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Die Sonne wärmte schon, als Aledis den Gasthof verließ und sich unter die Leute auf der Plaza de la Llana mischte. Barcelona war bereits erwacht. Frauen standen mit Eimern, Töpfen und Wasserschläuchen vor dem Cadena-Brunnen gleich neben dem Gasthof an, andere warteten vor der Metzgerei am anderen Ende des Platzes. Alle schwatzten und lachten. Sie wäre gerne schon früher losgegangen, doch zuerst hatte sie sich wieder als Witwe verkleiden müssen. Dabei wurde sie mehr schlecht als recht unterstützt von den beiden Mädchen, die unablässig fragten, wie es nun weitergehe, was aus Francesca werde und ob man sie auf dem Scheiterhaufen verbrenne, wie es die beiden Adligen vorhatten. So war es später geworden. Wenigstens achtete niemand auf sie, als sie durch die Calle de la Bòria zur Plaza del Blat ging. Es war eine seltsame Erfahrung für Aledis. Sie hatte immer die bewundernden Blicke der Männer und die verächtlichen Blicke der Frauen auf sich gezogen, doch nun begegnete ihr nicht einmal ein flüchtiger Blick, während die Sonne auf ihr schwarzes Kleid brannte.

Das Lärmen von der nahen Plaza del Blat verhieß noch mehr Menschen, Sonne und Hitze. Sie schwitzte, und ihre Brüste begannen unter der engen Leibbinde zu drücken. Auf der Suche nach Schatten bog Aledis kurz vor dem großen Markt von Barcelona nach rechts in die Calle de los Semolers. Auf der Plaza del Oli waren zahlreiche Passanten auf der Suche nach dem besten Öl oder kauften Brot in der angrenzenden Bäckerei. Nachdem sie den Platz überquert hatte, kam sie am Brunnen Sant Joan vorbei, und auch dort achteten die Frauen nicht auf die schwitzende Witwe, die an ihnen vorüberging.

Von Sant Joan wandte sich Aledis nach links zur Kathedrale und dem Bischofspalast, wo man sie tags zuvor hinausgeworfen und als Hexe beschimpft hatte. Ob man sie wiedererkennen würde? Der Junge aus dem Gasthof … Aledis lächelte, während sie sich nach einem Seiteneingang umsah. Der Junge hatte mehr Gelegenheit gehabt, sie zu betrachten, als die Soldaten der Inquisition.

»Ich suche den Kerkermeister. Ich habe eine Nachricht für ihn«, antwortete sie auf die Fragen des Wachsoldaten am Eingang.

Er trat zur Seite und zeigte ihr den Weg zum Verlies.

Je weiter sie auf der Treppe nach unten ging, desto schwächer wurden das Licht und die Farben. Unten angekommen, stand Aledis in einem kahlen, rechteckigen Raum, dessen Lehmboden von Fackeln erleuchtet wurde. Auf der einen Seite des Raumes saß auf einem Schemel der fette Kerkermeister, den Rücken gegen die Wand gelehnt. Am anderen Ende befand sich ein düsterer Gang.

Der Mann musterte sie schweigend, während sie auf ihn zuging.

Aledis atmete tief durch.

»Ich würde gerne zu der alten Frau gehen, die gestern eingesperrt wurde.«

Aledis ließ einen Beutel mit Münzen klingeln.

Der Kerkermeister rührte sich nicht von der Stelle. Ohne ihr eine Antwort zu geben, spuckte er ihr vor die Füße und machte eine verächtliche Handbewegung. Aledis trat einen Schritt zurück.

»Nein«, sagte er schließlich.

Aledis öffnete die Börse. Die Augen des Mannes folgten begierig den glänzenden Münzen, die in Aledis' Handfläche fielen. Nicolau hatte strikte Anweisung gegeben, dass niemand ohne seine ausdrückliche Erlaubnis den Kerker betreten dürfe, und der Kerkermeister wollte sich nicht mit dem Generalinquisitor anlegen. Er kannte seine Wutausbrüche, und er wusste, was mit jenen geschah, die seine Anordnungen missachteten. Aber das Geld, das ihm diese Frau anbot … Und hatte der Beamte nicht gesagt, der Inquisitor wolle nicht, dass jemand mit dem Geldwechsler sprach? Diese Frau wollte nicht zu dem Geldwechsler, sondern zu der Hexe.

»Einverstanden«, sagte er.


Nicolau schlug mit der Faust auf den Tisch.

»Wofür hält sich dieser Kerl?«

Der junge Mönch, der ihm die Nachricht überbracht hatte, wich einen Schritt zurück. Sein Bruder, ein Weinhändler, hatte ihm am gestrigen Abend davon erzählt, als sie bei ihm zu Hause zu Abend aßen. Er hatte es lachend erzählt, während um sie herum seine fünf Kinder tobten.

»Es ist das beste Geschäft seit Jahren«, erzählte er. »Offensichtlich hat Arnaus Bruder, der Mönch, Anweisung gegeben, Warenlieferungen unter Preis zu verkaufen, um an Bargeld zu kommen, und wenn er so weitermacht, wird ihm das auch gelingen. Arnaus Angestellter verkauft für den halben Preis.« Dann hatte er sein Weinglas erhoben und immer noch grinsend auf Arnau getrunken.

