur einen einzigen Versuch. Arnau hielt die Lampe hinter seinen Rücken, um den schwachen Lichtschein zu verbergen. »Ich muss beim ersten Mal treffen.« Er sah zu den Soldaten hinüber. Nun war er es, der zitterte. Er atmete tief ein und betrat dann den Platz. Bernat und Joan waren etwa zehn Meter von ihm entfernt. Er drehte die Flamme hoch und trat aus dem Verborgenen hervor. Die Lampe in der Hand, kam es ihm vor, als würde es taghell auf der Plaza del Blat. Die Soldaten blickten zu ihm hinüber. Arnau wollte schon losrennen, als er feststellte, dass keiner von ihnen Anstalten machte, sich zu bewegen. »Weshalb sollten sie auch? Woher sollen sie wissen, dass ich meinen Vater verbrennen will? Meinen Vater verbrennen!« Die Lampe in seiner Hand zitterte. Beobachtet von den Soldaten, erreichte er Joan. Niemand unternahm etwas. Arnau blieb vor dem Leichnam seines Vaters stehen und betrachtete ihn ein letztes Mal. Das glänzende Öl auf seinem Gesicht verbarg die Angst und den Schmerz, der zuvor in ihm zu erkennen gewesen war.

Arnau schleuderte die Lampe auf den Leichnam, und Bernat fing Feuer. Die Soldaten sprangen auf, sahen die Flammen und rannten hinter Arnau her. Die Scherben der Lampe fielen auf den Karren, auf dem sich das Öl gesammelt hatte, das von Bernats Körper herabgetropft war, und auch dieser ging in Flammen auf.

»Stehen bleiben!«, hörte er die Soldaten rufen.

Arnau wollte loslaufen, als er sah, dass Joan immer noch vor dem Karren saß. Er war vollständig von der Decke bedeckt und wirkte wie paralysiert. Die übrigen Trauernden betrachteten stumm die Flammen, in ihrem eigenen Schmerz versunken.

»Halt! Halt, im Namen des Königs!«

»Beweg dich, Joan.« Arnau wandte sich zu den Soldaten um, die jetzt auf ihn zugerannt kamen. »Beweg dich! Du wirst verbrennen!«

Er konnte Joan nicht dort lassen. Das Öl, das auf den Boden getropft war, kam der zitternden Gestalt seines Bruders immer näher. Arnau wollte ihn wegziehen, als sich die Frau, die ihn zuvor entdeckt hatte, zwischen sie stellte.

»Lauf«, drängte sie ihn.

Arnau schüttelte den ersten Soldaten ab und rannte davon. Verfolgt von den Rufen der Soldaten, lief er durch die Calle Bòria bis zum Portal Nou. Je länger sie ihn verfolgten, desto später würden sie zu seinem Vater zurückkehren, um das Feuer zu löschen, dachte er im Laufen. Die Soldaten, die nicht mehr die Jüngsten waren und ihre Ausrüstung schleppen mussten, würden niemals einen Jungen einholen, dessen Füße förmlich vom Feuer getragen wurden.

»Im Namen des Königs!«, hörte er hinter sich.

Etwas zischte an seinem rechten Ohr vorbei. Arnau konnte hören, wie die Lanze vor ihm auf dem Boden aufschlug. Er sauste über die Plaza de la Llana, während mehrere Lanzen ihr Ziel verfehlten. Dann lief er an der Kapelle Bernat Marcus vorbei bis zur Galle Carders. Die Rufe der Soldaten begannen, sich in der Ferne zu verlieren. Zum Portal Nou konnte er nicht; dort waren mit Sicherheit weitere Soldaten postiert. In Richtung Meer würde er bis Santa María kommen, in Richtung Berge bis Sant Pere de les Puelles, doch dort würde er wieder auf die Stadtmauer treffen.

Arnau entschied sich für das Meer. Er ging um das Kloster San Agustín herum und verlor sich in dem Gewirr der Gassen hinter dem Mercadal-Viertel. Er sprang über Mauern, schlich durch Gärten und hielt sich immer im Dunkeln. Als er sicher war, dass ihm nur das Echo seiner Schritte folgte, ging er langsamer. Dem Wasserlauf des Rec Comtal folgend, erreichte er den Pia d'en Llull beim Kloster Santa Clara und von dort aus ohne weitere Schwierigkeiten die Plaza del Born, seine Kirche, seine Zufluchtsstätte. Doch als er unter das hölzerne Gerüst am Portal kriechen wollte, bemerkte er etwas, das seine Aufmerksamkeit erregte: Auf dem Boden lag eine Laterne, deren schwache Flamme kurz vor dem Verlöschen war. Er spähte ringsum und entdeckte die Gestalt des Aufsehers. Er lag reglos auf dem Boden, als hätte ihn jemand niedergeschlagen.

Arnaus Herz schlug schneller. Warum? Die Aufgabe dieses Mannes war es, Santa María zu bewachen. Wer konnte ein Interesse daran haben …? Die Jungfrau! Die Sakramentskapelle! Die Kasse der Bastaixos!

Arnau überlegte nicht lange. Sie hatten seinen Vater hingerichtet. Er konnte nicht zulassen, dass man nun auch noch seine Mutter entweihte. Vorsichtig betrat er durch das offene Portal die Kirche und schlich zum Chorumgang. Links von ihm, zwischen zwei Strebepfeilern, lag die Sakramentskapelle. Auf Zehenspitzen schlich er durch die Kirche und versteckte sich hinter einem Pfeiler am Hauptaltar. Von dort hörte er Geräusche aus der Kapelle, konnte jedoch noch nichts sehen. Er schlich zum nächsten Pfeiler, und nun konnte er zwischen zwei Pfeilern hindurch die Kapelle sehen, wie stets von zahllosen Kerzen erhellt.

Im Inneren der Kapelle war ein Mann gerade dabei, an dem schmiedeeisernen Gitter hochzuklettern. Arnau sah zur Madonna hin. Alles schien in Ordnung zu sein. Und nun? Er ließ den Blick durch die Kapelle schweifen. Die Kasse der Bastaixos war aufgebrochen. Während der Dieb an dem Gitter hochkletterte, glaubte Arnau das Klimpern der Münzen zu hören, die die Bastaixos zur Versorgung ihrer Waisen und Witwen in diese Kasse einzahlten.

»Du Dieb!«, rief er und warf sich gegen das Gitter.

Mit einem Satz hatte Arnau das Gitter erklommen und stieß den Mann vor die Brust. Der überraschte Dieb polterte lärmend zu Boden. Arnau blieb keine Zeit zum Nachdenken. Der Mann rappelte sich rasch auf und verpasste dem Jungen einen gewaltigen Fausthieb ins Gesicht. Arnau fiel rückwärts auf den Kirchenboden.

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