28


Die drei Mädchen sahen sich schweigend an, als sich Aledis wie ein ausgehungertes Tier über den Eintopf hermachte. Atemlos und auf Knien griff sie mit den Händen in die Suppe, um das Fleisch und das Gemüse herauszufischen, ohne dabei die Mädchen aus den Augen zu lassen. Eine von ihnen, die Jüngste, deren üppige blonde Locken in Wellen über ihr himmelblaues Kleid flossen, verzog den Mund. Wer von ihnen hatte nicht schon dasselbe durchgemacht?, schien ihr Blick zu sagen. Ihre Gefährtinnen nickten und die drei ließen Aledis allein.

Das Mädchen mit den blonden Locken betrat ein Zelt. Geschützt vor der Julisonne, die unbarmherzig auf das Feldlager niederbrannte, saßen dort außer der Patronin, die auf einem Hocker thronte, noch vier weitere Mädchen, die etwas älter waren als jene draußen, und ließen Aledis nicht aus den Augen. Die Patronin hatte genickt, als die Fremde aufgetaucht war, und eingewilligt, dass man ihr etwas zu essen anbot. Seither hatte sie das Mädchen nicht aus den Augen gelassen. Es war zerlumpt und schmutzig, aber schön … und jung. Was wollte sie hier? Sie war keine Vagabundin, denn sie bettelte nicht. Eine Hure war sie auch nicht, denn sie war instinktiv zurückgeschreckt, als sie jenen begegnete, die es waren. Sie war schmutzig, ja. Sie trug ein fadenscheiniges Hemd, gewiss, und ihr Haar war ein Wust fettiger Strähnen. Ihre Zähne jedoch waren schneeweiß. Dieses Mädchen hatte weder Hunger noch Krankheiten kennengelernt, die die Zähne schwärzten. Was wollte sie hier? Sie musste auf der Flucht vor irgendetwas sein, doch wovor?

Die Patronin winkte eine der Frauen im Zelt zu sich.

»Ich will sie sauber und nett hergerichtet«, flüsterte sie ihr zu, als diese sich zu ihr beugte.

Die Frau sah Aledis an, dann lächelte sie und nickte.

Aledis konnte nicht widerstehen. »Du brauchst ein Bad«, sagte eine der Huren, die aus dem Zelt gekommen war, als sie sich satt gegessen hatte, zu ihr. Ein Bad! Seit wie vielen Tagen hatte sie sich nicht mehr gewaschen? Im Zelt wurde ein Zuber mit frischem Wasser für sie vorbereitet und Aledis setzte sich mit angezogenen Beinen hinein. Die drei Mädchen, die ihr während des Essens Gesellschaft geleistet hatten, kümmerten sich um sie und wuschen sie. Weshalb sollte sie sich nicht verwöhnen lassen? In diesem Zustand konnte sie unmöglich vor Arnau treten. Das Heer lagerte ganz in der Nähe, und dort war Arnau. Sie hatte es geschafft! Weshalb sollte sie sich nicht waschen lassen? Sie ließ sich auch ankleiden. Die Mädchen suchten das unauffälligste Kleid für sie heraus, aber dennoch … »Die öffentlichen Frauen sind verpflichtet, grellbunte Kleider zu tragen«, hatte ihre Mutter ihr als Kind erklärt, als sie eine Prostituierte für eine adlige Dame hielt und ihr den Vortritt lassen wollte. »Auf königlichen Befehl müssen sie sich so kleiden, dürfen jedoch selbst im Winter keinen Umhang tragen. Du kannst eine Hure daran erkennen, dass ihre Schultern stets unbedeckt sind.«

Aledis sah erneut an sich herunter. Frauen wie sie, die mit einem Handwerker verheiratet waren, durften keine bunten Kleider tragen. So befahl es der König. Und dabei waren diese Stoffe so hübsch! Aber wie sollte sie derart gekleidet vor Arnau treten? Die Soldaten würden sie für so eine halten … Sie hob einen Arm, um sich von der Seite zu betrachten.

