7


»Hiermit erklären wir Bernat Estanyol und seinen Sohn Arnau zu freien Bürgern der Stadt Barcelona.« Endlich! Bernat lief es kalt den Rücken hinunter, als er den Mann mit stockender Stimme die Dokumente vorlesen hörte. Er hatte ihn bei der Werft getroffen, nachdem er gefragt hatte, wo er jemanden finden könne, der des Lesens mächtig sei, und ihm eine kleine Münze für diese Gefälligkeit angeboten. Während im Hintergrund der Lärm aus der Werft zu hören war, der Geruch von Teer in der Luft lag und eine Brise Meeresluft sein Gesicht streichelte, hörte Bernat sich an, was in dem zweiten Schriftstück stand: Grau würde Arnau als Lehrling annehmen, wenn dieser zehn Jahre alt war, und verpflichtete sich, ihn im Töpferhandwerk zu unterweisen. Sein Sohn war frei. Er würde eines Tages seinen Lebensunterhalt verdienen und seinen Weg in dieser Stadt machen.

Bernat trennte sich lächelnd von der versprochenen Münze und ging zur Werkstatt zurück. Dass man ihnen den Bürgerbrief ausgestellt hatte, bedeutete, dass Llorenç de Bellera sie nicht bei der Obrigkeit angezeigt hatte und keine Strafsache gegen ihn vorlag. Ob der Junge aus der Schmiede überlebt hatte? Wie auch immer … »Du kannst unser Land haben, Llorenç de Bellera. Wir haben unsere Freiheit«, murmelte Bernat trotzig. Graus Sklaven und auch Jaume unterbrachen ihre Arbeit, als sie Bernat, vor Glück strahlend, hereinkommen sahen. Auf dem Boden klebte immer noch Habibas Blut. Grau hatte angeordnet, es nicht wegzuwischen. Bernat versuchte, nicht daraufzutreten, und seine Miene verdüsterte sich.

»Arnau …«, flüsterte er seinem Sohn in der Nacht zu, als sie auf dem Strohsack lagen, den sie sich teilten.

»Ja, Vater?«

»Wir sind jetzt freie Bürger Barcelonas.«

Arnau antwortete nicht. Bernat tastete nach dem Kopf des Jungen und streichelte ihn. Er wusste, wie wenig das für ein Kind bedeutete, dem man die Freude genommen hatte. Bernat hörte das regelmäßige Atmen der Sklaven und strich seinem Sohn weiter über den Kopf. Doch dann befiel ihn ein Zweifel: Würde der Junge zustimmen, irgendwann für Grau zu arbeiten? In dieser Nacht lag Bernat lange wach.

Jeden Morgen, wenn es hell wurde und die Männer ihr Tagwerk begannen, verließ Arnau Graus Werkstatt. Jeden Morgen versuchte Bernat, mit ihm zu sprechen und ihn aufzumuntern. Du musst dir Freunde suchen, wollte er einmal zu ihm sagen, doch bevor er dazu kam, kehrte Arnau ihm den Rücken und schlich niedergeschlagen auf die Straße. Genieße deine Freiheit, mein Sohn, wollte er ihm ein andermal raten, als der Junge ihn erwartungsvoll anschaute. Doch als er gerade zum Sprechen ansetzen wollte, kullerte eine Träne über die Wange des Jungen. Bernat ging in die Knie und konnte ihn nur umarmen. Dann sah er Arnau mit gesenktem Kopf über den Hof davonschleichen. Als Arnau zum wiederholten Mal den Blutflecken von Habiba auswich, hallte erneut Graus Peitsche in Bernats Kopf wider. Er schwor sich, nie mehr vor einer Peitsche zu kuschen – einmal war genug gewesen.

Bernat lief hinter seinem Sohn her, der sich umdrehte, als er seine Schritte hinter sich hörte. Als er neben Arnau stand, begann er, mit dem Fuß die getrocknete Erde zu lockern, auf der immer noch die Blutflecken der Maurin zu sehen waren. Arnaus Gesicht hellte sich auf und Bernat scharrte fester.

