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Das Stadtviertel Ribera de Mar, wo die Kirche zu Ehren der Jungfrau Maria erbaut wurde, war aus einer Vorstadt des karolingischen, von den alten römischen Stadtmauern umgebenen Barcelonas hervorgegangen. In seinen Anfängen war es ein einfaches Viertel der Fischer, Stauer und anderer einfacher Leute gewesen. Schon damals gab es dort ein kleines Gotteshaus, Santa María de las Arenas, ›Die Heilige Jungfrau vom Sande‹, errichtet an jener Stelle, wo angeblich die heilige Eulàlia im Jahre 303 den Märtyrertod erlitten hatte. Die kleine Kirche Santa María de las Arenas erhielt diesen Namen, weil sie direkt auf dem Sandstrand von Barcelona erbaut wurde, doch durch die Sedimentablagerungen, die auch die Häfen unbrauchbar gemacht hatten, die Barcelona früher einmal besaß, hatte sich die Küstenlinie immer weiter von der Kirche entfernt, bis schließlich ihr ursprünglicher Name verlorenging. Seit damals hieß sie Santa María del Mar, denn auch wenn die Entfernung zum Ufer größer geworden war, änderte dies nichts an der Verehrung all jener Männer, die vom Meer lebten.

Im Laufe der Zeit war auch die Stadt gezwungen gewesen, nach neuem Terrain vor den Toren zu suchen, um Platz für das aufstrebende Bürgertum Barcelonas zu schaffen, für das der römische Stadtkern zu klein geworden war. Unter den drei möglichen Himmelsrichtungen entschied sich die Bürgerschaft für den östlichen Bereich, wo der Verkehr vom Hafen in die Stadt strömte. Dort, in der Calle de la Mar, ließen sich die Silberschmiede nieder. Die übrigen Straßen erhielten ihre Namen von den Geldwechslern, Tuchhändlern, Metzgern und Bäckern, Wein- und Käsehändlern, Hutmachern, Waffenschmieden und einer Vielzahl anderer Handwerker. Es gab außerdem einen Handelshof, wo die auswärtigen Händler abstiegen, die in der Stadt weilten, und hinter der Kirche Santa María wurde die Plaza del Born gebaut, auf der Wettkämpfe und Turniere stattfanden. Doch das neue Viertel am Ufer zog nicht nur reiche Handwerker an; auch viele Adlige zogen im Gefolge des Seneschalls Guillem Ramon de Monteada dorthin, dem der Graf von Barcelona, Ramon Berenguer IV. das Bauland für jene Straße überlassen hatte, die dann seinen Namen trug. Diese Calle Monteada mit ihren mächtigen, luxuriösen Palästen mündete in die Plaza del Born, neben der Kirche Santa María del Mar.

Nachdem sich Ribera de la Mar zu einem wohlhabenden Viertel gemausert hatte, wurde die alte romanische Kirche, in der die Fischer und Seeleute ihre Schutzpatronin verehrten, zu klein und zu ärmlich für die aufstrebenden und reichen Gläubigen. Doch die finanziellen Zuwendungen der Barceloneser Kirche und des Königs flossen ausschließlich in den Wiederaufbau der Kathedrale der Stadt.

Die Gläubigen von Santa María del Mar, Reich und Arm in ihrer Verehrung der Jungfrau geeint, ließen sich jedoch von der mangelnden Unterstützung nicht entmutigen. Im Gefolge des kürzlich zum Erzdiakon von Santa María del Mar ernannten Bernat Llull erbaten sie von der kirchlichen Obrigkeit die Erlaubnis, ein Bauwerk zu errichten, welches das größte Monument zu Ehren der Jungfrau Maria sein sollte. Und sie bekamen sie.