»Gefällt es dir?«

Aledis drehte sich um und sah die Patronin neben dem Zelteingang stehen. Antonia – so hieß das blondgelockte Mädchen, das ihr beim Anziehen geholfen hatte – verschwand auf einen Wink der Frau.

»Ja … nein …« Aledis betrachtete sich erneut. Das Kleid war lindgrün. Ob diese Frauen etwas hatten, das man sich um die Schultern legen konnte? Wenn sie sich bedeckte, würde niemand sie für eine Dirne halten.

Die Patronin musterte sie von oben bis unten. Sie hatte sich nicht getäuscht. Ein sinnlicher Körper, der jeden Offizier erfreuen würde. Und ihre Augen? Die beiden Frauen sahen sich an. Sie waren riesig. Braun. Doch sie blickten traurig.

»Was führt dich hierher, Mädchen?«

»Mein Mann. Er ist in der Armee und ist aufgebrochen, ohne zu wissen, dass er Vater wird. Ich wollte es ihm sagen, bevor er in die Schlacht zieht.«

Sie sagte das, ohne zu stocken, genau wie bei den Händlern, die sie aus dem Fluss gerettet hatten, nachdem der Fährmann versucht hatte, sich ihrer zu entledigen. Als die Händler aufgetaucht waren, hatte er die Flucht ergriffen. Sie zogen die ohnmächtige Aledis aus dem Wasser, und als sie sahen, dass sie vergewaltigt worden war, hatten sie Mitleid mit ihr.

»Man muss ihn beim Stadtrichter anzeigen«, sagten sie zu ihr.

Aber was sollte sie dem Stellvertreter des Königs sagen? Und wenn ihr Mann hinter ihr her war? Und wenn man sie entdeckte? Es würde zu einem Prozess kommen, und dann …

»Nein. Ich muss das königliche Feldlager erreichen, bevor die Truppen nach Roussillon aufbrechen«, sagte sie, nachdem sie ihnen erklärt hatte, dass sie schwanger sei und ihr Mann nichts davon wisse. »Dort werde ich meinem Mann alles erzählen, und er wird entscheiden.«

Die Händler begleiteten sie bis nach Gerona. Bei der Kirche Sant Feliu vor den Toren der Stadt trennte sich Aledis von ihnen. Der Älteste schüttelte den Kopf, als er sie so alleine und zerlumpt vor der Kirche stehen sah. Aledis hatte sich jedoch an den Ratschlag der alten Frauen erinnert: Halte dich von den Dörfern und Städten fern, und das beherzigte sie nun. Gerona war eine Stadt mit sechstausend Einwohnern. Von dort, wo sie stand, konnte sie das Dach der Kirche Santa María sehen, die sich noch im Bau befand. Daneben den Bischofspalast und neben diesem die hohe, trutzige Torre Gironella, die stärkste Verteidigungsanlage der Stadt. Nachdem sie eine Weile die Ansicht genossen hatte, machte sie sich wieder auf den Weg nach Figueras.


Die Patronin beobachtete Aledis, während diese in Erinnerungen an ihre Reise versunken war. Sie bemerkte, dass das Mädchen zitterte.

Aledis spürte das eng anliegende Kleid auf ihrem flachen, festen Bauch. Sie trat nervös von einem Fuß auf den anderen und sah zu Boden. Was starrte diese Frau sie so an?

Über das Gesicht der Patronin huschte ein zufriedenes Lächeln, das Aledis nicht sehen konnte. Wie oft war sie Zeugin solcher stummen Geständnisse geworden? Mädchen, die sich Geschichten ausdachten, deren Lügen jedoch nicht einmal dem geringsten Druck standhielten. Dann wurden sie nervös und schlugen die Augen nieder wie dieses Mädchen. Wie viele Schwangerschaften hatte sie gesehen? Dutzende? Hunderte? Noch nie hatte ihr ein Mädchen mit einem so festen, flachen Bauch erzählt, es sei schwanger. Ein Irrtum? Womöglich, aber es war unvorstellbar, dass sie nur wegen eines Irrtums hinter ihrem Mann herlief, der auf dem Weg in den Krieg war, um ihm davon zu erzählen.

