32


»Niemand wird diesen Kindern etwas zuleide tun. Vater, wo bist du? Warum, Vater? Im Palast ist Getreide. Ich liebe dich, Maria …«

Wenn Arnau delirierte, schickte Sahat die Kinder aus dem Zimmer und ließ Hasdai rufen, Raquels und Jucefs Vater, damit dieser ihm half, den Kranken zu bändigen, falls Arnau wieder einmal gegen die Soldaten aus dem Roussillon kämpfte und die Wunde am Bein erneut aufbrach. Herr und Sklave wachten am Fußende des Bettes, während eine weitere Sklavin ihm kalte Umschläge auf die Stirn legte. So ging das bereits seit einer Woche, in der Arnau die beste Behandlung der jüdischen Ärzte erhielt und ständig von der Familie Crescas und ihren Sklaven umsorgt wurde, insbesondere von Sahat, der Tag und Nacht bei dem Kranken wachte.

»Die Wunde ist nicht besonders schlimm«, lautete die Diagnose der Ärzte, »aber die Infektion schwächt den ganzen Körper.«

»Wird er überleben?«, erkundigte sich Hasdai.

»Er ist ein kräftiger Mann«, antworteten die Ärzte, bevor sie das Haus verließen.

»Es gibt Getreide im Palast!«, schrie Arnau nach einigen Minuten erneut. Er war schweißnass vor Fieber.

»Wenn er nicht wäre«, sagte Sahat, »wären wir alle tot.«

»Ich weiß«, erwiderte Hasdai, der neben ihm stand.

»Warum hat er das getan? Er ist ein Christ.«

»Er ist ein guter Mensch.«

Nachts, wenn Arnau schlief und es still im Haus war, verbeugte sich Sahat in Richtung Mekka, um für den Christen zu beten. Tagsüber flößte er ihm geduldig Wasser und die Medizin der Ärzte ein. Raquel und Jucef schauten häufig vorbei, und wenn Arnau nicht delirierte, ließ Sahat sie herein.

»Er ist ein Soldat«, stellte Jucef einmal mit großen Augen fest.

»Zumindest war er einer«, antwortete Sahat.

»Er hat gesagt, er sei ein Bastaix«, korrigierte Raquel.

»In dem Versteck erzählte er uns, er sei Soldat. Vielleicht ist er Bastaix und Soldat.«

»Das hat er nur gesagt, damit du Ruhe gibst.«

»Ich würde wetten, dass er ein Bastaix ist«, sagte Hasdai. »Nach dem, was er so erzählt.«

»Er ist ein Soldat«, beharrte der Jüngste.

»Ich weiß es nicht, Jucef.« Der Sklave fuhr ihm über das schwarze Haar. »Warum warten wir nicht, bis er gesund ist und es uns selbst erzählt?«

»Wird er wieder gesund?«

»Ganz bestimmt. Hast du schon einmal einen Soldaten wegen einer Wunde am Bein sterben gesehen?«

Als die Kinder gegangen waren, trat Sahat zu Arnau und legte die Hand auf seine Stirn, die nach wie vor glühte. »Nicht nur die Kinder verdanken dir ihr Leben, Christ. Warum hast du das getan? Was hat dich dazu bewegt, dein Leben für einen Sklaven und drei jüdische Kinder aufs Spiel zu setzen? Streng dich an! Du musst leben. Ich möchte mit dir sprechen, dir danken. Außerdem ist Hasdai sehr reich und wird dich gewiss belohnen.«

Einige Tage später begann sich Arnaus Zustand zu bessern. Eines Morgens stellte Sahat fest, dass er sich weniger heiß anfühlte.

»Allah hat mich erhört, sein Name sei gepriesen.«

Hasdai lächelte, nachdem er sich selbst vergewissert hatte.

»Er wird durchkommen«, versicherte er seinen Kindern.

»Und mir von seinen Schlachten erzählen?«

»Junge, ich glaube nicht …«

Aber Jucef machte vor, wie Arnau seinen Dolch vor den Angreifern geschwungen hatte. Als er gerade so tat, als wollte er dem am Boden Liegenden die Kehle durchschneiden, packte ihn seine Schwester beim Arm.

»Jucef!«, rief sie.