»Was machst du da?«, rief Jaume von der anderen Seite des Hofes herüber. Bernat erstarrte. Erneut hallte die Peitsche durch seine Erinnerung.

»Vater …«

Mit der Spitze seiner Hanfschuhe schob Arnau langsam die geschwärzte Erde beiseite, die Bernat gelockert hatte.

»Was machst du da?«, rief Jaume noch einmal.

Bernat gab keine Antwort. Sekunden verstrichen. Als Jaume sich umdrehte, sah er, dass sämtliche Sklaven dort standen und ihn ansahen.

»Bring mir Wasser, mein Junge«, nutzte Bernat Jaumes Zögern aus.

Arnau rannte los, und zum ersten Mal seit Monaten sah Bernat ihn wieder laufen. Jaume nickte zustimmend.

Auf Knien schrubbten Vater und Sohn schweigend den Boden, bis die Spuren des Unrechts verschwunden waren.

»Jetzt geh spielen, mein Junge«, sagte Bernat an jenem Morgen, nachdem sie mit der Arbeit fertig waren.

Arnau sah zu Boden. Er hätte seinen Vater gerne gefragt, mit wem er spielen sollte. Bernat fuhr ihm durchs Haar, bevor er ihn zur Tür schob. Als Arnau auf der Straße stand, ging er wie jeden Tag um Graus Haus herum und kletterte auf einen dichtbelaubten Baum, der an der Gartenmauer stand. Dort wartete er in seinem Versteck darauf, dass seine Cousins mit Guiamona nach draußen kamen.

»Weshalb mögt ihr mich nicht mehr?«, murmelte er. »Es war doch nicht meine Schuld.«

Seine Cousins wirkten glücklich. Guiamons Tod trat immer weiter in den Hintergrund, und nur im Gesicht seiner Mutter spiegelte sich die schmerzliche Erinnerung. Josep und Genis rauften miteinander, beobachtet von Margarida, die eng an ihre Mutter geschmiegt dasaß. Arnau in seinem Baumversteck verspürte bei der Erinnerung an diese Umarmungen einen schmerzlichen Stich.

Morgen für Morgen kletterte Arnau auf den Baum.

»Mögen sie dich nicht mehr?«, hörte er eines Tages eine Stimme fragen.

Vor Schreck verlor er für einen Moment das Gleichgewicht und wäre beinahe heruntergefallen.

Arnau sah sich nach der Stimme um, konnte jedoch niemanden entdecken.

»Hier«, hörte er.

Er spähte in das Innere der Baumkrone, von wo die Stimme gekommen war, konnte jedoch immer noch nichts erkennen. Schließlich bewegten sich einige Äste. Dazwischen war die Gestalt eines Kindes auszumachen. Rittlings in einer Baumgabelung hockend, winkte ihm der Junge ernsthaft zu.

»Was hast du hier zu suchen … in meinem Baum?«, fragte Arnau kurz angebunden.

Der Junge, der vor Schmutz starrte, ließ sich nicht aus der Fassung bringen.

»Dasselbe wie du«, antwortete er. »Zuschauen.«

»Das darfst du nicht«, behauptete Arnau.

»Warum nicht? Das mache ich schon lange. Früher habe ich auch dir zugesehen.« Der schmutzige Bursche schwieg einen Moment. »Mögen sie dich nicht mehr? Warum weinst du so oft?«

Arnau merkte, wie ihm eine Träne die Wange hinabkullerte. Er war wütend. Der Kerl hatte ihm nachspioniert.

»Komm da runter«, befahl er, als er wieder auf dem Boden stand.

Der Junge schwang sich behände nach unten und pflanzte sich vor ihm auf. Arnau war einen Kopf größer, doch der Junge schien keine Angst zu haben.

»Du hast mir nachspioniert«, warf Arnau ihm vor.

»Du spionierst doch selber«, verteidigte sich der Kleine.

