18


»Wer war das? Kennst du ihn, Junge?«

Noch immer hallten eilige Schritte und die Rufe der Soldaten, die Arnau verfolgten, über den Platz, doch Joan hörte sie nicht. Das Prasseln, mit dem Bernats Leichnam verbrannt war, hallte in seinen Ohren wider.

Der Wachsoldat, der neben dem Gerüst stehen geblieben war, schüttelte Joan und wiederholte seine Frage: »Kennst du ihn?«

Doch Joan konnte den Blick nicht von der lodernden Fackel wenden, in die sich der Mann verwandelt hatte, der ihn an Kindes statt angenommen hatte.

Der Soldat schüttelte ihn erneut, bis der Junge ihn schließlich ansah. Sein Blick war wirr und er klapperte mit den Zähnen.

»Wer war das? Weshalb hat er deinen Vater verbrannt?«

Joan hörte die Frage nicht einmal. Er begann zu zittern.

»Er kann nicht sprechen«, mischte sich die Frau ein, die Arnau gedrängt hatte zu fliehen. Sie war es auch gewesen, die Joan, der wie erstarrt gewesen war, von den Flammen weggezerrt hatte. Sie hatte in Arnau den Jungen wiedererkannt, der den ganzen Tag neben dem Erhängten gewacht hatte. »Wenn ich den Mut gehabt hätte, das Gleiche zu tun«, dachte sie, »würde der Körper meines Mannes nicht vor der Stadtmauer verfaulen, den Vögeln zum Fräße.« Ja, dieser Junge hatte etwas getan, was jeder von denen, die hier waren, gerne getan hätte, und der Soldat … Er war für die Nachtwache zuständig, konnte also Arnau nicht erkannt haben. Für ihn war der Sohn der andere, der dort vor dem Leichnam seines Vaters hockte. Die Frau nahm Joan in die Arme und wiegte ihn hin und her.

»Ich muss wissen, wer ihn angezündet hat«, erklärte der Soldat.

Die Frau mischte sich mit Joan unter die Leute, die den toten Bernat anstarrten.

»Was tut das zur Sache?«, murmelte sie, während Joan von Krämpfen geschüttelt wurde. »Dieser Junge ist halb tot vor Hunger und Angst.«

Der Soldat sah nach oben. Dann nickte er langsam. Er hatte selbst einen Sohn verloren. Der Kleine war immer magerer geworden, bis ihn schließlich ein harmloses Fieber dahingerafft hatte. Seine Frau hatte ihn genauso in die Arme geschlossen, wie es diese Frau mit dem Jungen tat. Er sah die beiden an. Die Frau weinte, während sich der Junge schutzsuchend an ihre Brust schmiegte.

»Bring ihn nach Hause«, sagte er zu der Frau. Dann blickte er wieder zu Bernats brennendem Leichnam auf. »Verfluchte Genuesen!«


Es war Tag geworden in Barcelona.

»Joan!«, rief Arnau, kaum dass er die Tür geöffnet hatte.

Pere und Mariona, die im Erdgeschoss am Herd saßen, bedeuteten ihm, still zu sein.

»Er schläft«, sagte Mariona.

Die fremde Frau hatte Joan nach Hause gebracht und ihnen erzählt, was passiert war. Die beiden alten Leute kümmerten sich um Joan, bis er schließlich einschlief. Dann setzten sie sich an den wärmenden Herd.

»Was soll aus ihnen werden?«, fragte Mariona ihren Mann. »Ohne Bernat wird es der Junge nicht in den Ställen aushalten.«

»Und wir können sie nicht versorgen«, dachte Pere. Sie konnten es sich nicht leisten, den beiden Jungen das Zimmer unentgeltlich zu überlassen oder sie mit durchzufüttern. Pere wunderte sich über das Strahlen in Arnaus Augen. Sein Vater war gerade hingerichtet worden! Er hatte ihn sogar angezündet; die Frau hatte es ihm erzählt. Woher kam dieses Strahlen?

»Ich bin ein Bastaix!«, verkündete Arnau und machte sich über den Topf mit den kalten Resten des gestrigen Abendessens her.

Die beiden alten Leute wechselten einen Blick und sahen dann zu dem Jungen, der mit dem Rücken zu ihnen direkt aus dem Schöpflöffel aß. Er war völlig abgemagert! Der Getreidemangel hatte seine Spuren bei ihm hinterlassen, wie überall in Barcelona. Wie sollte dieser magere Junge Lasten schleppen?

Mariona schüttelte den Kopf und sah ihren Mann an.

»Man wird sehen«, sagte Pere.

»Was sagt Ihr?«, fragte Arnau, während er sich mit vollem Mund umdrehte.

»Nichts, mein Sohn, nichts.«

»Ich muss los«, sagte Arnau. Er nahm ein Stück hartes Brot und biss herzhaft hinein. Der Drang, Joan zu fragen, was auf dem Platz geschehen war, rang mit einem anderen drängenden Wunsch: sich seinen neuen Arbeitskollegen anzuschließen. Er traf eine Entscheidung. »Erzählt Joan davon, wenn er aufwacht.«


Im April wurde die Schifffahrt wieder aufgenommen, die seit Oktober geruht hatte. Die Tage wurden länger, und die großen Schiffe begannen, im Hafen einzulaufen oder Anker zu lichten. Niemand, weder Reeder noch Ausrüster oder Steuermänner, wollte sich länger als unbedingt nötig in dem gefährlichen Hafen von Barcelona aufhalten.

Bevor er sich zu der Gruppe der Bastaixos gesellte, die dort wartete, sah Arnau vom Strand aufs Meer hinaus. Es war immer dort gewesen, doch wenn er mit seinem Vater am Strand entlanggegangen war, hatte er dem Meer nach wenigen Schritten den Rücken gekehrt. An diesem Tag betrachtete er es mit anderen Augen: Er würde von ihm leben. Im Hafen ankerten neben unzähligen kleinen Booten auch zwei große, soeben eingelaufene Handelsschiffe sowie ein Verband von sechs riesigen Kriegsgaleeren mit je sechsundzwanzig Ruderbänken à zehn Ruderern.

Arnau hatte schon von der Flotte gehört. Die Stadt hatte sie ausgerüstet, um den König im Krieg gegen Genua zu unterstützen. Sie stand unter dem Befehl des vierten Ratsherren von Barcelona, Galcerà Marquet. Nur ein Sieg über die Genuesen würde den Weg für den Handel und die Versorgung der Hauptstadt des Prinzipats wieder freimachen. Aus diesem Grund hatte sich Barcelona großzügig gegenüber König Alfons gezeigt.