Als sie sich zu dem Kranken umdrehten, sahen sie, dass er die Augen geöffnet hatte. Jucef errötete.

»Wie geht es dir?«, fragte Hasdai.

Arnau versuchte zu antworten, doch sein Mund war trocken. Sahat reichte ihm ein Glas Wasser.

»Gut«, gelang es ihm zu sagen, nachdem er getrunken hatte. »Und die Kinder?«

Ihr Vater schob Jucef und Raquel ans Kopfende des Bettes. Arnau lächelte schwach.

»Hallo«, sagte er.

»Hallo«, antworteten sie ihm.

»Und Saúl?«

»Es geht ihm auch gut«, antwortete Hasdai. »Aber jetzt musst du ausruhen. Kommt, Kinder.«

»Wenn du wieder gesund bist, erzählst du mir dann von deinen Schlachten?«, fragte Jucef noch, bevor sein Vater und seine Schwester ihn aus dem Zimmer zogen.

Arnau nickte und versuchte zu lächeln.

Im Laufe der darauffolgenden Woche verschwand das Fieber ganz und die Wunde begann zu heilen. Arnau und Sahat unterhielten sich, sooft der Bastaix die Kraft dazu hatte.

»Danke«, war das Erste, was der Sklave sagte.

»Du hast dich schon bedankt, erinnerst du dich?«

»Warum hast du das getan?«

»Die Augen der Kinder … Meine Frau hätte nicht zugelassen, dass …«

»Maria?«, fragte Sahat, sich an Arnaus Fieberdelirien erinnernd.

»Ja«, antwortete Arnau.

»Sollen wir ihr Bescheid geben, dass du hier bist?« Arnau presste die Lippen zusammen und schüttelte den Kopf. »Gibt es jemanden, den wir benachrichtigen sollen?« Der Sklave fragte nicht weiter, als er sah, wie sich Arnaus Gesicht verdüsterte.

»Wie ist die Belagerung ausgegangen?«, fragte Arnau Sahat ein andermal.

»Zweihundert Männer und Frauen wurden ermordet und viele Häuser wurden geplündert oder in Brand gesetzt.«

»Was für ein Unglück!«

»Kein sehr großes«, wandte Sahat ein. Arnau sah ihn überrascht an. »Die jüdische Gemeinde von Barcelona hat noch Glück gehabt. Vom Orient bis nach Kastilien hat man die Juden gnadenlos ermordet. Mehr als dreihundert Gemeinden wurden völlig vernichtet. In Deutschland hat Kaiser Karl IV. jedem Straffreiheit zugesichert, der einen Juden tötet oder ein Judenviertel zerstört. Kannst du dir vorstellen, was in Barcelona geschehen wäre, wenn unser König allen, die einen Juden umbringen, Straffreiheit zugesichert hätte, statt die Juden zu schützen?« Arnau schloss die Augen und schüttelte den Kopf. »In Mainz wurden sechstausend Juden verbrannt, und in Straßburg führte man gleich zweitausend auf einmal auf einen riesigen Scheiterhaufen auf dem jüdischen Friedhof, auch Frauen und Kinder. Zweitausend auf einmal …«

Die Kinder durften nur in Arnaus Zimmer, wenn Hasdai den Kranken besuchte und dafür sorgen konnte, dass sie ihn nicht störten. Eines Tages, als Arnau bereits das Bett verließ und erste Schritte zu machen begann, kam Hasdai alleine. Der große, schlanke Jude mit dem langen, schwarzen, glatten Haar setzte sich ihm gegenüber.

»Du wirst wissen«, sagte er mit ernster Stimme, »dass deine Priester das Zusammenleben von Christen und Juden verboten haben. Ich nehme jedenfalls an, dass du davon weißt«, korrigierte er sich.