»Ja, aber sie sind meine Cousins. Ich darf das.«

»Warum spielst du dann nicht mehr mit ihnen wie früher?«

Arnau hielt es nicht länger aus und schluchzte auf. Seine Stimme zitterte, als er versuchte, die Frage zu beantworten.

»Mach dir nichts draus«, versuchte ihn der Kleine zu beruhigen. »Ich weine auch sehr oft.«

»Und warum weinst du?«, fragte Arnau schluchzend.

»Ich weiß nicht … Manchmal muss ich weinen, wenn ich an meine Mutter denke.«

»Du hast eine Mutter?«

»Ja. Aber …«

»Was machst du dann hier, wenn du eine Mutter hast? Warum spielst du nicht bei ihr?«

»Ich kann nicht bei ihr sein.«

»Warum nicht? Wohnt sie nicht bei euch im Haus?«

»Nein …«, antwortete der Junge zögernd. »Oder doch. Im Haus ist sie schon …«

»Warum bist du dann nicht bei ihr?«

Der schmutzige Junge gab keine Antwort.

»Ist sie krank?«, fragte Arnau weiter.

Der andere schüttelte den Kopf. »Nein. Es geht ihr gut.«

»Was dann?« Arnau ließ nicht locker.

Der Junge sah ihn traurig an. Er biss sich ein paar Mal auf die Lippen, dann fasste er einen Entschluss. »Los«, sagte er und zog Arnau am Ärmel. »Komm mit.«

Der unbekannte Junge flitzte in einem Tempo davon, das man dem kleinen Burschen gar nicht zugetraut hätte. Arnau heftete sich an seine Fersen und versuchte, ihn nicht aus den Augen zu verlieren, was ihm nicht schwerfiel, solange sie sich in dem offenen, übersichtlichen Töpferviertel befanden. Doch je weiter sie nach Barcelona hineinkamen, desto schwieriger wurde es. Die engen Gassen der Stadt mit all ihren Menschen und den zahllosen Verkaufsständen wurden zu wahren Trichtern, die ein Durchkommen nahezu unmöglich machten.

Arnau wusste nicht, wo er sich befand, aber darum machte er sich keine Gedanken. Sein einziges Ziel war es, den flinken, wendigen Jungen nicht aus den Augen zu verlieren, der durch die Menschenmenge und an den Markständen vorbeischlüpfte, sehr zum Ärgernis des einen oder anderen. Arnau, der nicht so geschickt darin war, den Passanten auszuweichen, musste den Unmut ausbaden, den der Junge in seinem Kielwasser hinterließ, und wütende Rufe und Beschimpfungen über sich ergehen lassen. Einer verpasste ihm einen Schubs, ein anderer versuchte ihn am Hemd zu packen, doch Arnau riss sich von beiden los, verlor dabei allerdings seinen Führer aus den Augen und stand plötzlich alleine an einem großen, belebten Platz.

Er kannte diesen Platz. Er war schon einmal mit seinem Vater dort gewesen. »Das ist die Plaza del Blat«, hatte dieser gesagt. »Das Herz von Barcelona. Siehst du den Stein dort in der Mitte des Platzes?« Arnau hatte dorthin geschaut, wohin sein Vater zeigte. »Dieser Stein bedeutet, dass sich die Stadt von hier aus in ihre Viertel aufteilt: Mar, Framenors, Pi, La Salada oder Sant Pere.« Arnau betrat den Platz von der Straße der Seidenhändler her. Vor dem Portal des Palasts des Stadtrichters stehend, versuchte er, die Gestalt des schmutzigen Jungen ausfindig zu machen. Doch die Menschenmassen auf dem Platz hinderten ihn daran. Neben dem Portal befand sich der größte Schlachthof der Stadt, auf der anderen Seite wurde an mehreren Ständen frisches Brot verkauft. Arnau versuchte angestrengt, den kleinen Jungen zwischen den steinernen Bänken zu beiden Seiten des Platzes auszumachen, an denen sich die Bürger entlangschoben. »Das ist der Getreidemarkt«, hatte ihm Bernat erklärt. »Auf der einen Seite dieser Bänke dort verkaufen die Zwischenhändler und Händler der Stadt ihr Getreide, und auf der anderen Seite bieten die Bauern, die in die Stadt kommen, um ihre Ernte zu verkaufen, ihre Ware feil.« Arnau konnte den schmutzigen Jungen, der ihn hierher gelockt hatte, weder auf der einen noch auf der anderen Seite entdecken und auch nicht zwischen den Menschen, die um die Preise feilschten oder Getreide kauften.