»In dieser Aufmachung kannst du nicht ins königliche Feldlager gehen.« Aledis blickte auf, als sie die Patronin hörte, und sah erneut an sich herunter. »Es ist uns untersagt, dort zu erscheinen. Wenn du willst, könnte ich deinen Mann ausfindig machen.«

»Ihr? Ihr würdet mir helfen? Weshalb solltet Ihr das tun?«

»Habe ich dir nicht schon geholfen? Ich habe dir zu essen gegeben, habe dich gewaschen und angekleidet. Niemand in diesem Lager von Verrückten hat das getan, oder?« Aledis nickte. Es lief ihr kalt den Rücken herunter, wenn sie daran dachte, wie man sie behandelt hatte. »Warum wundert dich das also?« Aledis zögerte. »Gewiss, wir sind öffentliche Frauen, doch das bedeutet nicht, dass wir kein Herz haben. Wenn mir vor Jahren jemand geholfen hätte …« Die Patronin blickte ins Leere, ihre Worte hingen in der Luft. »Nun, egal. Wenn du willst, kann ich es tun. Ich kenne viele Leute im Feldlager. Es wäre nicht schwer für mich, deinen Mann herzuholen.«

Aledis wägte das Angebot ab. Warum eigentlich nicht?

Die Patronin hingegen dachte an ihre zukünftige Neuerwerbung. Es würde ein Leichtes sein, den Mann zu beseitigen. Ein Streit im Feldlager … Die Soldaten schuldeten ihr zahlreiche Gefälligkeiten, und zu wem sollte das Mädchen dann gehen? Sie war alleine. Sie würde sich ihr anvertrauen. Die Schwangerschaft, so sie der Wahrheit entsprach, stellte kein Problem dar. Wie viele solcher Probleme hatte sie für ein paar Münzen gelöst?

»Ich danke Euch«, stimmte Aledis zu.

Jetzt gehörte sie ihr.

»Wie heißt dein Mann und woher kommt er?«

»Er gehört dem Bürgerheer von Barcelona an und er heißt Arnau, Arnau Estanyol.« Die Patronin fuhr zusammen. »Ist etwas?«, fragte Aledis.

Die Frau nahm einen Hocker und setzte sich. Sie atmete schwer.

»Nein«, antwortete sie. »Es muss diese verfluchte Hitze sein. Reich mir mal den Fächer dort.«

Es konnte nicht sein, sagte sie sich, während Aledis ihrer Bitte nachkam. Ihre Schläfen pochten. Arnau Estanyol! Es konnte nicht sein.

»Beschreibe mir deinen Mann«, sagte sie, während sie dasaß und sich Luft zufächelte.

»Oh, er muss ganz einfach zu finden sein. Er ist Lastenträger im Hafen. Er ist jung und stark, groß und schön, und er hat ein Muttermal neben dem rechten Auge.«

Die Patronin fächelte sich schweigend Luft zu. Ihr Blick ging durch Aledis hindurch, zu einem Dörfchen namens Navarcles, einer Hochzeitsfeier, einem Bett und einer Burg … Zu Llorenç de Bellera, der Schande, dem Hunger, dem Schmerz … Wie viele Jahre waren seither vergangen? Zwanzig? Ja, es mussten zwanzig sein, vielleicht mehr. Und nun …

Aledis unterbrach ihr Schweigen:

»Kennt Ihr ihn?«

»Nein … nein.«

Hatte sie ihn je gekannt? Eigentlich hatte sie kaum Erinnerungen an ihn. Sie war damals fast noch ein Kind gewesen!

»Werdet Ihr mir helfen, ihn zu finden?«, unterbrach Aledis erneut ihre Gedanken.

»Das werde ich«, beteuerte sie, während sie ihr den Ausgang des Zeltes wies.