»Sei unbesorgt, Hasdai. Sobald ich wieder gehen kann …«

»Nein«, unterbrach ihn der Jude. »Damit wollte ich nicht sagen, dass du mein Haus verlassen sollst. Du hast meine Kinder vor dem sicheren Tod gerettet und dein Leben dabei riskiert. Alles, was ich besitze, gehört dir, und ich werde dir ewig dankbar sein. Du kannst so lange in diesem Haus bleiben, wie du willst. Meine Familie und ich würden uns sehr geehrt fühlen. Ich wollte lediglich raten, größtmögliche Diskretion zu wahren, vor allem, falls du dich entschließen solltest zu bleiben. Von meinen Leuten – und damit meine ich die ganze jüdische Gemeinde – wird niemand erfahren, dass du in meinem Haus lebst. Was das angeht, kannst du ganz beruhigt sein. Es ist deine Entscheidung, und ich betone noch einmal, dass wir uns sehr geehrt und glücklich schätzen würden, wenn du dich zum Bleiben entschließt. Wie lautet also deine Antwort?«

»Wer sollte deinem Sohn sonst von meinen Schlachten erzählen?«

Hasdai lächelte und reichte Arnau die Hand, die dieser ergriff.


»Chateau-Roussillon war eine beeindruckende Festung …« Jucef saß vor Arnau im Garten der Crescas auf dem Boden, die Beine untergeschlagen, und lauschte mit weit aufgerissenen Augen immer wieder den Kriegsgeschichten des Bastaix, gespannt, wenn dieser von der Belagerung erzählte, unruhig während der Schilderung des Kampfes, lächelnd beim Sieg.

»Die Verteidiger schlugen sich tapfer«, erzählte Arnau, »doch König Pedros Soldaten waren ihnen überlegen …«

Als er geendet hatte, drängte ihn Jucef, noch eine andere seiner Geschichten zu erzählen. Arnau erzählte ihm genauso viele wahre Geschichten wie erfundene. »Ich war nur zweimal beim Angriff auf eine Burg dabei«, hätte er ihm beinahe gestanden. »An den übrigen Tagen haben wir geplündert und Scheunen und Ernten vernichtet … Nur die Feigenbäume ließen wir stehen.«

»Magst du Feigen, Jucef?«, fragte er den Jungen einmal bei der Erinnerung an die knorrigen Stämme inmitten der allgemeinen Verwüstung.

»Es reicht, Jucef«, sagte sein Vater, der soeben in den Garten gekommen war, als er sah, wie der Kleine Arnau bekniete, ihm von einer weiteren Schlacht zu erzählen. »Geh jetzt schlafen.«

Jucef gehorchte und verabschiedete sich von seinem Vater und Arnau.

»Warum hast du den Jungen gefragt, ob er Feigen mag?«

»Das ist eine lange Geschichte.«

Wortlos nahm Hasdai ihm gegenüber auf einem Stuhl Platz. Erzähl sie mir, sagte sein Blick.

»Wir haben alles dem Erdboden gleichgemacht«, schloss Arnau, nachdem er ihm die Ereignisse in Kürze erzählt hatte, »alles außer den Feigenbäumen. Seltsam, nicht wahr? Wir verwüsteten die Felder, und inmitten dieser ganzen Zerstörung stand ein einsamer Feigenbaum und schien uns zu fragen, was wir da tun.«

Arnau verlor sich in seinen Erinnerungen, und Hasdai wagte es nicht, ihn zu stören.

»Es war ein sinnloser Krieg«, erklärte der Bastaix schließlich.

»Im darauffolgenden Jahr«, sagte Hasdai, »gewann der König das Roussillon zurück. Jaime von Mallorca beugte vor ihm das Knie und übergab ihm seine Truppen. Vielleicht hat dieser erste Feldzug, an dem du teilgenommen hast, dabei geholfen …«

»… die Bauern, die Kinder und die einfachen Leute dem Hungertod auszuliefern«, unterbrach ihn Arnau. »Vielleicht diente er dazu, Jaimes Heer die Vorräte zu nehmen, aber dafür mussten viele einfache Leute sterben. Wir sind nur ein Spielball in den Händen der Adligen. Sie entscheiden, ohne sich darum zu scheren, wie viel Tod und Elend sie den anderen bringen.«

Hasdai seufzte.

»Was soll ich sagen, Arnau. Wir sind Eigentum des Königs, wir gehören ihm …«

»Ich bin in den Krieg gezogen, um zu kämpfen, und am Ende habe ich die Ernte der einfachen Leute verbrannt.«

Die beiden Männer schwiegen.