Während Arnau dastand und versuchte, den Jungen ausfindig zu machen, wurde er von der Menge weitergeschoben, die auf den Platz strömte. Er wollte dem Strom entgehen, indem er sich zu den Brotständen stellte, aber als er mit dem Rücken gegen einen der Tische stieß, erhielt er eine schmerzhafte Kopfnuss.

»Hau ab, du Rotzlöffel!«, schrie ihn der Brotverkäufer an.

Arnau verschwand erneut in der lärmenden Menschenmenge des Marktes, ohne zu wissen, wohin. Er wurde hin und her geschoben von Leuten, die viel größer waren als er und ihn gar nicht bemerkten, weil sie mit Getreidesäcken beladen waren.

Arnau war den Tränen nahe, als plötzlich wie aus dem Nichts das verschmitzte, schmutzige Gesicht des Jungen auftauchte, den er durch halb Barcelona verfolgt hatte.

»Was stehst du hier herum?«, fragte der Kleine, wobei er die Stimme erhob, um sich bemerkbar zu machen.

Arnau antwortete nicht. Diesmal klammerte er sich an dem Hemd des Jungen fest und ließ sich über den ganzen Platz bis in die Calle Bòria schleifen. Durch diese gelangten sie in das Viertel der Kesselflicker. In den engen Gassen hallte das Hämmern auf Kupfer und Eisen wider. Jetzt rannten sie nicht mehr. Erschöpft nötigte Arnau, der immer noch den Hemdsärmel des Jungen umklammert hielt, seinen unaufmerksamen und ungeduldigen Führer, seine Schritte zu verlangsamen.

»Hier wohne ich«, sagte der Junge schließlich und deutete auf ein kleines, einstöckiges Häuschen. Vor der Tür stand ein Tisch mit Kupferkesseln in allen Größen, an dem ein dicker Mann arbeitete, der sie keines Blickes würdigte. »Das war mein Vater«, setzte der Junge hinzu, nachdem sie an dem Haus vorbei waren.

»Warum sind wir nicht …?«, begann Arnau, während er zu dem Haus zurückblickte.

»Warte ab«, unterbrach ihn der schmutzige Junge.

Sie gingen weiter die Straße entlang, um eine Biegung herum, bis sie sich an der Rückseite der kleinen Häuschen befanden, an der die Gärten lagen. Als sie zu dem Garten kamen, der zu dem Haus des Jungen gehörte, schwang sich der Kleine auf die Mauer und forderte Arnau auf, es ihm nachzutun.

»Warum …?«

»Jetzt kletter schon rauf!«, befahl ihm der Junge, rittlings auf der Mauer sitzend.

Die beiden sprangen in den kleinen Garten. Doch dann blieb der Junge stehen und blickte zu einem Anbau am Haus hinüber. Es war ein enger Raum, der zum Garten hin, in einiger Höhe, eine winzige Fensteröffnung besaß. Arnau ließ einige Sekunden verstreichen, doch der Junge rührte sich nicht vom Fleck.

»Und jetzt?«, fragte er schließlich.

Der Junge wandte sich Arnau zu.

»Was ist?«

Aber der Kleine achtete nicht auf ihn. Arnau blieb wie angewurzelt stehen, während sein Begleiter eine Holzkiste nahm und sie unter das Fensterchen schob. Dann kletterte er hinauf und presste sein Gesicht an die Öffnung.

»Mama …«, flüsterte er.

