56


Auf der Plaza Nova entfernte sich Francesca rasch vom Eingang des Bischofspalasts und drückte sich an die Mauer. Von dort aus sah sie zu, wie sich die Menschen auf Arnau stürzten und wie die Ratsherren vergeblich versuchten, ihn schützend in ihre Mitte zu nehmen. »Sieh deinen Sohn an!«, hatte Nicolau so laut gebrüllt, dass er das Geschrei der Menge draußen übertönte. »Du wolltest doch, dass ich ihn ansehe, Inquisitor? Dort ist er, und er hat über dich gesiegt.« Francesca stellte sich auf die Zehenspitzen, als sie sah, dass Arnau einen Schwächeanfall hatte, doch dann verlor sie ihn endgültig aus den Augen, während ringsum alles ein einziges Meer von Köpfen, Waffen und Bannern war und mittendrin, heftig schwankend, die kleine steinerne Statue der Jungfrau.

Nach und nach strömte das Bürgerheer, immer noch schreiend und Waffen schwenkend, die Calle del Bisbe hinunter. Francesca rührte sich nicht von der Stelle. Sie musste sich gegen die Mauer lehnen, ihre Beine trugen sie nicht mehr. Als der Platz sich leerte, sahen sie sich. Aledis hatte nicht mit Mar und Joan gehen wollen, denn Francesca konnte sich unmöglich bei den Ratsherren befinden. Eine Frau wie sie … Und da stand sie! Aledis schnürte es die Kehle zu, als sie sah, wie sich Francesca Halt suchend an der Mauer festhielt, klein, gebeugt und hilflos.

Sie wollte gerade zu ihr laufen, doch in diesem Moment wagten sich die Soldaten der Inquisition wieder vor den Eingang des Palasts, nachdem sich das Lärmen der Menge immer weiter entfernte. Francesca stand nur wenige Schritte vom Portal entfernt.

»Hexe!«, beschimpfte sie der erste Soldat.

Aledis blieb direkt vor Francesca und den Soldaten stehen.

»Lasst sie in Ruhe!«, rief sie. Nun befanden sich bereits mehrere Soldaten vor dem Tor. »Lasst sie in Ruhe, oder ich rufe Hilfe«, drohte sie und deutete auf die letzten bewaffneten Männer, die in die Calle del Bisbe einbogen.

Die Soldaten sahen ihnen hinterher, doch einer zog sein Schwert.

»Der Inquisitor wird den Tod einer Hexe begrüßen«, sagte er.

Francesca achtete gar nicht auf die Soldaten. Sie hatte nur Augen für die Frau, die ihr entgegengelaufen war. Wie viele Jahre hatten sie miteinander verbracht? Was hatten sie alles gemeinsam durchgemacht?

»Lasst sie in Ruhe, ihr Schweine!«, schrie Aledis, während sie einige Schritte rückwärts machte, um zu dem abrückenden Bürgerheer hinüberzulaufen, doch der Soldat hatte bereits die Waffe gegen Francesca erhoben. Die Klinge des Schwertes schien größer zu sein als die alte Frau. »Lasst sie in Ruhe«, wimmerte sie.

Francesca sah, wie Aledis die Hände vors Gesicht schlug und auf die Knie sank. Seit sie das Mädchen in Figueras aufgenommen hatte, waren sie unzertrennlich gewesen. Und nun sollte sie sterben, ohne sie noch einmal umarmt zu haben?

Der Soldat hatte bereits alle Muskeln angespannt, als Francesca ihn durchdringend ansah.

»Hexen sterben nicht durch das Schwert«, sagte sie mit ruhiger Stimme. Die Waffe in der Hand des Soldaten zitterte. Was sagte die Frau da? »Nur der Feuertod kann sie läutern.«

Stimmte das? Der Soldat sah Hilfe suchend zu seinen Kameraden, doch diese wichen langsam zurück.

»Wenn du mich mit dem Schwert tötest, werde ich dich dein Leben lang verfolgen. Euch alle!«

Es war schwer vorstellbar, dass sich die Stimme, die sie soeben gehört hatte, aus diesem schwachen Körper entrungen haben sollte. Aledis sah auf.