»Nun!«, rief Arnau schließlich in die Stille hinein. »Jetzt kennst du die Geschichte von den Feigenbäumen.«

Hasdai stand auf und klopfte Arnau auf die Schulter. Dann forderte er ihn auf, ins Haus zu gehen.

»Es ist kühl geworden«, sagte er mit einem Blick zum Himmel.

Wenn Jucef sie alleine ließ, saßen Arnau und Raquel oft in dem kleinen Garten der Crescas und unterhielten sich. Sie sprachen nicht über den Krieg. Arnau erzählte ihr von seinem Leben als Bastaix und von Santa María.

»Wir glauben nicht an Jesus Christus als Messias. Der Messias ist noch nicht gekommen, und das jüdische Volk wartet auf seine Ankunft«, erklärte ihm Raquel einmal.

»Es heißt, ihr hättet ihn getötet.«

»Das ist nicht wahr!«, entgegnete sie empört. »Wir sind es, die immer wieder getötet und vertrieben wurden!«

»Angeblich«, fuhr Arnau fort, »opfert ihr an Ostern ein christliches Kind und verzehrt sein Herz und seine Gliedmaßen, wie es eure Riten vorschreiben.«

Raquel schüttelte den Kopf.

»Das ist Unsinn! Du hast gesehen, dass wir kein Fleisch essen dürfen, das nicht koscher ist, und dass uns unsere Religion den Verzehr von Blut verbietet. Was sollen wir mit dem Herz eines Kindes, mit seinen Armen oder Beinen? Du kennst meinen Vater und den Vater von Saúl. Hältst du sie für fähig, ein Kind zu essen?«

Arnau sah Hasdais Gesicht vor sich und hörte seine weisen Worte. Er dachte an seine umsichtige Art und an die Zärtlichkeit, die aus seinem Gesicht strahlte, wenn er seine Kinder betrachtete. Wie sollte dieser Mann das Herz eines Kindes verzehren?

»Und die Sache mit der Hostie?«, fragte er. »Es heißt auch, dass ihr Hostien stehlt, um sie zu schänden und so Jesu Leiden zu erneuern.«

Raquel wehrte mit den Händen ab.

»Wir Juden glauben nicht an die Trans…« Sie machte ein ärgerliches Gesicht. Immer verhaspelte sie sich bei diesem Wort, wenn sie mit ihrem Vater sprach! »An die Transsubstantiation.« Nun ging ihr das Wort flüssig über die Lippen.

»An die was?«

»An die Transsubstantiation. Für euch befindet sich euer Jesus in der Hostie, die somit tatsächlich der Leib Christi ist. Wir glauben das nicht. Für uns Juden ist eure Hostie nur ein Stück Brot. Es wäre ziemlich absurd, wenn wir ein Stückchen Brot schändeten.«

»Also stimmt nichts von dem, was man euch vorwirft?«

»Nichts.«

Arnau wollte Raquel glauben. Das Mädchen sah ihn aus großen Augen an, als wollte es ihn bitten, sich von den Vorurteilen freizumachen, mit denen die Christen ihre Gemeinschaft und ihren Glauben diffamierten.

»Aber ihr seid Wucherer. Das könnt ihr nicht leugnen.«

Raquel wollte gerade antworten, als die Stimme ihres Vaters zu vernehmen war.

»Nein. Wir sind keine Wucherer.« Hasdai Crescas kam zu ihnen und setzte sich neben seine Tochter. »Zumindest nicht so, wie man gemeinhin behauptet.« Arnau schwieg und wartete auf eine Erklärung. »Bis vor etwa hundert Jahren, man schrieb das Jahr 1230, verliehen auch die Christen Geld gegen Zinsen. Juden wie Christen taten das, bis ein Erlass eures Papstes Gregor IX. den Christen den Geldhandel verbot. Seither widmen sich nur noch die Juden und einige andere, wie etwa die Lombarden, diesem Geschäft. Zwölfhundert Jahre lang habt ihr Christen Zinsen verlangt. Erst seit hundert Jahren tut ihr es nicht mehr – offiziell.« Hasdai betonte das letzte Wort. »Und nun sollen wir Wucherer sein.«