»Du willst doch nicht etwa einen Rückzieher machen?«, hörte er eine Stimme hinter sich sagen. Arnau drehte sich um. Vor ihm stand einer der Zunftmeister der Bastaixos. »Auf geht's«, munterte er ihn auf und ging weiter zum Treffpunkt der Bastaixos.

Arnau folgte ihm. Als er zu der Gruppe trat, begrüßten ihn die Männer mit einem Lächeln.

»Das hier wird etwas anderes sein, als Wasser auszugeben, Arnau«, sagte einer zu ihm. Die übrigen lachten.

»Hier, nimm«, forderte ihn Ramon auf. »Es ist die kleinste, die wir finden konnten.«

Arnau nahm behutsam die Capçana entgegen, das schützende Kopfpolster, mit welchem die Männer ihre Lasten trugen.

»Sie geht schon nicht kaputt!«, sagte einer der Bastaixos lachend, als er sah, wie vorsichtig Arnau sie festhielt.

»Natürlich nicht!«, dachte Arnau und lächelte dem Bastaix zu. Er setzte das Polster auf den Hinterkopf, zog den Lederriemen über die Stirn, um es zu befestigen, und lächelte erneut.

Ramon prüfte, ob das Polster richtig saß.

»In Ordnung«, sagte er und tätschelte ihm die Wange. »Fehlen nur noch die Schwielen.«

»Welche Schwielen?«, fragte Arnau, doch als nun die Zunftmeister eintrafen, richtete sich alle Aufmerksamkeit auf sie.

»Sie können sich nicht einigen«, erklärte einer von ihnen. Alle Bastaixos, auch Arnau, sahen ein Stück den Strand hinunter, wo mehrere kostbar gekleidete Männer standen und miteinander diskutierten. »Galcerà Marquet will, dass zuerst die Galeeren beladen werden. Die Händler hingegen bestehen darauf, dass zuerst die beiden Schiffe entladen werden, die soeben eingetroffen sind. Wir müssen abwarten«, kündigte er an.

Die Männer murrten leise. Die meisten setzten sich in den Sand. Arnau setzte sich zu Ramon, die Capçana immer noch umgeschnallt.

Ramon zeigte auf das Tragepolster. »Achte immer darauf, dass kein Sand hineinkommt. Das wird sonst unangenehm beim Tragen.«

Der Junge legte die Capçana ab und hielt sie vorsichtig fest, damit sie nicht mit dem Sand in Berührung kam.

»Wo liegt das Problem?«, fragte er Ramon. »Man kann doch zuerst die einen Schiffe be- oder entladen und dann die anderen.«

»Niemand will länger im Hafen von Barcelona liegen als unbedingt nötig. Wenn ein Sturm aufkommt, sind die Schiffe ihm schutzlos ausgeliefert.«

Arnau ließ seinen Blick über den Hafen schweifen, vom Puig de les Falsies bis Santa Clara. Dann sah er zu der Gruppe hinüber, die immer noch diskutierte.

»Der Ratsherr hat das Kommando, oder?«

Ramon lachte und fuhr ihm durchs Haar.

»In Barcelona haben die Händler das Kommando. Sie haben die königlichen Galeeren bezahlt.«

Schließlich endete die Diskussion mit einem Kompromiss: Die Bastaixos würden zunächst die Ausrüstung für die Galeeren aus der Stadt herbeitragen. Unterdessen würden die Lastschiffer damit beginnen, die Handelsschiffe zu entladen. Die Bastaixos mussten zurück sein, bevor die Lastkähne mit den Waren den Strand erreicht hatten. Diese sollten an einem geeigneten Ort gelagert werden, statt sie gleich auf die Lagerhäuser ihrer jeweiligen Besitzer zu verteilen. Dann würden die Lastkähne die Ausrüstung auf die Galeeren schaffen, während die Bastaixos für weiteren Nachschub sorgten. Von dort aus ging es dann wieder zu den Kauffahrern, um die Waren zu löschen, und immer so weiter, bis die Galeeren beladen und die Handelsschiffe entladen waren. Danach sollten sie die Ware auf die jeweiligen Lagerhäuser verteilen und, wenn dann noch Zeit blieb, die Handelsschiffe erneut beladen.

Als man sich geeinigt hatte, kam Bewegung in sämtliche Hafenarbeiter. Die Bastaixos begaben sich in Gruppen zu den städtischen Lagerhäusern Barcelonas, wo das Gepäck der Galeerenbesatzungen bereitstand, auch das der zahlreichen Ruderer. Unterdessen fuhren die Lastschiffer zu den kürzlich im Hafen eingetroffenen Kauffahrern hinaus, um die Waren an Bord zu nehmen. Da es keine Molen gab, konnte die Ladung ohne diese Berufsstände nicht gelöscht werden.

Die Besatzung jeder Barkasse oder Barke bestand aus drei bis vier Mann: dem Schiffsführer und – je nach Zunft – Sklaven oder freien Tagelöhnern. Die Mitglieder der Bruderschaft Sant Pere, der ältesten und reichsten der Stadt, verwendeten Sklaven – nicht mehr als zwei je Boot, wie es die Zunftordnung vorsah. Die junge Bruderschaft Santa María, die nicht über so viele Mittel verfügte, arbeitete mit angeheuerten Tagelöhnern. In jedem Fall war das Be- und Entladen der Ware, nachdem die Lastboote an den Kauffahrern angelegt hatten, ein zeitraubender und heikler Vorgang, selbst bei ruhiger See, denn die Hafenschiffer waren dem Eigentümer gegenüber für verloren gegangene oder beschädigte Ware verantwortlich. Sie konnten sogar zu Gefängnis verurteilt werden, wenn sie die entsprechenden Entschädigungen an die Händler nicht zu zahlen vermochten.

Herrschte stürmisches Wetter im Hafen von Barcelona, wurde es noch schwieriger, und zwar nicht nur für die Hafenschiffer, sondern für alle, die mit der Seefahrt zu tun hatten. Zunächst einmal, weil die Hafenschiffer sich weigern konnten, die Waren zu entladen – bei gutem Wetter durften sie das nicht –, es sei denn, sie handelten freiwillig einen Sonderpreis mit dem Eigentümer der Ware aus. Doch die größten Folgen hatte ein Sturm für die Eigner, Steuermänner und auch die Besatzung eines Schiffes. Unter Androhung strenger Strafen durfte niemand das Schiff verlassen, bis die Ladung vollständig gelöscht war. Befanden sich der Besitzer oder sein Schreiber an Land – denn sie durften als Einzige von Bord gehen –, waren sie dazu verpflichtet, wieder zurückzukehren.