Als Aledis gegangen war, schlug Francesca die Hände vors Gesicht. Arnau! Es war ihr gelungen, ihn zu vergessen. Sie hatte sich dazu gezwungen, hatte keine andere Wahl gehabt, und nun, zwanzig Jahre später … Wenn das Mädchen die Wahrheit sagte, dann wäre dieses Kind, das sie in ihrem Leib trug … ihr Enkel! Und sie hatte erwogen, es zu töten. Zwanzig Jahre! Wie er wohl war? Aledis hatte gesagt, er sei groß, stark und hübsch. Sie hatte keine Erinnerung an ihn, nicht einmal als Neugeborenen. Es war ihr gelungen, ihn in der warmen Schmiede unterzubringen, doch dann hatte sie ihren Jungen nicht mehr besuchen können. »Diese Schufte! Ich war fast noch ein Kind, und sie standen Schlange, um mich zu vergewaltigen!« Eine Träne rollte ihr über die Wange. Wie lange hatte sie nicht mehr geweint? Selbst damals, vor zwanzig Jahren, hatte sie nicht geweint. »Der Kleine ist bei Bernat besser aufgehoben«, hatte sie gedacht. Als Doña Caterina von der ganzen Sache erfuhr, hatte sie sie mit einer Ohrfeige davongejagt, und Francesca war zunächst unter der Soldateska herumgereicht worden und hatte dann von den Abfällen an der Burgmauer gelebt. Niemand begehrte sie mehr, und wie zahlreiche andere Unglückliche trieb sie sich zwischen Exkrementen und Abfällen herum, um sich um schimmelige, von Maden zerfressene Brotkanten zu streiten. Dort begegnete sie einem Mädchen, das wie sie im Unrat stocherte. Es war dünn, aber hübsch. Niemand gab auf die Kleine acht. Vielleicht … Sie bot ihr Essensreste an. Das Mädchen lächelte und seine Augen strahlten. Wahrscheinlich kannte es kein anderes Leben als dieses. In einem Bachlauf wusch sie die Kleine und schrubbte ihre Haut mit Sand ab, bis sie vor Schmerz und Kälte schrie. Dann musste sie sie nur noch zu einem der Bediensteten der Burg des Herrn von Bellera bringen. So hatte alles begonnen. »Ich bin hart geworden, mein Sohn, so hart, dass schließlich ein Panzer mein Herz umschloss. Was hat dir dein Vater über mich erzählt? Dass ich dich dem Tod überlassen habe?«

Als am Abend die königlichen Offiziere und jene Soldaten zum Zelt kamen, die Glück beim Würfeln oder Kartenspiel gehabt hatten, erkundigte sich Francesca nach Arnau.

»Der Bastaix, sagst du?«, antwortete einer von ihnen. »Natürlich kenne ich den. Jeder kennt ihn.« Francesca legte erwartungsvoll den Kopf zur Seite. »Wie man sich erzählt, hat er einen allseits gefürchteten Draufgänger besiegt«, erklärte er, »und Eiximèn d'Esparça, Gefolgsmann des Königs, hat ihn in seine Leibwache aufgenommen. Er hat ein Muttermal neben dem Auge. Man hat ihm beigebracht, mit dem Dolch umzugehen. Seither hat er noch einige Kämpfe bestritten und alle gewonnen. Es lohnt sich, auf ihn zu setzen.« Der Mann grinste. »Warum interessierst du dich für ihn?«, erkundigte er sich und grinste noch breiter.

Francesca überlegte. Es war schwierig, eine andere Erklärung zu finden. Sie zwinkerte dem Mann zu.

»Du bist zu alt für so einen Burschen«, lachte der Soldat.

Francesca ließ sich keine Regung anmerken.

»Bring ihn mir her und du wirst es nicht bereuen.«

»Wohin? Hierhin?«

Und wenn Aledis log? Ihr erster Eindruck hatte sie noch nie getrogen.