»Offiziell?«

»Ja, offiziell. Es gibt viele Christen, die sich unserer bedienen, um auch weiterhin Zinsgeschäfte zu machen. Ich will dir auch erklären, warum wir das tun. Zu allen Zeiten und an allen Orten sind wir Juden stets unmittelbar vom König abhängig gewesen. Im Laufe der Zeit wurde unsere Gemeinschaft aus vielen Ländern vertrieben: zunächst aus unserem eigenen Land, dann aus Ägypten, später, 1183, aus Frankreich, und einige Jahre darauf, 1290, aus England. Die jüdischen Gemeinden mussten von einem Land ins andere fliehen, all ihren Besitz zurücklassen und den König des Landes, in das sie zogen, um die Erlaubnis bitten, sich niederlassen zu dürfen. Im Gegenzug bereichern sich die Könige – auch der eure – an der jüdischen Gemeinde und verlangen von uns hohe Zuwendungen für ihre Kriege und ihre Schatullen. Wenn wir keinen Zins auf unser Geld nähmen, könnten wir die unmäßigen Forderungen eurer Könige nicht erfüllen, und man würde uns erneut vertreiben.«

»Aber ihr verleiht nicht nur Geld an die Könige«, warf Arnau ein.

»Nein, natürlich nicht. Und weißt du, warum?« Arnau schüttelte den Kopf. »Weil die Könige ihre Darlehen nicht zurückzahlen. Ganz im Gegenteil, sie fordern immer weitere Kredite für ihre Kriege und ihre persönlichen Ausgaben. Irgendwoher muss das Geld kommen, das wir ihnen leihen – oder vielmehr unentgeltlich zur Verfügung stellen.«

»Könnt ihr euch nicht weigern?«

»Sie würden uns vertreiben … Oder, was noch schlimmer wäre, uns nicht mehr gegen die Christen verteidigen wie vor einigen Tagen. Wir würden alle sterben.« Diesmal nickte Arnau schweigend, während Raquel mit zufriedenen Blicken verfolgte, wie es ihrem Vater gelang, den Bastaix zu überzeugen. Arnau hatte selbst gesehen, wie die aufgebrachten Bürger Barcelonas nach dem Blut der Juden geschrien hatten. »Wir verleihen außerdem nur Geld an Christen, die Händler sind oder mit dem An- und Verkauf von Waren zu tun haben. Vor beinahe hundert Jahren hat König Jaime I. der Eroberer ein Gesetz erlassen, das jedes zwischen einem jüdischen Geldwechsler und einem Nichthändler getätigte Warengeschäft als nichtig und von den Juden gefälscht betrachtet, sodass man niemanden belangen kann, der kein Händler ist. Wir können mit jemandem, der nicht im Handel tätig ist, keine Warengeschäfte machen, da wir nie unser Geld zurückbekämen.«

»Und wo ist der Unterschied?«

»Da ist ein großer Unterschied, Arnau. Ihr Christen seid stolz darauf, die Vorschriften eurer Kirche zu erfüllen und keine Zinsen zu nehmen, und tatsächlich haltet ihr euch daran, zumindest auf den ersten Blick. Aber im Grunde tut ihr das Gleiche, nur nennt ihr es anders. Bis die Kirche die Zinsnahme unter Christen verbot, funktionierten die Geschäfte so wie heute zwischen Juden und Händlern: Es gab Christen mit viel Geld, die anderen Christen, Händlern, Geld liehen, und diese zahlten ihnen das Kapital mit Zinsen zurück.«

»Und was geschah, als man die Zinsnahme verbot?«

»Nun, ganz einfach. Wie immer habt ihr Christen die Vorgaben der Kirche umgangen. Es war einleuchtend, dass kein Christ einem anderen sein Geld leihen würde, ohne einen Nutzen davon zu haben. Da behielt er es lieber für sich und ging kein Risiko ein. Also habt ihr Christen ein Geschäft erfunden, das sich Warengeschäft nennt. Hast du schon einmal davon gehört?«

»Ja«, bestätigte Arnau. »Im Hafen ist viel von Warengeschäften die Rede, wenn ein Handelsschiff einläuft, aber ehrlich gesagt habe ich es nie verstanden.«