Während sich also die Hafenschiffer daranmachten, das erste Schiff zu entladen, begannen die Bastaixos, nachdem die Zunftmeister sie in Gruppen aufgeteilt hatten, die Ausrüstung der Galeeren aus den verschiedenen städtischen Lagerhäusern zum Strand zu tragen. Arnau wurde in Ramons Gruppe eingeteilt, dem der Zunftmeister einen bedeutungsvollen Blick zuwarf, als er ihm den Jungen zuwies.

Sie gingen am Strand entlang zum Portico del Forment, dem städtischen Getreidespeicher, der nach dem Volksaufstand von Soldaten des Königs streng bewacht wurde. Arnau versuchte, sich hinter Ramon zu verstecken, als sie zum Tor kamen, doch den Soldaten fiel der schmächtige Junge zwischen all den kräftigen Männern auf.

»Was soll der denn tragen?«, fragte einer lachend, während er auf ihn deutete.

Als Arnau sah, dass die Blicke sämtlicher Soldaten auf ihn gerichtet waren, spürte er, wie sich sein Magen umdrehte. Er versuchte, sich noch kleiner zu machen, doch Ramon packte ihn an der Schulter, legte ihm die Capçana über die Stirn und antwortete dem Soldaten im gleichen Ton: »Er muss arbeiten! Er ist vierzehn Jahre alt und soll seine Familie unterstützen.«

Mehrere Soldaten nickten beifällig und ließen sie passieren. Arnau trottete mit gesenktem Kopf zwischen den Männern, den Lederriemen in die Stirn gedrückt. Als er den Portico del Forment betrat, schlug ihm der Geruch des dort gelagerten Getreides entgegen. In den Lichtstrahlen, die durch die Fenster fielen, tanzte feiner, weißer Staub, der rasch bei dem Jungen und vielen anderen Bastaixos Hustenreiz auslöste.

»Vor dem Krieg gegen Genua war hier alles voller Korn«, er machte eine ausholende Handbewegung, die den gesamten Speicher umfasste, »doch nun …«

Dort standen die großen Krüge von Grau, stellte Arnau fest, einer neben dem anderen.

»Auf geht's«, rief einer der Zunftmeister.

Ein Pergament in den Händen, begann der Lagerverwalter auf die großen Krüge zu deuten. »Wie sollen wir diese randvollen Krüge transportieren?«, überlegte Arnau. Ein einzelner Mann konnte unmöglich eine solche Last tragen. Die Bastaixos taten sich zu je zweien zusammen. Nachdem sie die Krüge hingelegt und Seile daran befestigt hatten, schulterten sie eine kräftige Stange, die sie zuvor durch die Seile geführt hatten. Dann machten sie sich hintereinander auf den Weg in Richtung Strand. Noch mehr Staub wurde aufgewirbelt. Arnau hustete erneut. Als die Reihe an ihm war, hörte er Ramons Stimme.

»Gebt dem Jungen einen von den kleinen, von denen mit dem Salz.«

Der Lagerverwalter sah Arnau an und schüttelte den Kopf.

»Salz ist teuer«, erklärte er Ramon. »Wenn der Krug hinfällt …«

»Gib ihm einen mit Salz!«

Die Getreidekrüge waren etwa einen Meter hoch. Der von Arnau maß kaum einen halben Meter, doch als der Junge ihn mit Ramons Hilfe auf den Rücken wuchtete, merkte er, dass seine Knie zitterten.

Ramon packte ihn von hinten an den Schultern.

»Jetzt musst du dich beweisen«, raunte er ihm ins Ohr.

Arnau ging los, gebückt, die Hände fest um die Henkel des Kruges geklammert, den Kopf vorgereckt. Er merkte, wie ihm der Lederriemen in die Stirn schnitt.

Ramon sah ihn schwankend davongehen. Langsam setzte er einen Fuß vor den anderen. Der Verwalter schüttelte erneut den Kopf, und die Soldaten schwiegen, als er an ihnen vorüberkam.

»Für Euch, Vater!«, murmelte Arnau mit zusammengebissenen Zähnen, als er die glutheiße Sonne auf dem Gesicht spürte. Das Gewicht würde ihn in Stücke reißen! »Ich bin kein Kind mehr, Vater, seht Ihr?«

Hinter ihm kamen Ramon und ein weiterer Bastaix, eine Stange mit einem Getreidekrug zwischen sich. Beider Blicke waren auf die Füße des Jungen gerichtet. Sie konnten sehen, wie seine Knöchel aneinanderstießen. Arnau strauchelte. Ramon schloss die Augen.

Ob er noch dort hängt?, fragte sich Arnau in diesen Momenten, das Bild des toten Bernat vor Augen. »Niemand wird mehr über Euch spotten können! Nicht einmal diese Hexe und ihre Stiefkinder.«

Er richtete sich unter der Last auf und ging weiter.

Er schaffte es zum Strand. Ramon hinter ihm lächelte. Keiner sagte ein Wort. Die Lastschiffer kamen ihm entgegen und nahmen ihm den Salzkrug ab, bevor er das Wasser erreicht hatte. Es dauerte ein paar Sekunden, bis Arnau sich aufrichten konnte. »Habt Ihr gesehen, Vater?«, murmelte er und sah zum Himmel.

Ramon klopfte ihm auf den Rücken, als er das Getreide abgeladen hatte.

»Noch einen?«, fragte der Junge ernsthaft.

Er schleppte noch zwei. Als Arnau den dritten Krug am Strand ablieferte, trat Josep zu ihm, einer der Zunftmeister.

»Für heute ist es genug, Junge«, sagte er zu ihm.

»Ich kann noch weitermachen«, versicherte Arnau und versuchte zu verbergen, wie sehr ihn der Rücken schmerzte.