»Nein. Nicht hierhin.«


Aledis entfernte sich einige Schritte von Francescas Zelt. Es war eine wunderbare Nacht, sternenklar und warm, mit einem Mond, der die Nacht in ein gelbes Licht tauchte. Das Mädchen betrachtete den Himmel und die Männer, die in das Zelt traten und in Begleitung eines der Mädchen wieder herauskamen. Dann gingen sie zu einigen kleinen Verschlagen, die sie nach einer Weile wieder verließen, manchmal lachend, manchmal schweigend. Es herrschte ein ständiges Kommen und Gehen. Anschließend gingen die Frauen jedes Mal zu dem Zuber, in dem Aledis gebadet hatte, und wuschen sich, wobei sie die Zuschauerin unverhohlen ansahen, so wie jene Frau, die vorbeizulassen ihre Mutter ihr damals verboten hatte.

»Weshalb werden sie nicht festgenommen?«, hatte Aledis damals ihre Mutter gefragt.

Eulàlia hatte ihre Tochter angesehen, während sie überlegte, ob Aledis alt genug war für eine Erklärung.

»Das geht nicht. König wie Kirche erlauben ihnen die Ausübung ihres Berufs.« Aledis hatte sie ungläubig angeblickt. »Ja doch, mein Kind. Die Kirche sagt, dass die öffentlichen Frauen nicht nach irdischem Recht verurteilt werden können. Gott wird über sie richten.« Wie sollte man einem Kind erklären, dass der wahre Grund für diese Sichtweise darin zu suchen war, dass die Kirche Ehebruch und widernatürliche Beziehungen verhindern wollte? Eulàlia hatte ihre Tochter erneut betrachtet. Nein, über die Existenz von widernatürlichen Beziehungen brauchte sie noch nichts zu wissen.

Antonia, das Mädchen mit den blonden Locken, stand neben dem Zuber und lächelte ihr zu. Aledis verzog den Mund zu einem angedeuteten Lächeln und ließ sie gewähren.

Was hatte ihre Mutter noch über diese Frauen erzählt?, überlegte sie, um sich abzulenken. Dass sie weder in der Stadt noch in den Dörfern mit ehrbaren Leuten zusammenleben durften, ohne Gefahr zu laufen, aus ihren eigenen Häusern vertrieben zu werden, wenn ihre Nachbarn es verlangten. Dass sie verpflichtet waren, religiöse Predigten zu hören, um sie zur Umkehr zu bewegen. Dass sie nur an Montagen und Freitagen die öffentlichen Bäder benutzen durften, an jenen Tagen, die den Juden und Sarazenen vorbehalten waren. Und dass sie mit ihrem Geld mildtätige Werke tun durften, niemals jedoch eine Opfergabe vor dem Altar.

Antonia stand in dem Zuber, den Rock mit der einen Hand hochgerafft, während sie sich mit der anderen wusch. Und sie lächelte ihr immer noch zu! Jedes Mal wenn sie sich aufrichtete, nachdem sie Wasser geschöpft hatte, um sich zwischen den Beinen zu waschen, sah sie Aledis an und lächelte. Und Aledis versuchte das Lächeln zu erwidern, während sie sich Mühe gab, nicht auf die Scham zu starren, die deutlich im Mondlicht zu erkennen war.

Warum lächelte sie ihr zu? Sie war fast noch ein Kind und schon zur Verderbnis verdammt. Vor einigen Jahren, kurz nachdem ihr Vater die Ehe mit Arnau untersagt hatte, war ihre Mutter mit ihr und Alesta zum Kloster San Pedro de Barcelona gegangen. »Sie sollen es sehen!«, befahl der Gerber seiner Frau. Überall im Klosterhof standen Türen, die aus den Angeln gehoben worden waren und nun an den Arkaden und Bögen lehnten. König Pedro hatte der Äbtissin von San Pedro das Privileg gewährt, kraft ihres Amtes die ehrlosen Frauen ihrer Pfarrei verweisen zu dürfen, die Türen ihrer Häuser aus den Angeln zu heben und diese in den Innenhof des Klosters zu bringen. Und die Äbtissin machte sich mit Feuereifer ans Werk.

»Sind sie alle ihre Pacht schuldig geblieben?«, fragte Aledis mit einer unbestimmten Handbewegung, während sie daran zurückdachte, wie man sie aus ihrem Haus geworfen hatte, bevor sie bei Pere und Mariona untergekommen waren. Weil sie ihren Pachtzins nicht bezahlt hatten, war die Tür entfernt worden.