Ein blasser Frauenarm erschien und berührte mühsam den Rand der Luke; der Ellenbogen blieb auf dem Fenstersims liegen, und die Hand begann, zärtlich über das Haar des Jungen zu streicheln.

»Du bist heute früher dran, Joanet«, hörte Arnau eine sanfte Stimme sagen. »Die Sonne hat noch nicht den höchsten Punkt erreicht.«

Joanet nickte lediglich mit dem Kopf.

»Ist etwas?«, fragte die Stimme.

Joanet brauchte einige Sekunden, bevor er antwortete. Er zog die Nase hoch und sagte: »Ich bin mit einem Freund gekommen.«

»Ich freue mich, dass du Freunde hast. Wie heißt er?«

»Arnau.«

Woher wusste er seinen Namen? Natürlich! Er hatte ihm nachspioniert!, dachte Arnau.

»Ist er hier?«

»Ja, Mama.«

»Hallo, Arnau.«

Arnau sah zu dem Fenster hinauf. Joanet drehte sich zu ihm um.

»Guten Tag … Señora«, wisperte er, unsicher, was er zu einer Stimme sagen sollte, die aus einem Fenster kam.

»Wie alt bist du?«, wollte die Frau wissen.

»Acht Jahre … Señora.«

»Zwei Jahre älter als mein Joanet, aber ich hoffe, dass ihr euch gut versteht und immer Freunde bleibt. Es gibt nichts Besseres auf dieser Welt als einen guten Freund. Vergesst das nie!«

Dann sagte die Stimme nichts mehr. Joanets Mutter strich ihrem Jungen weiter übers Haar, während Arnau beobachtete, wie der Kleine, den Rücken an die Mauer gelehnt, mit baumelnden Beinen auf der Holzkiste saß und die Liebkosung genoss, ohne sich zu rühren.

»Geht jetzt spielen«, sagte die Frau plötzlich, während sich die Hand zurückzog. »Leb wohl, Arnau! Gib gut auf meinen Jungen acht, du bist schließlich älter als er.«

Arnau wollte sich verabschieden, brachte aber keinen Ton heraus.

»Bis bald, mein Junge«, sagte die Stimme. »Kommst du mich wieder besuchen?«

»Natürlich, Mama.«

»Dann geht jetzt.«


Die beiden Jungen kehrten in die belebten Straßen Barcelonas zurück und liefen ziellos umher. Arnau wartete auf eine Erklärung von Joanet. Als diese ausblieb, wagte er schließlich zu fragen: »Warum kommt deine Mutter nicht heraus in den Garten?«

»Sie ist eingesperrt«, antwortete Joanet.

»Warum?«

»Das weiß ich nicht. Ich weiß nur, dass sie eingesperrt ist.«

»Und warum kletterst du nicht durch das Fenster hinein?«

»Ponç hat es mir verboten.«

»Wer ist Ponç?«

»Ponç ist mein Vater.«

»Und warum hat er es dir verboten?«

»Das weiß ich nicht.«

»Warum nennst du ihn Ponç und nicht Vater?«

»Auch das hat er mir verboten.«

Arnau blieb stehen und zog Joanet zu sich, bis dessen Gesicht genau vor seinem war.

»Ich weiß nicht, warum«, kam ihm der Junge zuvor.

Sie gingen weiter. Arnau versuchte, dieses Durcheinander zu verstehen, und Joanet wartete auf die nächste Frage seines neuen Gefährten.

»Wie ist deine Mutter?«, fragte Arnau schließlich.

»Sie war schon immer dort eingesperrt.« Joanet bemühte sich krampfhaft zu lächeln. »Einmal, als Ponç nicht in der Stadt war, habe ich versucht, mich durch das Fenster zu zwängen, aber sie hat es mir nicht erlaubt. Sie sagte, sie will nicht, dass ich sie sehe.«

»Warum lächelst du?«

Joanet ging einige Meter weiter, bevor er antwortete: »Sie sagt, ich soll immer lächeln.«

Für den Rest des Vormittags trottete Arnau mit gesenktem Kopf hinter diesem schmutzigen Jungen her, der niemals das Gesicht seiner Mutter gesehen hatte.


