13


»Das ist der Bruder meiner Mutter mit seinem Sohn«, erklärte Margarida ihrer Stiefmutter, als diese sich wunderte, dass Grau zwei weitere Leute für nur sieben Pferde eingestellt hatte.

Grau hatte ihr gesagt, dass er nichts mit den Pferden zu tun haben wolle, und tatsächlich ging er nicht einmal hinunter, um die herrlichen Stallungen im Erdgeschoss des Palastes in Augenschein zu nehmen. Sie kümmerte sich um alles, wählte die Tiere aus und brachte ihren besten Stallmeister mit, Jesús, der ihr außerdem riet, einen erfahrenen Stallburschen einzustellen: Tomás.

Aber vier Leute für sieben Pferde waren zu viel, selbst für die Gewohnheiten der Baronin. Das brachte sie bei ihrem ersten Besuch in den Stallungen zur Sprache, nachdem die Estanyols eingestellt worden waren.

Isabel bat Margarida, doch mehr zu erzählen.

»Sie waren Bauern, Leibeigene.«

Isabel sagte nichts, doch in ihr keimte ein Verdacht auf. Das Mädchen fuhr fort: »Der Junge, Arnau, war schuld am Tod meines kleinen Bruders Guiamon. Ich hasse sie! Ich weiß nicht, warum mein Vater sie eingestellt hat.«

»Wir werden es herausfinden«, murmelte die Baronin, den Blick auf Bernats Rücken geheftet, der gerade damit beschäftigt war, eines der Pferde zu striegeln.

Doch an diesem Abend ließ Grau nicht mit sich reden.

»Ich hielt es für angebracht«, antwortete er knapp, nachdem er Isabels Verdacht bestätigt hatte, dass die beiden Landflüchtige waren.

»Wenn mein Vater davon erfährt …«

»Aber er wird es nicht erfahren, nicht wahr, Isabel?«

Grau sah seine Frau an. Sie war bereits zum Abendessen angekleidet, eine der neuen Gewohnheiten, die sie in Graus Familie gebracht hatte. Sie war gerade zwanzig geworden und außergewöhnlich dünn, genau wie Grau. Ihr fehlten die Reize und die sinnlichen Kurven, mit denen ihn Guiamona seinerzeit empfangen hatte, doch sie war eine Adlige, und auch ihr Charakter sollte von Adel sein, dachte Grau.

»Du würdest doch nicht wollen, dass dein Vater erfährt, dass du mit zwei Landflüchtigen unter einem Dach lebst.«

Die Baronin warf ihm einen wütenden Blick zu und verließ den Raum.

Trotz der Abneigung der Baronin und ihrer Stiefkinder stellte Bernat sein Geschick im Umgang mit den Tieren unter Beweis. Er wusste, wie man mit ihnen umgehen musste, wie man sie fütterte, ihre Hufe auskratzte, wie man sie kurierte, wenn es nötig war, und wie man sich in ihrer Nähe bewegte. Wenn es ihm irgendwo an Erfahrung mangelte, dann darin, wie man sie aufputzte.

»Sie wollen, dass sie glänzen«, sagte er eines Tages zu Arnau, als sie auf dem Heimweg waren, »ohne ein einziges Staubkörnchen. Man muss sie immer und immer wieder bürsten, um den Sand aus dem Fell zu entfernen, und sie dann striegeln, bis sie glänzen.«

»Und die Mähnen und Schweife?«

»Die werden gestutzt, geflochten und geschmückt.«

»Wozu brauchen sie so viel Putz an den Pferden?«

Es war Arnau verboten, sich den Tieren zu nähern. Er bewunderte sie in den Ställen, sah zu, wie sie auf die Pflege seines Vaters ansprachen, und genoss es, wenn dieser ihm erlaubte, sie zu streicheln, wenn sie alleine waren. Hin und wieder, wenn niemand zuschaute, hob Bernat den Jungen ausnahmsweise auf eines der Tiere, ohne Sattel, während dieses im Stall stand. Die Aufgaben, die man Arnau zugewiesen hatte, erlaubten es ihm nicht, die Geschirrkammer zu verlassen. Dort putzte er ein ums andere Mal das Sattelzeug; er fettete das Leder ein und rieb mit einem Lappen darüber, bis das Fett eingezogen war und die Oberfläche der Sättel und Zaumzeuge glänzte. Er reinigte die Trensen und Steigbügel und bürstete die Decken und anderes Zubehör, bis auch das letzte Pferdehaar verschwunden war, eine Arbeit, bei der er am Ende Finger und Fingernägel zu Hilfe nehmen musste, um die feinen Borsten zu entfernen, die sich im Stoff verhakt hatten. Wenn er dann noch Zeit hatte, polierte er sorgfältig die Kutsche, die Grau erstanden hatte.