So wurde mit dem Bau von Santa María del Mar begonnen, errichtet vom Volk für das Volk. Davon kündete der Grundstein des Bauwerks, der genau dort gelegt wurde, wo später der Hauptaltar stehen sollte. Anders als bei Bauwerken, die von der Obrigkeit unterstützt wurden, war in ihn lediglich das Wappen der Pfarrei eingemeißelt als Zeichen dafür, dass dieser Bau mit all seinen Rechten einzig und allein den Gläubigen gehörte, die ihn errichtet hatten – die Reichen mit ihrem Geld, die einfachen Leute mit ihrer Arbeit.

Arnau betrachtete den Mann mit dem Steinquader. Noch immer schwitzend und keuchend, sah er lächelnd zu dem Bau hinüber.

»Kann man sie sehen?«, fragte Arnau.

»Die Jungfrau?«, fragte der Mann zurück, während er nun den Jungen anlächelte.

Und wenn Kinder nicht alleine in die Kirchen durften?, fragte sich Arnau. Was, wenn sie in Begleitung ihrer Eltern sein mussten? Wie hatte der Pfarrer von Sant Jaume noch einmal zu ihnen gesagt?

»Natürlich. Die Jungfrau wird sich freuen, Besuch von solchen Jungs wie euch zu bekommen.«

Arnau lachte nervös. Dann sah er Joanet an.

»Gehen wir?«, fragte er.

»He! Einen Moment!«, sagte der Mann zu ihnen. »Ich muss wieder an die Arbeit.« Er sah zu den Steinmetzen hinüber, die den Steinquader bearbeiteten. »Angel!«, rief er einem etwa zwölfjährigen Knaben zu, der rasch zu ihnen gelaufen kam. »Begleite diese beiden Jungs in die Kirche! Sag dem Pfarrer, dass sie die Jungfrau sehen möchten!«

Dann verschwand der Mann in Richtung Meer. Arnau und Joanet blieben mit Angel zurück, aber als der Junge sie anschaute, blickten beide zu Boden.

»Ihr wollt die Jungfrau sehen?«

Seine Stimme klang ehrlich. Arnau nickte und fragte: »Kennst du sie?«

»Na klar«, lachte Angel. »Sie ist die Schutzpatronin des Meeres. Mein Vater ist Seemann«, setzte er stolz hinzu. »Kommt.«

Die beiden folgten ihm zum Eingang der Kirche, Joanet mit weit aufgerissenen Augen, Arnau mit gesenktem Kopf.

»Hast du eine Mutter?«, fragte er plötzlich.

»Ja, natürlich«, antwortete Angel, während er weiter vor ihnen herging.

Sie traten durch das Portal von Santa María. Arnau und Joanet blieben stehen, bis sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten. Es roch nach Wachs und Weihrauch. Arnau verglich die hohen, schlanken Säulen, die draußen standen, mit denen im Inneren der Kirche. Diese waren niedrig, dick und viereckig. Das einzige Licht kam durch ein paar schmale, längliche Fenster im dicken Mauerwerk und warf hier und dort gelbliche Rechtecke auf den Boden. An der Decke, an den Wänden, überall hingen und standen Schiffe, die einen sorgfältig gearbeitet, andere etwas grober geschnitzt.

»Kommt weiter«, raunte Angel ihnen zu.

Während sie zum Altar gingen, deutete Joanet auf einige Gestalten, die auf dem Fußboden knieten. Sie hatten sie nicht sofort bemerkt. Als sie an ihnen vorüberkamen, staunten die Jungen über die gemurmelten Gebete.

»Was tun sie da?«, flüsterte Joanet Arnau ins Ohr.

»Sie beten«, antwortete dieser.

Wenn Guiamona mit seinen Cousins aus der Kirche zurückgekommen war, hatte sie ihn immer in seinem Schlafzimmer vor einem Kreuz niederknien lassen und ihn zum Beten angehalten.

Als sie schließlich vor dem Altar standen, kam ein schlanker Priester auf sie zu. Joanet versteckte sich hinter Arnau.

»Was führt dich hierher, Angel?«, fragte der Mann mit leiser Stimme, sah dabei jedoch die beiden Jungen an.

Der Priester hielt Angel seine Hand hin und dieser kniete nieder.