»Nein, das kannst du nicht. Ich kann nicht zulassen, dass du blutend durch Barcelona läufst wie ein verwundetes Tier«, sagte er väterlich, während er auf mehrere dünne Rinnsale deutete, die Arnaus Rücken hinabliefen. Der Junge hob die Hand zum Rücken und betrachtete sie. »Wir sind keine Sklaven. Wir sind freie Männer, freie Arbeiter, und so sollen die Leute uns sehen. Keine Sorge«, bemerkte er, als er Arnaus bekümmerte Miene bemerkte. »Uns allen ist es irgendwann einmal so ergangen, und wir alle hatten jemanden, der uns vom Weiterarbeiten abhielt. Die wunden Stellen, die sich an deinem Hinterkopf und an deinem Rücken gebildet haben, müssen zuerst verschorfen. In einigen Tagen wird es so weit sein. Du kannst mir glauben, dass ich dir von da an nicht mehr Ruhepausen zugestehen werde als jedem deiner Kollegen.« Damit überreichte ihm Josep ein kleines Fläschchen. »Wasch die Wunden gut aus und trage diese Salbe auf, damit der Schorf austrocknet.«

Angesichts der Worte des Zunftmeisters fiel die Anspannung von Arnau ab. An diesem Tag würde er keine Lasten mehr schleppen müssen. Doch nun machten sich Schmerzen und Müdigkeit nach der durchwachten Nacht bemerkbar. Arnau war am Ende seiner Kräfte. Er murmelte etwas zum Abschied und schleppte sich nach Hause. Joan wartete in der Tür auf ihn. Wie lange mochte er schon dort stehen?

»Weißt du, dass ich ein Bastaix bin?«, fragte Arnau ihn, als er vor ihm stand.

Joan nickte. Ja, das wusste er. Er hatte ihn während seiner letzten beiden Gänge beobachtet, hatte bei jedem unsicheren Schritt, den er machte, die Zähne zusammengebissen und die Hände geballt, hatte gebetet, dass er nicht stürzte, und als er sein schmerzverzerrtes Gesicht sah, waren ihm die Tränen gekommen. Nun wischte sich Joan die Tränen ab und breitete die Arme aus, um seinen Bruder zu begrüßen. Arnau warf sich ihm entgegen.

»Du musst meinen Rücken mit dieser Salbe einreiben«, sagte er noch, während Joan ihn ins Haus führte.

Mehr brachte er nicht mehr heraus. Er warf sich der Länge nach mit ausgebreiteten Armen hin und war nach wenigen Sekunden in einen heilsamen Schlaf gefallen. Vorsichtig, um ihn nicht zu wecken, säuberte Joan die Wunde und den Rücken mit warmem Wasser, das Mariona ihm brachte. Danach trug er die streng riechende Salbe auf. Sie schien sofort Wirkung zu zeigen, denn Arnau wälzte sich unruhig hin und her, ohne jedoch aufzuwachen.

In dieser Nacht war es Joan, der keinen Schlaf fand. Er saß neben seinem Bruder auf dem Boden und lauschte auf Arnaus Atem. War dieser gleichmäßig, fielen ihm langsam die Augen zu, doch sobald Arnau sich bewegte, schreckte er wieder hoch. »Und was wird jetzt aus uns?«, dachte er hin und wieder. Er hatte mit Pere und seiner Frau gesprochen. Das Geld, das Arnau als Bastaix verdienen konnte, würde nicht für sie beide reichen. Was sollte aus ihm werden?

»Ab in die Schule!«, befahl ihm Arnau am nächsten Morgen, als er Joan dabei antraf, wie er Mariona zur Hand ging.

Er hatte am Vortag darüber nachgedacht: Alles sollte so weitergehen, wie es zu Lebzeiten seines Vaters gewesen war.

Über den Herd gebeugt, warf die alte Frau ihrem Mann einen Blick zu. Joan wollte Arnau antworten, doch Pere kam ihm zuvor: »Mach, was dein älterer Bruder dir sagt«, forderte er ihn auf.

Marionas angespannter Blick wich einem Lächeln. Der alte Mann sah sie mit unverändert ernster Miene an. Wovon sollten sie leben? Doch Mariona lächelte weiter, bis Pere den Kopf schüttelte, so als wollte er die Unwägbarkeiten aus seinen Gedanken vertreiben, über die sie in der Nacht so lange gesprochen hatten.

Joan verließ eilig das Haus. Als der Kleine verschwunden war, versuchte Arnau erneut, sich zu strecken. Er konnte keinen einzigen Muskel rühren. Er war völlig verspannt und über und über mit schlimmen Schürfwunden übersät. Doch ganz langsam begann sein junger Körper, ihm wieder zu gehorchen. Nachdem er sein karges Frühstück verzehrt hatte, ging er in die Sonne hinaus. Lächelnd sah er über den Strand aufs Meer hinaus und zu den sechs Galeeren, die noch immer im Hafen vor Anker lagen.

Ramon und Josep ließen sich seinen Rücken zeigen.

»Eine Tour«, sagte der Zunftmeister zu Ramon, bevor er zu den anderen ging. »Danach zur Kapelle.«

Arnau sah Ramon an, während er das Hemd wieder überstreifte.

»Du hast es gehört«, sagte dieser.

»Aber …«

»Hör auf ihn, Arnau. Josep weiß, was er tut.«

Ja, das wusste er. Nachdem er den ersten Krug transportiert hatte, begann Arnau wieder zu bluten.

»Wenn es schon beim ersten Mal geblutet hat, kommt es doch auf ein paar Touren mehr nicht an«, beteuerte Arnau, als Ramon nach ihm seine Ware am Strand ablud.

»Die Schwielen, Arnau. Es geht nicht darum, dass du dir den Rücken zuschanden schleppst, sondern dass sich Schwielen bilden. Jetzt geh und wasch dich, trage die Salbe auf, und dann gehst du in die Kapelle.« Arnau versuchte zu widersprechen. »Es ist unsere Kapelle, Arnau, deine Kapelle. Einer muss sich um sie kümmern.«

»Diese Kapelle bedeutet uns sehr viel«, setzte der Bastaix hinzu, der mit Ramon zusammenarbeitete. »Wir sind nur einfache Stauer, doch das Ribera-Viertel hat uns zugestanden, was kein Adliger und keine der reichen Zünfte besitzt: die Kapelle mit dem Allerheiligsten und die Schlüssel zur Kirche der Schutzpatronin des Meeres. Verstehst du?« Arnau nickte nachdenklich. »Nur wir Bastaixos dürfen diese Kapelle instand halten. Es gibt keine größere Ehre für einen von uns. Du wirst noch genug Zeit zum Be- und Entladen haben, mach dir da mal keine Sorgen.«

Mariona versorgte seine Wunden und Arnau ging zur Kirche Santa María. Dort suchte er nach Pater Albert, damit dieser ihm die Schlüssel zur Kapelle aushändigte, doch der Priester forderte ihn auf, ihn zu dem Friedhof am Portal de les Moreres zu begleiten.