Im Laufe der Monate musste sogar Jesús anerkennen, dass der Bauer ein Händchen für Pferde hatte. Wenn Bernat einen der Ställe betrat, rührten sich die Tiere nicht von der Stelle. Meistens suchten sie sogar seine Nähe. Er tätschelte und streichelte sie und flüsterte ihnen zu, um sie zu beruhigen. Wenn hingegen Tomás in den Stall kam, legten die Pferde die Ohren an und drängten sich an die am weitesten entfernte Wand, während der Stallknecht sie anbrüllte. Was war nur mit dem Mann los? Bisher war er ein vorbildlicher Stallbursche gewesen, dachte Jesús, wenn er wieder einmal das Geschrei hörte.


Jeden Morgen, wenn Vater und Sohn zur Arbeit gingen, machte sich Joanet mit Feuereifer daran, Peres Frau Mariona zu helfen. Er putzte, räumte auf und begleitete sie zum Einkaufen. Später, während sie das Essen kochte, lief er zum Strand, um Pere zu suchen. Dieser hatte sein Leben lang als Fischer gearbeitet und verdiente sich zusätzlich zu den gelegentlichen Zuwendungen seiner Zunft ein paar Münzen dazu, indem er Segel flickte. Joanet leistete ihm Gesellschaft, lauschte aufmerksam seinen Erklärungen und lief hierhin und dorthin, wenn der alte Fischer etwas brauchte.

Und sooft er konnte, ging er seine Mutter besuchen.

»Heute Morgen«, erzählte er ihr eines Tages, »wollte Bernat Pere die Miete bezahlen, aber Pere hat ihm einen Teil des Geldes zurückgegeben. Er hat gesagt, dass der Kleine – weißt du Mama, ›der Kleine‹ bin ich – also, er sagte, Bernat brauchte meinen Anteil nicht zu bezahlen, weil ich im Haus und am Strand helfe.«

Die Gefangene hörte zu, ihre Hand ruhte auf dem Kopf des Kindes. Wie viel hatte sich doch verändert! Seit ihr kleiner Junge bei den Estanyols lebte, hockte er nicht mehr schluchzend dort draußen, um auf ihre stummen Liebkosungen und ein liebes Wort zu warten – eine blinde Liebe, jetzt sprach er, erzählte er, lachte er sogar!

»Bernat hat mich umarmt«, erzählte Joanet weiter, »und Arnau hat mir auf die Schulter geklopft.«

Die Hand schloss sich über dem Haar des Jungen.

Und Joanet sprach weiter. Ohne Punkt und Komma. Von Arnau und Bernat, von Mariona, von Pere, dem Strand, den Fischern, den Segeln, die sie flickten, doch die Frau hörte nicht mehr zu, glücklich darüber, dass ihr Sohn endlich wusste, was eine Umarmung war. Dass ihr Kleiner endlich glücklich war.

»Lauf, mein Junge«, unterbrach ihn seine Mutter irgendwann und versuchte, das Zittern in ihrer Stimme zu verbergen. »Sie warten bestimmt schon auf dich.«

Aus dem Inneren ihres Kerkers hörte Joana, wie ihr Kleiner von der Kiste hüpfte und davonlief. Sie stellte sich vor, wie er über die Mauer sprang, die sie aus ihren Erinnerungen zu verbannen versuchte.