»Nein, mein Kind«, antwortete ihre Mutter. »So ergeht es den Frauen, die nichts von Sittsamkeit halten.«

Aledis sah es wie heute vor sich, wie ihre Mutter sie bei diesen Worten mit schmalen Augen angesehen hatte.

Sie schüttelte den Kopf, um die böse Erinnerung zu verscheuchen, bis sie erneut Antonia und ihre Scham sah, die ebenso blond gelockt war wie ihr Haupthaar. Was würde die Äbtissin von San Pedro wohl mit Antonia machen?

Francesca trat aus dem Zelt, um nach dem Mädchen zu suchen. »Antonia!«, brüllte sie. Aledis beobachtete, wie Antonia aus dem Zuber sprang, in die Schuhe schlüpfte und zum Zelt lief. Dann begegnete ihr Blick für einige Sekunden jenem Francescas, bevor sich die Patronin wieder ihren Pflichten zuwandte. Was verbarg sich hinter diesem Blick?


Eiximèn d'Esparça, Vasall seiner Majestät König Pedros III. war mächtig. Er war ein gewichtiger Mann, eher wegen seiner Position als wegen seines Äußeren, denn sobald er von seinem schweren Streitross stieg und die Rüstung ablegte, wirkte er klein und schmächtig. Ein Schwächling, urteilte Arnau, während er befürchtete, der Adlige könne seine Gedanken lesen.

Eiximèn d'Esparça befehligte eine Kompanie Almogavaren, die er aus seiner eigenen Schatulle bezahlte. Doch wenn er seine Männer so ansah, kamen ihm Zweifel. Wonach bemaß sich die Loyalität dieser Söldner? Einzig und allein nach ihrem Sold. Deshalb umgab er sich mit einer Leibwache, und Arnaus Kampf hatte ihn beeindruckt.

»Welche Waffe beherrschst du?«, wurde Arnau vom Offizier des königlichen Vasallen befragt. Der Bastaix wies die Armbrust seines Vaters vor. »Das dachte ich mir. Alle Katalanen wissen damit umzugehen, es ist ihre Pflicht. Noch eine?«

Arnau schüttelte den Kopf.

»Und dieser Dolch?« Der Offizier zeigte auf die Waffe, die Arnau am Gürtel trug. Als dieser ihm die abgestumpfte Spitze zeigte, warf er den Kopf in den Nacken und brach in schallendes Gelächter aus. »Damit bekommst du nicht einmal ein Jungfernhäutchen zerrissen«, sagte er immer noch lachend. »Du wirst dich im Umgang mit einem richtigen Dolch üben, Mann gegen Mann.«

Er kramte in einer Truhe und überreichte ihm eine Machete, die viel länger und schwerer war als sein Dolch. Arnau fuhr mit dem Finger über die Klinge. Von da an übte er jeden Tag zusammen mit Eiximèns Garde den Zweikampf mit seinem neuen Dolch. Er bekam auch eine bunte Uniform, die aus einem Panzerhemd, einem Helm – den er putzte, bis er glänzte – sowie robusten Lederschuhen bestand, die mittels geschnürter Bänder um die Waden befestigt wurden. Die harte Ausbildung wechselte sich mit echten Kämpfen ab, ohne Waffen, Mann gegen Mann, die von den Offizieren der Adligen im Lager abgehalten wurden. Arnau trat für die Truppen des königlichen Vasallen an, und es verging kein Tag, ohne dass er ein oder zwei Kämpfe vor Publikum bestritt, das sich johlend um die Kämpfenden drängte und Wetten abschloss.

Einige Kämpfe genügten, damit sich Arnau einen Ruf unter den Soldaten erwarb. Wenn er in der knapp bemessenen freien Zeit, die ihm blieb, durchs Lager ging, merkte er, wie sie ihn beobachteten und mit dem Finger auf ihn deuteten. Es war ein merkwürdiges Gefühl, wenn in seiner Gegenwart die Gespräche verstummten und alle Blicke auf ihm ruhten.