»Heute Morgen habe ich deinen Vater beerdigt«, sagte er und deutete auf den Friedhof. Arnau sah ihn fragend an. »Ich wollte dir nicht Bescheid geben, falls sich Soldaten dort zeigen sollten. Der Stadtrichter wollte nicht, dass die Leute den verbrannten Leichnam deines Vaters sehen, weder auf der Plaza del Blat noch vor den Toren der Stadt. Es war nicht schwer für mich, die Erlaubnis zu seiner Bestattung zu erhalten.«

Die beiden standen eine Weile schweigend vor dem Friedhof.

»Soll ich dich allein lassen?«, fragte der Pfarrer schließlich.

»Ich muss mich um die Kapelle der Bastaixos kümmern«, antwortete Arnau und wischte sich die Tränen ab.


Einige Tage lang machte Arnau immer nur eine Tour und ging dann zur Kapelle. Die Galeeren waren mittlerweile in See gestochen, und bei den Lasten handelte es sich um die üblichen Handelswaren: Stoffe, Korallen, Gewürze, Kupfer, Wachs … Eines Tages blutete sein Rücken nicht mehr. Nachdem Josep ihn erneut untersucht hatte, durfte Arnau weitere große Stoffballen tragen. Er lächelte allen Bastaixos zu, die ihm begegneten.

Inzwischen erhielt er seinen ersten Lohn als Bastaix. Es war kaum mehr, als er für seine Arbeit bei Grau bekommen hatte! Er händigte Pere das ganze Geld aus und zusätzlich noch einige Münzen, die sich noch in Bernats Geldbörse befanden. »Es reicht nicht«, dachte der Junge, als Pere das Geld zählte. Bernat hatte ihm wesentlich mehr gezahlt. Er öffnete erneut die Börse. Es würde nicht mehr lange reichen, überlegte er, nachdem er den Inhalt der abgegriffenen Börse überschlagen hatte. Die Hand in der Börse, sah er den alten Mann an. Pere zog die Stirn kraus.

»Wenn ich mehr tragen kann«, beteuerte Arnau, »werde ich auch mehr Geld verdienen.«

»Das wird noch eine ganze Weile dauern, Arnau, das weißt du, und bis dahin wird die Börse deines Vaters leer sein. Du weißt, dass dieses Haus mir nicht gehört … Nein, es gehört mir nicht«, erklärte er angesichts der überraschten Miene des Jungen. »Die meisten Häuser in der Stadt gehören der Kirche – dem Bischof oder einem Orden. Wir besitzen es nur in Erbpacht, für die wir einen jährlichen Pachtzins entrichten müssen. Du weißt ja, dass ich nicht viel arbeiten kann. Um die Summe aufzubringen, habe ich also nur die Mieteinnahmen für das Zimmer. Wenn du nicht genug zahlst … Verstehst du?«

»Was nützt es dann, frei zu sein, wenn die Menschen in der Stadt genauso an ihre Häuser gefesselt sind wie die Bauern an ihr Land?«, fragte Arnau kopfschüttelnd.

»Wir sind nicht an die Häuser gefesselt«, entgegnete Pere.

»Aber ich habe gehört, dass all diese Häuser vom Vater auf den Sohn übergehen. Sie werden sogar verkauft! Wie ist das möglich, wenn man das Haus nicht besitzt und man auch nicht daran gebunden ist?«

»Ganz einfach, Arnau. Der Kirche gehören viele Ländereien und Besitzungen, doch ihre Gesetze verbieten es ihr, kirchliches Eigentum zu veräußern.« Arnau wollte etwas sagen, doch Pere brachte ihn mit einer Handbewegung zum Schweigen. »Das Problem ist, dass der König Bischöfe, Äbte und sonstige kirchliche Würdenträger aus den Reihen seiner Freunde ernennt. Der Papst stellt sich nie dagegen. All diese Freunde des Königs erhoffen sich gute Einnahmen aus diesen Gütern, doch da sie sie nicht verkaufen können, haben sie sich die Erbpacht ausgedacht und umgehen so das Veräußerungsverbot.«

»Also so eine Art Miete«, sagte Arnau.

»Nein. Mieter kann man jederzeit auf die Straße setzen. Einen Erbpächter kann man nicht hinauswerfen … solange er seinen Pachtzins zahlt.«

»Und könntest du dein Haus verkaufen?«

»Ja. Das nennt sich dann unterverpachten. Der Bischof erhielte einen Teil der Verkaufssumme, das Laudemio, und der neue Unterpächter könnte es genauso machen. Es gibt nur ein Verbot.« Arnau sah ihn fragend an. »Man darf es nicht jemandem überlassen, der gesellschaftlich höhergestellt ist, einem Adligen zum Beispiel. Obwohl ich nicht glaube, dass ich einen adligen Interessenten für dieses Haus finden würde, oder?«, setzte er grinsend hinzu. Arnau ging nicht auf den Scherz ein und Peres Lächeln verschwand von seinem Gesicht. Die beiden schwiegen. »Jedenfalls«, stellte der Alte dann fest, »muss ich die Pacht zahlen, und mit dem, was ich verdiene und was du nach Hause bringst …«

»Was machen wir jetzt?«, dachte Arnau. Von seinem geringen Lohn würden sie sich nichts leisten können, nicht einmal Essen für zwei Personen. Aber Pere hatte es auch nicht verdient, für sie aufkommen zu müssen. Schließlich war er ihnen stets wohlgesinnt gewesen.

»Mach dir keine Sorgen«, sagte er zögernd. »Wir werden gehen, damit du …«

»Mariona und ich haben nachgedacht«, fiel ihm Pere ins Wort. »Wenn es euch nichts ausmacht, könnten Joan und du hier neben dem Herd schlafen.« Arnau riss erstaunt die Augen auf. »Dann könnten wir das Zimmer an eine Familie weitervermieten und den Pachtzins zahlen. Ihr müsstet euch nur zwei Matratzen besorgen. Was hältst du davon?«

Arnau strahlte übers ganze Gesicht. Seine Lippen bebten.

»Heißt das, ja?«, half ihm Pere.

Arnau presste die Lippen aufeinander und nickte energisch mit dem Kopf.


»Auf zur Jungfrau!«, rief einer der Zunftmeister der Bruderschaft.

Die Härchen auf Arnaus Armen und Beinen richteten sich auf.

An diesem Tag waren keine Schiffe da, die be- oder entladen werden mussten. Im Hafen lagen lediglich die kleinen Fischerboote. Die Bastaixos hatten sich wie immer am Strand versammelt. Die Sonne ging gerade auf und verhieß einen frühlingshaften Tag.