»Nun, es ist ganz einfach. Ein Warengeschäft ist nichts anderes als ein verstecktes Darlehen gegen Zinsen. Ein Geschäftsmann, ein Geldwechsler in der Regel, gibt einem Händler Geld, damit dieser Waren kauft oder verkauft. Wenn der Händler das Geschäft abgeschlossen hat, muss er dem Geldwechsler die gleiche Summe zurückgeben, die er erhalten hat, sowie einen Teil des erzielten Gewinns. Es ist nichts anderes als ein verzinster Kredit, nur unter anderem Namen. Der Christ, der das Geld zur Verfügung stellt, vermehrt sein Geld, und das ist es, was die Kirche verbietet: die Vermehrung von Geld, ohne dafür zu arbeiten. Die Christen machen nichts anderes als vor hundert Jahren, bevor die Zinsen verboten wurden, nur nennen sie es heute anders. Wenn wir Geld für ein Geschäft geben, sind wir Wucherer. Nicht so jedoch der Christ, der das Gleiche mittels eines Warengeschäfts tut.«

»Gibt es keinen Unterschied?«

»Nur einen: Bei einem Warengeschäft trägt der Geldgeber das Risiko des Geschäfts mit. Wenn also der Händler nicht zurückkommt oder die Ware verliert, etwa weil er auf der Überfahrt von Piraten überfallen wird, ist das Geld verloren. Bei einem Darlehen würde das nicht passieren, denn bei diesem wäre der Händler weiterhin verpflichtet, das Geld samt Zinsen zurückzuzahlen. In der Praxis allerdings ist es dasselbe, denn ein Händler, der seine Ware verloren hat, zahlt seine Schulden nicht. Letztendlich müssen wir Juden uns an die gängigen Handelspraktiken anpassen: Die Händler wollen Warengeschäfte, bei denen sie nicht das Risiko tragen, und wir müssen darauf eingehen, denn andernfalls hätten wir keine Einkünfte, um die Forderungen eurer Könige zu erfüllen. Hast du es nun verstanden?«

»Wir Christen dürfen keine Zinsen nehmen, aber durch die Warengeschäfte ist das Ergebnis dasselbe«, sagte Arnau.

»Genau. Was eure Kirche verbieten will, sind nicht die Zinsen an sich, sondern das Erzielen von Gewinn durch Geldbesitz statt durch Arbeit. Das gilt nicht für Darlehen an Könige, Adlige oder Ritter, denn diesen darf ein Christ sehr wohl Geld gegen Zinsen leihen. Die Kirche geht davon aus, dass solche Darlehen der Kriegführung dienen, und hält folglich einen Zins für angemessen.«

»Aber das betrifft nur die christlichen Geldwechsler«, wandte Arnau ein. »Man kann nicht alle Christen für ihr Tun verurteilen …«

»Täusche dich nicht, Arnau«, sagte Hasdai mit einem Lächeln. Seine Hände waren in Bewegung. »Die Wechsler verwahren das Geld von Christen, und mit diesem Geld tätigen sie Warengeschäfte, deren Gewinne sie danach jenen Christen ausbezahlen müssen, die ihnen ihr Geld anvertraut haben. Die Wechsler halten ihr Gesicht hin, aber das Geld gehört allen Christen, die ihr Vermögen zu ihren Wechseltischen bringen. Etwas wird sich nie ändern, Arnau: Wer Geld hat, will mehr Geld. Er hat kein Geld zu verschenken und wird nie Geld zu verschenken haben. Wenn es eure Bischöfe nicht tun, weshalb dann die Gläubigen? Ob Darlehen oder Warengeschäft oder wie auch immer man das Ganze nennen mag – die Leute haben nichts zu verschenken, und doch sind wir die einzigen Wucherer.«

Während sie so sprachen, wurde es Nacht, eine sternenklare, laue Mittelmeernacht. Eine Weile saßen die drei still da und genossen die Ruhe und den Frieden in dem kleinen Gärtchen hinter Hasdai Crescas Haus. Schließlich wurden sie zum Essen gerufen, und zum ersten Mal, seit er bei diesen Juden lebte, sah Arnau in ihnen Menschen wie seinesgleichen, mit einem anderen Glauben, aber so gut und so mildtätig, wie es die frommsten Christen nur sein konnten. An diesem Abend aß er gemeinsam mit Hasdai und sprach, bedient von den Frauen des Hauses, ohne Bedenken den Genüssen der jüdischen Küche zu.

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