Der Offizier Eiximèn d'Esparças lächelte über die Frage seines Kameraden.

»Ob ich mich dafür wohl mit einem ihrer Mädchen vergnügen kann?«, wollte er wissen.

»Natürlich. Die Alte ist verrückt nach deinem Soldaten. Sie würde alles tun, um ihn zu sehen. Du kannst dir nicht vorstellen, wie ihre Augen glänzten.«

Die beiden lachten.

»Wohin soll ich ihn bringen?«


Francesca wählte für den Anlass ein kleines Gasthaus außerhalb von Figueras.

»Stell keine Fragen und tu, was man dir sagt«, wies der Offizier Arnau an. »Da ist jemand, der dich sehen möchte.«

Die beiden Offiziere begleiteten ihn bis zu dem Gasthaus und dort auf das elende Zimmerchen, in dem bereits Francesca wartete. Als Arnau eintrat, schlossen sie die Tür und verriegelten sie von außen. Arnau fuhr herum und versuchte sie zu öffnen. Dann hämmerte er gegen das Holz.

»Was ist los?«, brüllte er. »Was soll das?«

Die Antwort der Offiziere bestand in schallendem Gelächter.

Arnau hörte ein Weilchen zu. Was hatte das zu bedeuten? Plötzlich merkte er, dass er nicht alleine war, und drehte sich um. Hinter ihm stand Francesca am Fenster und beobachtete ihn, schwach beschienen von einer Kerze, die an einer der Wände hing. Trotz des schummrigen Lichts leuchtete ihr grünes Kleid. Eine Hure! Wie viele Weibergeschichten hatte er an den wärmenden Feuern im Feldlager gehört, wie viele Männer brüsteten sich damit, ihr Geld mit einem Mädchen verjubelt zu haben, das stets noch besser, noch schöner und noch williger gewesen war als das vorherige. Dann schwieg Arnau immer und blickte zu Boden. Er war hier, weil er vor zwei Frauen davongelaufen war! Vielleicht war dieser grobe Streich eine Folge seines Schweigens, seines offensichtlich mangelnden Interesses an Frauen … Wie oft hatte man ihn wegen seiner wortkargen Art gestichelt!

»Was soll das alles?«, fragte er Francesca. »Was willst du von mir?«

Sie konnte ihn noch nicht erkennen. Die Kerze spendete nicht genügend Licht, aber seine Stimme … Seine Stimme war die eines Mannes, und er war groß und kräftig, wie ihr das Mädchen erzählt hatte. Sie merkte, dass ihre Knie zitterten und ihre Beine nachgaben. Es war ihr Sohn!

Francesca musste sich räuspern, bevor sie sprach.

»Beruhige dich. Ich will nichts, was dich in deiner Ehre verletzen könnte. Außerdem«, setzte sie hinzu, »sind wir allein. Was könnte ich, eine schwache Frau, gegen einen jungen, kräftigen Mann wie dich ausrichten?«

»Warum lachen sie dann da draußen?«, fragte Arnau, der immer noch an der Tür stand.

»Lass sie lachen, wenn sie wollen. Der Verstand des Menschen geht krumme Wege, und im Allgemeinen geht er vom Schlimmsten aus. Wenn ich ihnen die Wahrheit gesagt und ihnen erzählt hätte, warum ich dich unbedingt sehen will, wären sie vielleicht nicht so hilfsbereit gewesen, wie sie es nun sind.«

»Was sollen sie schon von einer Hure und einem Mann denken, die in der Kammer eines Gasthauses eingeschlossen sind? Was kann man schon von einer Dirne erwarten?«

Sein Ton war hart, schneidend. Francesca fasste sich.

»Auch wir sind Menschen«, sagte sie und erhob die Stimme. »Der heilige Augustin schreibt, dass es Gott sein wird, der über die Dirnen richtet.«

»Du hast mich doch nicht hierherkommen lassen, um über Gott zu sprechen?«

»Nein.« Francesca ging auf ihn zu. Sie musste sein Gesicht sehen. »Ich habe dich kommen lassen, um mit dir über deine Frau zu sprechen.«

Arnau zögerte. Er war wirklich hübsch.