Als Nicolau davon hörte, verstummte er zunächst. Dann lief er rot an und explodierte. Der junge Mönch hörte, wie der Inquisitor mit sich überschlagender Stimme einem Beamten Befehle erteilte: »Bringt mir Bruder Joan her! Sagt den Wachen Bescheid!«

Als der Bruder des Weinhändlers das Arbeitszimmer verlassen hatte, schüttelte Nicolau ungläubig den Kopf. Was hatte sich dieser Mönch dabei gedacht? Wollte er die Inquisition hintergehen, indem er die Schatullen seines Bruders leerte? Dieses Vermögen gehörte dem Sanctum Officium, und zwar alles! Eimeric ballte die Fäuste, bis die Knöchel weiß hervortraten.

»Und wenn ich ihn auf den Scheiterhaufen bringen muss«, murmelte er.


»Francesca …« Aledis kniete neben der alten Frau nieder, die das Gesicht zu einer Grimasse verzog, die ein Lächeln sein sollte. »Was haben sie mit dir gemacht? Wie geht es dir?« Die Alte antwortete nicht. In der Stille war das Stöhnen der anderen Gefangenen zu hören. »Francesca, sie haben Arnau. Deshalb hat man dich hergebracht.«

»Ich weiß.« Aledis sah sich um, doch bevor sie fragen konnte, fuhr Francesca fort: »Dort drüben ist er.«

Aledis sah zum anderen Ende des Raumes hinüber und erkannte eine stehende Gestalt, die sie aufmerksam beobachtete.

»Woher …?«

»Hört mich an«, klang es durch das Verlies. »Ja, Ihr dort drüben bei der alten Frau.« Aledis sah erneut zu der Gestalt hinüber. »Ich möchte mit Euch sprechen. Mein Name ist Arnau Estanyol.«

»Was ist los, Francesca?«

»Seit ich hergebracht wurde, fragt er mich, warum der Kerkermeister behauptet hat, ich sei seine Mutter. Er heiße Arnau Estanyol und sei ein Gefangener der Inquisition … Es war schlimmer als jede Folter.«

»Und was hast du ihm gesagt?«

»Nichts.«

»Hört mich an!«

Diesmal drehte Aledis sich nicht um.

»Die Inquisition will beweisen, dass Arnau der Sohn einer Hexe ist«, sagte Francesca.

»Bitte, hört mich an!«

Aledis merkte, wie Francesca ihre Arme umklammerte, während Arnaus flehentliche Bitten durch den Raum hallten.

»Willst du nicht …« Aledis räusperte sich. »Willst du ihm nichts sagen?«

»Niemand braucht zu wissen, dass Arnau mein Sohn ist, hörst du, Aledis? Wenn ich es bis jetzt für mich behalten habe, warum sollte ich dann jetzt, da die Inquisition … Nur du weißt davon, Aledis.« Die Stimme der alten Frau wurde klarer.

»Jaume de Bellera …«

»Bitte!«, klang es erneut durch den Raum.

Aledis drehte sich zu Arnau um. Durch die Tränen in ihren Augen konnte sie ihn nicht sehen, aber sie riss sich zusammen, um sie nicht wegzuwischen.

»Nur du, Aledis«, wiederholte Francesca. »Versprich mir, dass du es niemals jemandem verraten wirst.«

»Aber der Herr von Bellera …«

»Niemand kann es beweisen. Versprich es, Aledis.«

»Sie werden dich foltern.«

»Mehr, als es das Leben bereits getan hat? Mehr als das Stillschweigen, das ich trotz Arnaus Flehen wahren muss? Versprich es.«

Francescas Augen glänzten im Dunkeln.

»Ich verspreche es.«

Aledis schlang die Arme um Francescas Hals. Zum ersten Mal in vielen Jahren bemerkte sie, wie zerbrechlich die alte Frau war.

»Nein … Ich will dich nicht hier zurücklassen«, schluchzte sie. »Was soll aus dir werden?«

»Mach dir keine Sorgen um mich«, flüsterte ihr die Alte ins Ohr. »Ich werde durchhalten, bis ich sie davon überzeugt habe, dass Arnau nicht mein Sohn ist.« Francesca musste Luft schöpfen, bevor sie weitersprach. »Ein Bellera hat mein Leben ruiniert. Sein Sohn wird nicht das Gleiche mit Arnau tun.«

Aledis küsste Francesca und ließ ihre Lippen für einen Moment auf ihrer Wange ruhen. Dann stand sie auf.

»So hört mich doch an!«

Aledis sah zu der Gestalt hinüber.

»Geh nicht zu ihm«, bat sie Francesca, die am Boden saß.

»Kommt her! Ich bitte Euch.«

»Du würdest schwach werden, Aledis. Du hast es mir versprochen.«

Arnau und Aledis sahen sich im Dunkeln an, zwei undeutliche Schemen. Tränen glitzerten auf Aledis' Gesicht.

Als Arnau sah, wie die Unbekannte zum Ausgang des Kerkers ging, ließ er sich zu Boden sinken.


Am selben Morgen ritt eine Frau auf einem Maulesel durch das Stadttor San Daniel nach Barcelona hinein. Hinter ihr schleppte sich mit müden Schritten ein Dominikanermönch vorwärts, der keinen Blick für die Soldaten hatte. Schweigend gingen sie durch die Stadt zum Bischofspalast, der Mönch immer hinter dem Maultier her.

»Bruder Joan?«, fragte einer der Soldaten, die am Eingang Wache hielten.

Der Dominikaner wandte dem Soldaten sein blaugeschwollenes Gesicht zu.

»Bruder Joan?«, fragte der Soldat noch einmal.

Joan nickte.

»Der Generalinquisitor hat angeordnet, Euch zu ihm zu bringen.«

Der Soldat rief nach der Wache, und mehrere seiner Kameraden kamen herbeigeeilt, um Joan in Gewahrsam zu nehmen.

Die Frau stieg nicht von ihrem Maulesel ab.

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