Seit er sich zu Beginn der Schifffahrtsperiode den Bastaixos angeschlossen hatte, hatten sie keinen einzigen Tag Gelegenheit gefunden, am Bau von Santa María mitzuarbeiten.

»Auf zur Jungfrau!«, war erneut ein Ruf aus der Gruppe der Bastaixos zu hören.

Arnau beobachtete die Männer. Ein Lächeln erschien auf ihren noch schläfrigen Gesichtern. Einige streckten sich und schwangen die Arme vor und zurück, um den Rücken zu lockern. Arnau erinnerte sich, wie er ihnen damals Wasser gegeben hatte, wenn sie gebückt an ihm vorüberzogen, die Zähne zusammengebissen, die riesigen Steine geschultert. Würde er das schaffen? Vor Angst verspannten sich seine Muskeln. Er wollte es den übrigen Bastaixos nachtun und begann sich zu lockern, indem er die Arme vor- und zurückschwang.

»Dein erstes Mal«, beglückwünschte ihn Ramon. Arnau antwortete nicht und ließ die Arme hängen. »Mach dir keine Sorgen, mein Junge«, setzte er hinzu, legte ihm den Arm auf die Schulter und ermunterte ihn, der Gruppe zu folgen, die sich bereits in Bewegung gesetzt hatte. »Denk daran: Wenn du Steine für die Jungfrau schleppst, trägt sie einen Teil der Last.«

Arnau sah zu Ramon auf.

»Es stimmt«, beteuerte der Bastaix lächelnd. »Du wirst es heute sehen.«

Von Santa Clara im äußersten Osten Barcelonas machten sie sich auf den Weg quer durch die ganze Stadt, ließen die Stadtmauer hinter sich und stiegen zum königlichen Steinbruch La Roca auf dem Montjuïc hinauf. Arnau ging schweigend. Hin und wieder hatte er das Gefühl, von den anderen beobachtet zu werden. Es ging durch das Ribera-Viertel, an der Warenbörse und dem Pórtico del Forment vorbei. Als sie am Angel-Brunnen vorbeikamen, betrachtete Arnau die Frauen, die darauf warteten, ihre Krüge zu füllen. Viele von ihnen hatten Joan und ihn vorgelassen, wenn sie mit ihrem Wasserschlauch dort anstanden. Die Leute grüßten. Einige Kinder sprangen um die Gruppe herum, tuschelten und deuteten respektvoll auf Arnau. Sie ließen die Werft hinter sich und erreichten das Kloster Framenors am westlichen Ende der Stadt. Dort endete die Stadtmauer von Barcelona. Dahinter entstanden die neuen Schiffszeughäuser der gräflichen Stadt, gefolgt von Feldern und Gemüsegärten – Sant Nicolau, San Bertrán und Sant Pau del Camp. Dort begann der Aufstieg zum Steinbruch.

Doch bevor sie den Steinbruch erreichten, mussten die Bastaixos den Cagalell passieren. Noch bevor sie ihn sahen, schlug ihnen der Gestank der Abfälle der Stadt entgegen.

»Sie lassen gerade das Wasser ab«, sagte einer angesichts des bestialischen Gestanks.

Die meisten Männer nickten zustimmend.

»Sonst wäre der Gestank nicht so schlimm«, setzte ein anderer hinzu.

Der Cagalell war ein Tümpel an der Einmündung des Wasserlaufs der Rambla, gleich neben der Stadtmauer, in dem sich die Abfälle und das Schmutzwasser der Stadt sammelten. Da das Gelände uneben war, floss das Wasser nicht zum Strand ab, sondern blieb dort stehen, bis ein städtischer Angestellter einen Abfluss grub und den Unrat ins Meer leitete. Dann war der Gestank am Cagalell am schlimmsten.

Sie gingen an dem Tümpel entlang, bis sie zu einer Stelle kamen, wo man ihn mit einem Satz überspringen konnte. Dann marschierten sie weiter durch die Felder, bis sie den Fuß des Montjuïc erreichten.

»Und wie kommen wir auf dem Rückweg auf die andere Seite?«, fragte Arnau und deutete auf den Tümpel.

Ramon schüttelte den Kopf.

»Ich habe noch niemanden kennengelernt, der mit einem Stein auf dem Rücken einen solchen Satz machen kann«, sagte er.

Als sie zum königlichen Steinbruch hinaufstiegen, blieb Arnau stehen und sah auf die Stadt hinunter. Sie war weit weg, sehr weit. Wie sollte er diesen ganzen Weg mit einem Stein auf dem Rücken schaffen? Er merkte, wie seine Beine nachgaben, und lief rasch hinter der Gruppe her, die schwatzend und lachend weitergegangen war.

Schließlich tauchte hinter einer Wegbiegung der königliche Steinbruch La Roca auf. Arnau entfuhr ein Ausruf des Erstaunens. Es war wie auf der Plaza del Blat oder einem der anderen Märkte, nur ohne Frauen! Auf einem großen, ebenen Gelände verhandelten die königlichen Beamten mit den Leuten, die gekommen waren, um Steine zu kaufen. Am einen Ende der Freifläche, dort, wo man noch nicht mit dem Abbau des Gesteins begonnen hatte, drängten sich Karren und Maultiergespanne. Überall sonst erhoben sich Steilwände aus glänzendem Gestein. Unzählige Steinmetze schlugen gefährlich große Blöcke aus dem Fels, die sie dann auf der Freifläche auf die richtige Größe zurechtklopften.

Die Bastaixos wurden von allen, die auf ihre Steine warteten, herzlich empfangen. Während die Zunftmeister zu den Beamten gingen, mischten sich die übrigen unter die Leute. Es gab Umarmungen, Hände wurden geschüttelt, man hörte Scherze und Lachen, Krüge mit Wasser und Wein wurden ihnen entgegengehalten.

Arnau konnte den Blick nicht von den Steinmetzen und ihren Gehilfen wenden, die Karren und Maultiere beluden, stets gefolgt von einem Beamten, der das Ganze überwachte. Wie auf den Märkten diskutierten die Leute oder warteten ungeduldig, dass sie an die Reihe kamen.

»Das hast du nicht erwartet, stimmt's?«

Als Arnau sich umdrehte, sah er Ramon, der gerade einen Krug zurückreichte, und schüttelte den Kopf.