»Was? Wie ist es möglich …?«

»Sie ist schwanger.«

»Maria?«

»Aledis«, korrigierte Francesca unbedacht, aber … Hatte er Maria gesagt?

»Aledis?«

Francesca sah, dass der junge Mann zusammenfuhr. Was hatte das zu bedeuten?

»Was quatscht ihr so lange?«, wurde vor der Tür gegrölt. Jemand hämmerte an die Tür, Gelächter war zu hören. »Was ist los, Patronin? Bist du ihm nicht gewachsen?«

Arnau und Francesca sahen sich an. Sie gab ihm ein Zeichen, sich von der Tür zu entfernen, und er gehorchte. Die beiden senkten die Stimmen.

»Sagtest du Maria?«, fragte Francesca, als sie neben dem Fenster auf der anderen Seite des Raumes standen.

»Ja. Meine Frau heißt Maria.«

»Und wer ist dann Aledis? Sie hat mir gesagt …«

Arnau schüttelte den Kopf. War das Traurigkeit in seinen Augen?, fragte sich Francesca. Arnau hatte die Haltung verloren. Seine Arme hingen kraftlos herunter, und sein zuvor so stolz gereckter Hals schien unfähig, das Gewicht des Kopfes zu tragen. Aber er antwortete nicht. Francesca spürte einen Stich ganz tief in ihrem Herzen. Was hast du, mein Sohn?

»Wer ist Aledis?«, erkundigte sie sich.

Arnau schüttelte erneut den Kopf. Er hatte alles zurückgelassen, Maria, seine Arbeit, die Jungfrau … Und nun war sie hier! Schwanger!

Alle Welt würde es erfahren. Wie sollte er nach Barcelona zurückkehren, zu seiner Arbeit, in sein Haus?

Francesca blickte aus dem Fenster. Draußen war es dunkel. Was war das für ein Schmerz, der ihr zusetzte? Sie hatte Männer gesehen, die am Boden lagen, Frauen ohne Hoffnung, sie hatte Tod und Armut erlebt, Krankheit und Siechtum, doch noch nie hatte sie dergleichen empfunden.

»Ich glaube nicht, dass sie die Wahrheit sagt«, bemerkte sie mit zugeschnürter Kehle, während sie immer noch aus dem Fenster blickte. Sie sah, wie sich Arnau neben ihr straffte.

»Wie meinst du das?«

»Dass ich nicht glaube, dass sie schwanger ist. Ich glaube, dass sie lügt.«

»Was tut das noch zur Sache!«, hörte Arnau sich selbst sagen.

Sie war hier, das genügte. Sie verfolgte ihn, trieb ihn erneut in die Enge. Alles, was er getan hatte, war umsonst gewesen.

»Ich könnte dir helfen.«

»Weshalb solltest du das tun?«

Francesca wandte sich ihm zu. Sie berührten sich fast. Sie konnte ihn anfassen. Sie konnte ihn riechen. Weil du mein Sohn bist!, konnte sie sagen, es war der Moment dazu. Aber was mochte Bernat über sie erzählt haben? Was brachte es ein, wenn dieser Junge erfuhr, dass seine Mutter eine ehrlose Frau war? Francesca streckte zitternd ihre Hand aus. Arnau rührte sich nicht. Was brachte das ein? Sie hielt inne. Über zwanzig Jahre waren vergangen und sie war nur eine Hure.

»Weil sie mich hintergangen hat«, antwortete sie. »Ich habe ihr zu essen gegeben, habe sie gekleidet und aufgenommen. Ich mag es nicht, wenn man mich hintergeht. Du scheinst ein anständiger Mensch zu sein, und ich glaube, dass sie versucht, auch dich zu betrügen.«

Arnau sah ihr in die Augen. Was hatte er noch zu verlieren? Von ihrem Mann befreit und weit weg von Barcelona, würde Aledis alles erzählen, und außerdem … Irgendetwas an dieser Frau wirkte beruhigend auf ihn.

Arnau senkte den Kopf und begann zu erzählen.

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