»Ich werde euch verfolgen«, flüsterte Francesca, »eure Frauen und Kinder, und eure Kindeskinder samt ihren Frauen. Ich verfluche euch!«

Zum ersten Mal, seit sie den Bischofspalast verlassen hatte, löste sie sich von der stützenden Wand. Die Soldaten waren im Palast verschwunden, nur noch der mit dem gezückten Schwert stand da.

»Ich verfluche dich«, sagte sie und wies mit dem Finger auf ihn. »Töte mich, und du wirst selbst im Tod keine Ruhe finden. Ich werde mich in tausend Würmer verwandeln und deine Organe auffressen. Deine Augen sollen meine sein in alle Ewigkeit.«

Während Francesca den Soldaten weiter einschüchterte, stand Aledis auf und ging zu ihr. Sie legte ihr den Arm um die Schulter und ging los.

»Die Lepra wird deine Söhne zerfressen …« Die beiden Frauen gingen unter dem Schwert des Soldaten hindurch, »… und deine Frau wird die Metze des Teufels sein …«

Sie blickten nicht zurück. Der Soldat stand noch eine ganze Weile mit erhobenem Schwert da. Dann ließ er es sinken und sah den beiden Frauen nach, die langsam über den Platz davongingen.

»Verschwinden wir von hier, mein Kind«, sagte Francesca, als sie die nun verwaiste Calle del Bisbe erreicht hatten.

Aledis zuckte zusammen.

»Ich muss noch im Gasthof vorbei …«

»Nein, nein. Lass uns sofort aufbrechen. Wir dürfen keine Zeit verlieren.«

»Und Teresa und Eulàlia?«

»Wir schicken ihnen eine Nachricht«, antwortete Francesca.

An der Plaza de Sant Jaume gingen sie am Judenviertel entlang zum Stadttor der Boquería, das am nächsten lag. Sie gingen eng umschlungen, ohne etwas zu sagen.

»Und Arnau?«, fragte Aledis schließlich.

Francesca gab keine Antwort.


Der erste Teil hatte ganz nach Plan funktioniert. In diesem Moment sollte sich Arnau mit den Bastaixos auf dem kleinen Küstenschiff befinden, das Guillem angemietet hatte. Die Abmachung mit Infant Don Juan hatte ihre Grenzen. Guillem erinnerte sich an den genauen Wortlaut: »Der Infant verspricht lediglich«, hatte Francesc de Perellós ihm mitgeteilt, nachdem er ihn angehört hatte, »sich nicht dem Bürgerheer von Barcelona in den Weg zu stellen. Auf keinen Fall wird er die Inquisition herausfordern, sie unter Druck zu setzen versuchen oder ihre Entscheidungen infrage stellen. Wenn dein Plan gelingt und Estanyol freikommt, wird der Infant nicht für ihn eintreten, sollte er erneut von der Inquisition verhaftet oder verurteilt werden. Ist das klar?« Guillem hatte zugestimmt und ihm die Schuldscheine des Königs ausgehändigt.

Nun stand der zweite Teil bevor. Nicolau musste davon überzeugt werden, dass Arnau ruiniert war und er nichts damit erreichen würde, ihn zu verfolgen oder zu verurteilen. Sie hätten alle nach Pisa fliehen und Arnaus Besitz der Inquisition überlassen können. Im Grunde hatte diese bereits die Verfügungsgewalt, und sollte Arnau, auch in Abwesenheit, verurteilt werden, würde damit auch die Konfiszierung seines Vermögens verbunden sein. Deshalb versuchte Guillem Eimeric zu täuschen. Er hatte nichts zu verlieren, hingegen viel zu gewinnen: Arnaus Seelenfrieden nämlich und die Gewissheit, dass ihn die Inquisition nicht ein Leben lang verfolgen würde.

Nicolau ließ ihn mehrere Stunden warten. Schließlich erschien er in Begleitung eines kleinen Juden, der den üblichen schwarzen Überrock mit dem gelben Zeichen trug. Der Jude hatte mehrere Bücher unter den Arm geklemmt und folgte dem Inquisitor mit kurzen, trippelnden Schritten. Er wich Guillems Blick aus, als Nicolau beide mit einer Geste in sein Arbeitszimmer befahl.