»Wofür sind all diese Steine?«

»Oje!« Und Ramon begann aufzuzählen: »Für die Kathedrale, für Santa María del Pi, Santa Anna, das Kloster von Pedralbes, die königlichen Zeughäuser, Santa Clara, die Stadtmauer. Überall wird gebaut und umgebaut, nicht zu sprechen von den neuen Wohnhäusern der Reichen und Adligen. Niemand will mehr Holz oder Ziegel. Stein soll es sein, nur noch Stein.«

»Und der König stellt die ganzen Steine zur Verfügung?«

Ramon musste herzhaft lachen.

»Nur die für Santa María del Mar. Die rückt er tatsächlich kostenlos heraus … und wahrscheinlich auch die für das Kloster von Pedralbes, denn das entsteht im Auftrag der Königin. Für alle anderen verlangt er gutes Geld.«

»Und was ist mit den königlichen Schiffszeughäusern?«, fragte Arnau. »Wenn sie doch königlich sind …«

Ramon lachte erneut.

»Sie mögen königlich sein, aber der König kommt nicht für die Kosten auf.«

»Die Stadt?«

»Auch nicht.«

»Die Händler?«

»Auch nicht.«

»Wer dann?«, wollte Arnau von dem Bastaix wissen.

»Die königlichen Schiffszeughäuser werden bezahlt von …«

»Von den Sündern!«, fiel ihm der Mann ins Wort, der ihm den Krug gereicht hatte, ein Fuhrmann von der Kathedrale.

Ramon und er lachten über Arnaus verdutztes Gesicht.

»Von den Sündern?«

»Ja«, fuhr Ramon fort, »die neuen Zeughäuser werden von dem Geld der sündigen Händler bezahlt. Pass auf, es ist ganz einfach: Nach den Kreuzzügen … Weißt du, was Kreuzzüge sind?« Arnau nickte. Natürlich wusste er, was die Kreuzzüge waren. »Nun, nachdem die Heilige Stadt endgültig verloren war, untersagte die Kirche den Handel mit dem Sultan von Ägypten. Doch offenbar bekommen unsere Händler ihre besten Waren von dort, und keiner von ihnen ist bereit, auf den Handel mit dem Sultan zu verzichten. Also gehen sie vorher zum Seekonsulat und bezahlen eine Strafe für die Sünde, die sie begehen werden. So erkaufen sie sich im Voraus die Absolution, und es ist keine Sünde mehr. König Alfons hat bestimmt, dass dieses Geld für den Bau der neuen Schiffszeughäuser von Barcelona verwendet werden soll.«

Arnau wollte etwas sagen, doch Ramon unterbrach ihn mit einer Handbewegung. Die Zunftmeister riefen nach ihnen, und Ramon forderte den Jungen auf, ihm zu folgen.

»Sind wir vor ihnen dran?«, fragte Arnau mit einem Blick auf die zurückbleibenden Fuhrleute.

»Natürlich«, antwortete Ramon, ohne stehen zu bleiben. »Bei uns sind nicht so viele Kontrollen nötig wie bei ihnen. Die Steine sind umsonst, und es ist ganz einfach, sie zu zählen: ein Bastaix, ein Stein.«

»Ein Bastaix, ein Stein«, wiederholte Arnau bei sich, als der erste Bastaix mit dem ersten Stein an ihm vorbeiging. Sie hatten nun die Stelle erreicht, wo die Steinmetze die großen Blöcke zurechtklopften. Er sah in das angestrengte Gesicht des Mannes. Arnau lächelte, doch sein Zunftbruder erwiderte das Lächeln nicht. Die Scherze waren verstummt, niemand lachte und schwatzte mehr. Alle blickten auf die Steine, die auf dem Boden lagen, die Capçana um die Stirn gezurrt. Die Capçana!. Arnau legte sie an. Die Bastaixos gingen mit ihren Steinen schweigend an ihm vorbei, einer nach dem anderen, und je mehr vorbeikamen, desto kleiner wurde die Gruppe, die rund um die Steine stand. Arnau betrachtete die Steine. Sein Mund war trocken und sein Magen krampfte sich zusammen. Einer der Bastaix bückte sich und zwei Männer wuchteten den Stein auf seinen Rücken. Arnau sah, wie er wankte und wie seine Knie zitterten. Er ließ einige Sekunden verstreichen, dann richtete er sich auf und ging an Arnau vorbei in Richtung Santa María. Mein Gott, der Mann war dreimal so stark wie er! Und seine Beine hatten gezittert! Wie sollte er …?

»Arnau!«, riefen ihn die Zunftmeister zu sich. Sie würden sich als Letzte auf den Weg machen. Nur noch wenige Bastaixos waren übrig. Ramon schob ihn nach vorne.

»Nur Mut«, sagte er.

Die drei Zunftmeister sprachen mit einem der Steinmetze, doch der schüttelte nur den Kopf. Die vier Männer nahmen die Steine in Augenschein, zeigten hierhin und dorthin, dann schüttelten alle erneut den Kopf. Neben den Steinen stehend, versuchte Arnau zu schlucken, doch seine Kehle war trocken. Er zitterte. Er durfte nicht zittern! Er bewegte die Hände und dann die Arme. Sie durften nicht sehen, wie er zitterte!

Josep, einer der Zunftmeister, deutete auf einen Stein. Der Steinmetz machte eine gleichgültige Geste, dann sah er Arnau an, schüttelte erneut den Kopf und wies seine Männer an, den Stein zu holen. »Sie sind alle gleich«, beteuerte er immer wieder.

Als Arnau die beiden Männer mit dem Stein dort stehen sah, trat er zu ihnen. Er beugte den Rücken und spannte sämtliche Muskeln an. Alle Anwesenden schwiegen. Die Männer ließen den Stein vorsichtig los und halfen ihm, ihn mit den Händen zu umfassen. Als er das Gewicht spürte, ging er in die Knie. Arnau biss die Zähne zusammen und schloss die Augen. »Hoch!«, glaubte er eine Stimme zu hören. Niemand hatte etwas gesagt, aber alle hatten es gedacht, als sie die Beine des Jungen wanken sahen. Hoch! Hoch! Arnau richtete sich unter der Last auf. Viele atmeten auf. Ob er überhaupt gehen konnte? Arnau stand da, die Augen immer noch geschlossen. Würde er gehen können?

Er setzte einen Fuß nach vorne. Das Gewicht des Steines drückte ihn nach vorne und zwang ihn, den anderen Fuß nach vorne zu setzen und dann wieder den einen … und wieder den anderen. Wenn er stehen blieb … Wenn er stehen blieb, würde er mit dem Stein nach vorne umfallen.

Ramon zog die Nase hoch und hielt sich die Augen zu.