»Diese beiden Jungen, Pater. Sie möchten die Jungfrau sehen.«

Die Augen des Priesters glänzten im Dunkeln, als er sich an Arnau wandte.

»Dort ist sie«, sagte er und deutete zum Altar.

Arnau sah in die Richtung, in die der Priester wies, bis er eine kleine, schlichte Frauenfigur aus Stein entdeckte. Auf ihrer rechten Schulter saß ein Kind und zu ihren Füßen befand sich ein Schiff. Er blickte zu ihr auf. Die Frau hatte ein gütiges Gesicht. Seine Mutter!

»Wie heißt ihr?«, wollte der Priester wissen.

»Arnau Estanyol«, antwortete der eine.

»Joan, aber ich werde Joanet genannt«, erklärte der andere.

»Und der Nachname?«

Das Lächeln verschwand von Joanets Gesicht. Seine Mutter hatte ihm gesagt, dass er nicht den Nachnamen von Ponç, dem Kesselschmied, verwenden solle, da dieser sehr ungehalten sein würde, wenn er davon erfuhr. Ihren Namen sollte er allerdings auch nicht verwenden. Bislang war er nie in die Verlegenheit gekommen, jemandem seinen Nachnamen nennen zu müssen. Weshalb wollte ihn jetzt dieser Priester wissen?

»Genau wie er«, sagte er schließlich. »Estanyol.«

Arnau wandte sich zu ihm um und sah das Flehen in den Augen seines Freundes.

»Dann seid ihr also Brüder.«

»J … ja«, stotterte Joanet, als er Arnaus stillschweigendes Einverständnis bemerkte.

»Wisst ihr, wie man betet?«

»Ja«, antwortete Arnau.

»Ich nicht … noch nicht«, ergänzte Joanet.

»Dann lass es dir von deinem älteren Bruder beibringen«, sagte der Priester. »Ihr könnt nun zur Jungfrau beten. Und du komm mit mir, Angel. Ich habe eine Botschaft für deinen Meister. Da sind einige Steine, die …«

Die Stimme des Priesters verlor sich in der Ferne. Die beiden Jungen blieben vor dem Altar stehen.

»Muss man niederknien beim Beten?«, flüsterte Joanet Arnau zu.

Arnau wandte sich zu den Gestalten um, auf die Joanet deutete. Als Joanet zu den rotsamtenen Betschemeln ging, die vor dem Hauptaltar standen, hielt er ihn am Arm zurück.

»Die Leute knien auf dem Fußboden«, sagte er gleichfalls flüsternd, während er auf die Gläubigen zeigte. »Aber sie beten ja auch.«

»Und du?«

»Ich bete nicht. Ich spreche mit meiner Mutter. Du kniest doch auch nicht nieder, wenn du mit deiner Mutter sprichst, oder?«

Joanet sah ihn an. Nein, das tat er nicht …

»Aber der Priester hat nicht gesagt, dass wir mit ihr sprechen sollen. Nur, dass wir beten könnten.«

»Komm bloß nicht auf die Idee, dem Priester davon zu erzählen. Wenn du das tust, sage ich ihm, dass du gelogen hast und gar nicht mein Bruder bist.«

Joanet blieb neben Arnau stehen und betrachtete die vielen Schiffe, mit denen die Kirche geschmückt war. Er hätte gerne eines dieser Schiffe gehabt. Er fragte sich, ob sie wohl schwimmen konnten. Ganz bestimmt – wozu hätte man sie sonst schnitzen sollen? Er könnte mit einem dieser Schiffe zum Meer hinuntergehen und …

Arnau sah unverwandt zu der steinernen Figur auf. Was sollte er ihr sagen? Ob die Vögel ihr seine Botschaft überbracht hatten? Er hatte ihnen gesagt, dass er sie liebte. Er hatte es ihnen oft gesagt.