Er bot ihnen keinen Platz an. Er selbst setzte sich an seinen Schreibtisch.

»Wenn es stimmt, was du sagst«, wandte er sich zunächst an Guillem, »ist Estanyol bankrott.«

»Ihr wisst, dass es stimmt«, sagte Guillem. »Der König schuldet Arnau Estanyol keinen einzigen Sueldo mehr.«

»In diesem Fall könnte ich mich an den Magistrat wenden«, entgegnete der Inquisitor. »Es wäre eine Ironie des Schicksals, wenn dieselbe Stadt, die ihn aus dem Kerker des Sanctum Officium befreit hat, ihn nun wegen Bankrotts hinrichten würde.«

Das wird niemals geschehen, war Guillem versucht zu sagen. Er hatte Arnaus Freiheit in Händen. Er brauchte lediglich das von Abraham Levi unterschriebene Dokument vorzulegen … Doch Nicolau hatte ihn nicht empfangen, um ihm damit zu drohen, Arnau beim städtischen Magistrat anzuzeigen. Er wollte sein Geld, das Geld, das er seinem Papst versprochen hatte, das Geld, das ihm dieser Jude, mit Sicherheit ein Freund von Jucef, in Aussicht gestellt hatte.

Guillem schwieg.

»Ich könnte es tun«, beteuerte Nicolau noch einmal.

Guillem hob gelassen die Hände. Der Inquisitor sah ihn forschend an.

»Wer bist du?«, fragte er schließlich.

»Mein Name ist …«

»Ja, ja«, fiel ihm Eimeric mit einer ungeduldigen Handbewegung ins Wort, »dein Name ist Sahat von Pisa. Was ich wissen will, ist, warum ein Händler aus Pisa in Barcelona einen Ketzer verteidigt.«

»Arnau Estanyol hat viele Freunde, auch in Pisa.«

»Ungläubige und Ketzer«, tobte Nicolau.

Guillem hob erneut die Hände. Wann würde der Inquisitor endlich auf das Geld zu sprechen kommen? Nicolau schien zu verstehen. Er schwieg einen Moment.

»Welchen Vorschlag haben die Freunde Arnau Estanyols der Inquisition zu machen?«, fragte er schließlich.

»In diesen Büchern«, sagte Guillem mit einer Kopfbewegung zu dem kleinen Juden, der unverwandt auf Nicolaus Schreibtisch starrte, »sind zahlreiche Posten zugunsten eines Gläubigers von Arnau Estanyol verzeichnet. Ein Vermögen.«

Zum ersten Mal wandte sich der Inquisitor an den Juden.

»Stimmt das?«

»Ja«, bestätigte der Jude. »Seit Geschäftsbeginn gibt es Buchungen zugunsten eines gewissen Abraham Levi …«

»Noch ein Ungläubiger!«, warf Nicolau ein.

Die drei schwiegen.

»Fahr fort«, befahl der Inquisitor dann.

»Diese Posten haben sich im Laufe der Jahre vervielfacht. Zum heutigen Zeitpunkt müssten es über fünfzehntausend Libras sein.«

In den kleinen Äuglein des Inquisitors erschien ein Funkeln, das weder Guillem noch dem Juden entging.

»Und?«, fragte Nicolau Eimeric, an Guillem gewandt.

»Arnau Estanyols Freunde könnten dafür sorgen, dass der Jude auf sein Geld verzichtet.«

Nicolau lehnte sich in seinem Stuhl zurück.

»Euer Freund ist frei«, sagte er. »Und Geld verschenkt man nicht. Weshalb sollte jemand, bei aller Freundschaft, auf fünfzehntausend Libras verzichten?«

»Arnau Estanyol wurde lediglich vorläufig vom Bürgerheer befreit.«

Guillem betonte das ›vorläufig‹. Arnau konnte jederzeit wieder von der Inquisition belangt werden. Der Augenblick war gekommen. In den Stunden des Wartens hatte er immer wieder darüber nachgedacht, während er die Schwerter der Inquisitionsbeamten betrachtete. Er durfte Nicolaus Intelligenz nicht unterschätzen. Die Inquisition hatte keine Handhabe gegen einen Mauren – es sei denn, Nicolau konnte beweisen, dass er die Inquisition direkt angegriffen hatte. Er durfte einem Inquisitor auf keinen Fall einen Handel anbieten. Der Vorschlag musste von Eimeric ausgehen. Ein Ungläubiger durfte nicht versuchen, das Sanctum Officium zu bestechen.