»Nur Mut, Junge!«, hörte man einen der wartenden Fuhrmänner rufen.

»Nur wacker voran!«

»Du schaffst es!«

»Auf nach Santa María!«

Die Rufe hallten von den Wänden des Steinbruchs wider und begleiteten Arnau noch immer, als er bereits alleine auf dem Weg zurück in die Stadt war.

Doch er war nicht alleine. Alle Bastaixos, die nach ihm losgegangen waren, holten ihn mühelos ein, und alle, vom Ersten bis zum Letzten, passten ihre Schritte für einige Minuten denen von Arnau an, um ihm Mut zuzusprechen und ihn anzufeuern. Sobald der Nächste ihn erreichte, nahm der Vorherige sein Tempo wieder auf.

Aber Arnau hörte sie nicht. Er dachte nicht einmal. Seine Aufmerksamkeit war einzig und allein auf den Fuß gerichtet, den er nach vorne setzen musste. Wenn er ihn vor sich auf dem Weg erscheinen sah, wartete er auf den nächsten. Einen Fuß vor den anderen setzend, überwand er den Schmerz.

In den Feldern von San Bertrán dauerte es eine Ewigkeit, bis ihm die Füße gehorchten. Alle Bastaixos hatten ihn bereits überholt. Er erinnerte sich, wie sie die schweren Steine auf der Reling eines Bootes abgelegt hatten, wenn Joan und er ihnen Wasser zu trinken gaben. Er sah sich nach etwas Ähnlichem um und entdeckte nach kurzer Zeit einen Olivenbaum, auf dessen unteren Ästen er den Stein abstützen konnte. Wenn er ihn auf den Boden legte, würde er ihn nicht mehr schultern können. Er hatte kein Gefühl mehr in den Beinen.

»Wenn du stehen bleibst«, hatte Ramon ihm geraten, »achte darauf, dass sich deine Beine nicht völlig verkrampfen, sonst kannst du nicht weitergehen.«

Von einem Teil der Last befreit, bewegte Arnau weiter die Beine. Er atmete tief durch, einmal, zweimal, immer wieder. Einen Teil der Last trägt die Jungfrau, auch das hatte ihm Ramon gesagt. Mein Gott! Wenn das stimmte, wie viel wog dann dieser Stein wirklich? Er traute sich nicht, den Rücken zu strecken. Er tat weh, schrecklich weh. Er ruhte sich eine ganze Weile aus. Würde er sich wieder in Bewegung setzen können? Arnau blickte sich um. Er war allein. Nicht einmal die anderen Fuhrleute nahmen diesen Weg, sondern den zum Stadttor Trentaclaus.

Ob es wohl ging? Arnau sah in den Himmel. Er lauschte in die Stille und hob dann mit einem Ruck den Stein wieder an. Seine Füße setzten sich in Bewegung. Erst der eine, dann der andere, erst der eine, dann der andere …

Am Cagalell legte er eine weitere Rast ein, den Stein auf einen Felsvorsprung gestützt. Dort erschienen die ersten Bastaixos, die bereits auf dem Rückweg zum Steinbruch waren. Niemand sagte etwas. Sie sahen sich nur an. Arnau biss die Zähne zusammen und hob den Stein wieder an. Einige Bastaixos nickten ihm aufmunternd zu, doch keiner von ihnen blieb stehen. »Es ist seine Herausforderung«, sagte einer von ihnen, als Arnau ihn nicht mehr hören konnte. Er blickte zurück und sah, wie sich der Stein langsam vorwärtsbewegte. »Er muss alleine zurechtkommen«, pflichtete ein anderer bei.

Als Arnau die westliche Stadtmauer und das Kloster Framenors hinter sich gelassen hatte, begegneten ihm die ersten Einwohner Barcelonas. Er konzentrierte sich weiter auf seine Füße. Er war schon in der Stadt! Seeleute, Fischer, Frauen und Kinder, Werftarbeiter, Schiffszimmerleute – alle beobachteten schweigend den schweißüberströmten Jungen, der sich mit schmerzverzerrtem Gesicht unter der Last des Steins krümmte. Alle starrten auf die Füße des jungen Bastaix, denen Arnaus ganze Aufmerksamkeit galt, und alle feuerten ihn wortlos an: einer vor den anderen, einer vor den anderen …

Einige schlossen sich Arnau schweigend an, und so erreichte der Junge nach über zwei Stunden Plackerei die Kirche Santa María, gefolgt von einer kleinen, stillen Menschenmenge. Die Bauarbeiten kamen zum Stillstand. Die Maurer beugten sich über die Gerüste und die Zimmerleute und Steinmetzen ließen ihre Arbeit ruhen. Pater Albert, Pere und Mariona erwarteten ihn. Angel, der Sohn des Hafenschiffers, der mittlerweile Geselle geworden war, kam ihm entgegengelaufen.

»Los!«, schrie er. »Du bist da! Du bist am Ziel! Los, komm schon!«

Von den Gerüsten herunter waren aufmunternde Rufe zu hören. Diejenigen, die Arnau gefolgt waren, brachen in Jubel aus. Ganz Santa María stimmte mit ein, sogar Pater Albert jubelte mit. Arnau jedoch blickte weiter auf seine Füße, einen vor den anderen, einen vor den anderen … Bis er die Stelle erreichte, wo die Steine abgeladen wurden. Dort stürzten sich die Lehrlinge und Gesellen auf den Stein, den der Junge herangeschleppt hatte.

Erst jetzt sah Arnau auf, immer noch gebeugt und zitternd, und lächelte. Die Leute drängten sich um ihn und beglückwünschten ihn. Arnau wusste nicht, wer ihn dort umringte, er erkannte nur Pater Albert, der zum Friedhof Las Moreres hinübersah. Arnau folgte seinem Blick.

»Für Euch, Vater«, flüsterte er.

Als die Leute sich zerstreuten und Arnau erneut zum Steinbruch aufbrechen wollte, hinter seinen Zunftbrüdern her, von denen einige die Strecke bereits zum dritten Mal zurückgelegt hatten, rief der Priester ihn zu sich. Er hatte Anweisungen von Josep erhalten, dem Zunftmeister.

»Ich habe eine Aufgabe für dich«, sagte er zu ihm. Arnau blieb stehen und sah ihn erstaunt an. »Die Sakramentskapelle muss ausgefegt, aufgeräumt und mit neuen Kerzen versehen werden.«

»Aber …«, wandte Arnau mit einem Blick auf die Steine ein.

»Es gibt kein Aber.«

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