»Seine Mutter streichelt ihm durch ein kleines Fenster über den Kopf«, erzählte Arnau seinem Vater an diesem Abend im Flüsterton, als sie gemeinsam auf der Matratze lagen. »Er hat sie noch nie gesehen. Sein Vater erlaubt es ihm nicht, und sie auch nicht.«

Auch Bernat strich seinem Sohn über den Kopf, genau wie Arnau es ihm von der Mutter seines neuen Freundes erzählt hatte. Das Schnarchen der Sklaven und Lehrlinge, mit denen sie den Raum teilten, war in der Stille zu hören, die zwischen ihnen herrschte. Bernat fragte sich, welches Vergehen diese Frau begangen haben mochte, um eine solche Strafe verdient zu haben.

Ponç, der Kupferschmied, hätte ihm die Antwort ohne zu zögern geben können: »Ehebruch!«

Er hatte es Dutzende Male erzählt, jedem, der es hören wollte.

»Ich habe sie dabei ertappt, wie sie es mit ihrem Liebhaber trieb, einem jungen Burschen in ihrem Alter. Sie nutzten die Stunden aus, die ich in der Schmiede arbeitete. Ich ging natürlich zum Stadtrichter, um die gerechte Wiedergutmachung einzufordern, die unsere Gesetze vorschreiben.«

Und der kräftige Kupferschmied machte sich sogleich daran, von dem Gesetz zu erzählen, das dazu beigetragen hatte, Gerechtigkeit walten zu lassen.

»Unsere Oberen sind kluge Männer, sie wissen um die Ruchlosigkeit des Weibes. Nur adlige Damen können sich durch einen Eid von der Anklage des Ehebruchs freisprechen. Die Übrigen, wie meine Joana, müssen ihre Unschuld in einem Duell unter Beweis stellen und werden einem Gottesurteil unterworfen.«

Diejenigen, die bei dem Duell dabei gewesen waren, erinnerten sich daran, wie Ponç Joanas jugendlichen Liebhaber in Stücke zerrissen hatte. Gott hatte nur wenig zwischen dem von der Arbeit in der Schmiede gestählten Kesselmacher und dem zarten, liebestrunkenen Jüngling auszurichten vermocht.

Das königliche Urteil wurde gemäß den örtlichen Gesetzen gesprochen: »Gewinnt die Frau, soll ihr Gatte sie in Ehren wieder aufnehmen und für sämtliche Ausgaben aufkommen, welche die Frau oder ihre Freunde in dieser Sache gehabt haben mögen, sowie für mögliche Verletzungen des Duellanten. Sollte sie indes verlieren, werde sie selbst mitsamt ihrem ganzen Besitz an ihren Mann übergeben.« Ponç konnte nicht lesen, aber er betete den Inhalt des Urteils aus dem Gedächtnis herunter, während er jedem, der es sehen wollte, das Dokument zeigte:

»Hiermit verfügen wir, dass Ponç, sollte er wollen, dass ihm Joana übergeben wird, eine angemessene Kaution zu leisten und die Versicherung zu geben hat, dass er sie bei sich zu Hause in einem Raum von zwölf Spannen Länge, sechs Spannen Breite und zwei Stockbreit Höhe unterbringt. Er verpflichtet sich, ihr ausreichend Stroh zu geben, um darauf zu schlafen, und eine Decke, um sich darunter zu wärmen. Er muss ein Loch ausheben, damit sie ihre Notdurft verrichten kann, und ein Fenster brechen, durch welches Joana ihre Verpflegung erhält. Ponç ist gehalten, ihr täglich zwölf Unzen durchgebackenes Brot zu geben, des Weiteren so viel Wasser, wie sie verlangt. Es ist ihm verboten, ihr etwas zu reichen, das ihren Tod beschleunigt, oder etwas zu tun, das besagte Joana töten könnte. Aus all diesen Gründen muss Ponç eine angemessene Kaution und Versicherung abgeben, bevor man ihm Joana übergibt.«

Ponç brachte die Kaution, die der Stadtrichter von ihm verlangte, und dieser übergab ihm Joana. Der Kupferschmied errichtete in seinem Garten einen Raum von zweieinhalb Metern auf einen Meter zwanzig, hob eine Grube aus, damit die Frau ihre Notdurft verrichten konnte, brach das Fenster in die Wand, durch das sich Joanet, der neun Monate nach dem Urteil zur Welt kam und nie von Ponç anerkannt wurde, über den Kopf streicheln ließ, und mauerte seine junge Frau ein.