Nicolaus Blick ermunterte Guillem fortzufahren. Du kriegst mich nicht, dachte er.

»Vielleicht habt Ihr recht«, sagte er. »In der Tat gibt es keinen logischen Grund, eine solche Geldsumme zu bieten, nachdem Arnau befreit wurde.« Die Augen des Inquisitors verengten sich zu schmalen Schlitzen. »Ich verstehe nicht, weshalb man mich hierhergeschickt hat; mir wurde gesagt, Ihr würdet verstehen, doch ich teile Eure triftige Ansicht. Ich bedaure, Eure Zeit verschwendet zu haben.«

Guillem wartete, dass Nicolau eine Entscheidung traf. Als der Inquisitor sich aufrichtete und ihn ansah, wusste Guillem, dass er gewonnen hatte.

»Geht«, befahl er dem Juden. Als der Mann die Tür hinter sich geschlossen hatte, sprach Nicolau weiter, bot ihm jedoch immer noch keinen Stuhl an. »Euer Freund ist frei, das stimmt, doch der Prozess gegen ihn ist noch nicht abgeschlossen. Ich habe sein Geständnis. Auch in Freiheit könnte ich ihn wegen mehrfacher Ketzerei verurteilen. Die Inquisition darf keine Todesurteile vollstrecken. Das ist Sache des weltlichen Arms, des Königs. Eure Freunde müssen wissen, dass der Wille des Königs unbeständig ist. Vielleicht, eines Tages …«

»Ich bin überzeugt, dass sowohl Ihr als auch der König tun werdet, was Ihr tun müsst«, antwortete Guillem.

»Für den König gibt es keinen Zweifel daran, was er zu tun hat: die Ungläubigen bekämpfen und das Christentum in alle Winkel des Reiches tragen. Doch die Kirche … Oft ist es schwierig zu entscheiden, was für ein Volk am besten ist. Euer Freund Arnau Estanyol hat seine Schuld eingestanden und dieses Geständnis darf nicht ungestraft bleiben.« Nicolau hielt inne und sah Guillem forschend an. »Andererseits«, fuhr er angesichts des Schweigens seines Gesprächspartners fort, »sollten die Kirche und die Inquisition großzügig sein, wenn sie mit dieser Haltung andere Bedürfnisse erfüllen können, die letzten Endes zum Wohle aller sind. Würden deine Freunde, die dich hergeschickt haben, eine mildere Strafe akzeptieren?«

›Ich werde nicht mit dir verhandeln, Eimeric‹, dachte Guillem. ›Nur Allah – gelobt und gepriesen sei sein Name! – weiß, was du gewinnst, wenn du mich verhaftest. Nur ER weiß, ob uns hinter diesen Wänden Ohren belauschen. Der Vorschlag muss von dir kommen.‹

»Niemand wird jemals die Entscheidungen der Inquisition in Zweifel ziehen«, entgegnete er.

Nicolau rutschte auf seinem Stuhl hin und her.

»Du hast eine Privataudienz bei mir gefordert mit der Begründung, du könntest etwas haben, was mich interessiert. Du sagtest, Freunde von Arnau Estanyol könnten dafür sorgen, dass sein größter Geldgeber auf eine Summe von fünfzehntausend Libras verzichtet. Was willst du, Ungläubiger?«

»Ich weiß, was ich nicht will«, antwortete Guillem knapp.

»Nun denn«, sagte Nicolau und erhob sich. »Eine verschwindend geringe Strafe: Arnau hat während eines Jahres jeden Sonntag in der Kathedrale Buße zu tun, und deine Freunde sorgen dafür, dass der Gläubiger auf den Kredit verzichtet.«

»In Santa María.« Guillem war selbst überrascht, aber die Worte waren aus seinem tiefsten Inneren gekommen. Wo, wenn nicht in Santa María, sollte Arnau Buße tun?

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