»Mein Vater hat gesagt, dass sie jetzt bei dir ist, auch wenn sie eine Maurin war. Aber das soll ich keinem erzählen, weil die Leute behaupten, dass die Mauren nicht in den Himmel kommen«, flüsterte er. »Sie war eine gute Frau. Sie hatte keine Schuld. Es war Margarida.«

Arnau sah die Jungfrau unverwandt an. Sie war von Dutzenden brennender Kerzen umgeben. Die Luft rings um die steinerne Figur vibrierte.

»Ist Habiba bei dir? Wenn du sie siehst, dann sag ihr, dass ich sie auch lieb habe. Du bist mir nicht böse, wenn ich sie lieb habe, oder? Auch wenn sie eine Maurin ist.«

Durch das Dämmerlicht und das Flackern der Kerzen hindurch sah Arnau, wie sich die Lippen der kleinen Statue zu einem Lächeln verzogen.

»Joanet!«, sagte er zu seinem Freund.

»Was ist?«

Arnau deutete auf die Jungfrau, doch nun waren ihre Lippen wieder … Vielleicht wollte die Jungfrau nicht, dass ein anderer das Lächeln sah. Vielleicht war es ein Geheimnis.

»Was denn?«, fragte Joanet noch einmal.

»Ach, nichts.«

»Habt ihr schon gebetet?«

Angel und der Priester waren zurückgekehrt.

»Ja«, antwortete Arnau.

»Ich konnte nicht, weil …«, versuchte sich Joanet zu entschuldigen.

»Ich weiß, ich weiß«, unterbrach ihn der Priester freundlich und strich ihm übers Haar. »Und du, was hast du gebetet?«

»Das Ave Maria«, antwortete Arnau.

»Ein schönes Gebet. Nun lasst uns gehen«, setzte der Priester hinzu, während er sie zur Tür brachte.

»Pater«, fragte Arnau, als sie wieder draußen standen, »dürfen wir wiederkommen?«

Der Priester lächelte ihnen zu.

»Natürlich. Aber ich hoffe, dass du deinem Bruder das Beten beigebracht hast, wenn ihr das nächste Mal kommt.« Joanet ließ sich von dem Priester die Wangen tätscheln. »Kommt wieder, wann immer ihr wollt. Ihr seid stets willkommen.«

Angel machte sich auf den Weg zu der Stelle, wo die Steine aufgehäuft lagen. Arnau und Joanet folgten ihm.

»Und wohin geht ihr jetzt?«, fragte Angel und wandte sich zu ihnen um. Die beiden Jungen blickten sich an und zuckten mit den Schultern. »Ihr könnt nicht auf der Baustelle herumlaufen. Wenn der Meister euch sieht …«

»Der Mann mit dem Steinquader?«, unterbrach ihn Arnau.

»Nein«, antwortete Angel lachend. »Das war Ramon, ein Bastaix.« Joanet schloss sich dem fragenden Blick seines Freundes an. »Die Bastaixos sind die Packesel des Meeres; sie tragen die Waren vom Strand zu den Lagerhäusern der Händler und umgekehrt. Sie entladen die Waren, nachdem die Boote sie zum Strand gebracht haben.«

»Dann arbeiten sie nicht in Santa María?«, fragte Arnau.

»Doch. Sie leisten sogar am meisten.« Angel lachte über den ratlosen Gesichtsausdruck der beiden Jungen. »Sie sind einfache Leute ohne finanzielle Mittel, aber fromme Verehrer der Jungfrau vom Meer, frommer als alle anderen. Da sie kein Geld zum Bau beitragen können, hat sich die Zunft der Bastaixos verpflichtet, die Felsblöcke aus dem königlichen Steinbruch am Montjuïc herbeizuschaffen. Sie schleppen sie auf dem Rücken herbei« – Angel sah in die Ferne – »und legen Meilen zurück, beladen mit Steinen, die wir später zu zweit bewegen müssen.«

Arnau dachte an den riesigen Felsbrocken, den der Bastaix auf den Boden gewuchtet hatte.

»Natürlich arbeiten sie für ihre Jungfrau«, beteuerte Angel noch einmal. »Mehr als alle anderen. Jetzt geht spielen«, setzte er dann hinzu, bevor er seinen Weg fortsetzte.

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