»Vater«, flüsterte Arnau Bernat zu, »wie war meine Mutter? Weshalb habt Ihr mir nie von ihr erzählt?«

Was soll ich ihm sagen? Dass sie ihre Jungfräulichkeit unter den Stößen eines betrunkenen Adligen verlor? Dass aus ihr die öffentliche Frau auf der Burg des Herrn von Bellera wurde?, fragte sich Bernat.

»Deiner Mutter«, antwortete er, »war kein Glück beschieden. Sie war eine bedauernswerte Person.«

Bernat hörte, wie Arnau die Nase hochzog, bevor er weitersprach.

»Hat sie mich geliebt?«, fragte der Junge mit belegter Stimme.

»Sie hatte keine Gelegenheit dazu. Sie starb bei deiner Geburt.«

»Habiba hat mich geliebt.«

»Ich liebe dich auch.«

»Aber Ihr seid nicht meine Mutter. Selbst Joanet hat eine Mutter, die ihm übers Haar streicht.«

»Nicht alle Kinder haben eine …«, wollte er ihn korrigieren.

Die Mutter aller Christen! Die Worte der Priester kamen ihm wieder in den Sinn.

»Was sagtet Ihr, Vater?«

»Doch, du hast eine Mutter. Natürlich hast du eine Mutter.« Bernat bemerkte, wie sein Sohn ruhig wurde. »Kindern wie dir, die keine Mutter haben, schenkt Gott eine neue Mutter: die Jungfrau Maria.«

»Wo ist diese Maria?«

»Die Jungfrau Maria«, korrigierte er ihn. »Und sie ist im Himmel.«

Arnau schwieg eine Weile, bevor er erneut nachhakte. »Und was hat man von einer Mutter, die im Himmel ist? Sie wird mich nicht streicheln, nicht mit mir spielen, mich nicht küssen, nicht …«

»Doch, das wird sie.« Bernat erinnerte sich klar und deutlich an die Erklärungen seines Vaters, die dieser ihm gegeben hatte, als er selbst die gleichen Fragen stellte. »Sie schickt die Vögel, damit sie dich streicheln. Wenn du einen Vogel siehst, dann gib ihm eine Botschaft an deine Mutter mit. Du wirst sehen, dass er in den Himmel fliegt, um sie der Jungfrau Maria zu überbringen. Dann geben sie die Nachricht einer an den anderen weiter, und einer von ihnen wird kommen, um fröhlich zwitschernd um dich herumzuflattern.«

»Aber ich verstehe die Vogelsprache nicht.«

»Du wirst lernen, sie zu verstehen.«

»Aber ich werde sie nie sehen können …«

»Doch, du kannst sie sehen. Du kannst sie in einigen Kirchen sehen und du kannst sogar mit ihr sprechen.«

»In den Kirchen?«

»Ja, mein Sohn. Sie ist im Himmel und in einigen Kirchen, und du kannst durch die Vögel mit ihr sprechen oder in diesen Kirchen. Sie wird dir durch die Vögel antworten oder nachts, wenn du schläfst, und sie wird dich mehr lieben und verwöhnen als jede Mutter, die du sehen kannst.«

»Mehr als Habiba?«

»Viel mehr.«

»Und heute Nacht?«, fragte der Junge. »Heute habe ich nicht mit ihr gesprochen.«

»Keine Sorge, ich habe das für dich getan. Schlaf jetzt, und du wirst sehen.«

Загрузка...