Welchen Sinn hatte das alles noch? Jahrelang hatte sie bei Wasser und Brot in diesen vier Wänden ausgehalten, dessen kleinsten Winkel sie Hunderte Male mit ihren Fingern abgetastet hatte. Sie hatte gegen die Einsamkeit und den Wahnsinn angekämpft, indem sie durch das winzige Fensterchen, das ihr der König, dieser großherzige Herrscher!, zugestanden hatte, den Himmel betrachtete. Sie hatte Fieber und Krankheit überstanden, und das alles nur für ihren kleinen Jungen, um ihm über den Kopf zu streichen, ihm Mut zu machen, ihm das Gefühl zu geben, dass er trotz allem nicht alleine auf der Welt war.

Doch nun war er nicht länger allein. Bernat umarmte ihn! Bernat war wie ein Bekannter für sie. Sie hatte von ihm geträumt, während Stunden zu Ewigkeiten wurden. »Gib gut auf ihn acht, Bernat«, sagte sie ins Leere hinein. Joanet war glücklich, er lachte und rannte, und …

Joana ließ sich zu Boden gleiten und blieb so sitzen. An diesem Tag rührte sie weder das Brot noch das Wasser an. Ihr Körper hatte kein Verlangen danach.

Joanet kehrte anderntags wieder und auch am nächsten und am übernächsten Tag. Sie hörte ihm zu, wie er lachte und voller Hoffnung von der Welt erzählte. Durch das Fenster drangen nur mehr schwache Laute: ja, nein, geh, lauf, lebe!

»Lauf und genieße das Leben, das du durch meine Schuld nicht gehabt hast«, flüsterte Joana noch, als der Junge schon über die Gartenmauer gesprungen war.

Das Brot stapelte sich in Joanas Gefängnis.


»Weißt du, was passiert ist, Mama?« Joanet schob die Kiste an die Wand und setzte sich darauf. Seine Füße reichten noch nicht bis auf den Boden. »Nein – woher solltest du das wissen?« Zusammengekauert lehnte er sich mit dem Rücken gegen die Wand, an der Stelle, wo er wusste, dass die Hand seiner Mutter nach seinem Kopf tasten würde. »Ich werde es dir erzählen. Es ist sehr lustig. Offenbar hat gestern eines von Graus Pferden …«

Es erschien kein Arm in dem Fensterchen.

»Mama? Hör mal zu, ich sag's dir, es ist wirklich lustig. Eines der Pferde …«

Joanet sah zu dem Fensterchen hinauf.

»Mama?«

Er wartete.

»Mama?«

Er spitzte die Ohren und versuchte, etwas durch das Hämmern der Kesselschmiede hindurch zu hören, das durch das ganze Viertel hallte. Nichts.

»Mama!«, rief er.

Er kniete sich auf die Kiste. Was sollte er tun? Sie hatte ihm immer verboten, sich dem Fenster zu nähern.

»Mama!«, rief er noch einmal, während er sich zu der Öffnung hochreckte.

Sie hatte ihm immer gesagt, er solle sie nicht ansehen, er solle nie versuchen, einen Blick auf sie zu erhaschen. Aber sie antwortete nicht! Joanet spähte durch das Fenster. Drinnen war es ziemlich dunkel.

Er zog sich hoch und schwang ein Bein in die Öffnung. Es ging nicht. Er konnte nur seitlich hinein.

»Mama?«, wiederholte er noch einmal.

Er hielt sich oben am Fenster fest, stellte beide Füße auf das Fensterbrett und schwang sich hinein.

»Mama?«, wisperte er, während sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnten.

Er wartete, bis er ein Loch ausmachen konnte, von dem ein unerträglicher Gestank ausging. Auf der anderen Seite, links von ihm, lag auf einem Strohsack zusammengekauert ein Körper.

Joanet wartete. Der Körper regte sich nicht. Das Dröhnen der Hämmer auf dem Kupfer war draußen geblieben.

»Ich wollte dir etwas Lustiges erzählen«, sagte er und trat näher. Tränen begannen, über seine Wangen zu kullern. »Du hättest gelacht«, stammelte er, als er neben ihr stand.

Joanet hockte sich neben seine tote Mutter. Joana hatte das Gesicht zwischen ihren Händen verborgen, als hätte sie geahnt, dass ihr Sohn in den Kerker kommen würde, als hätte sie nicht gewollt, dass er sie in diesem Zustand sah – nicht einmal im Tod.

»Darf ich dich berühren?«

Der Junge streichelte über das schmutzige, verfilzte, spröde Haar seiner Mutter.

»Du musstest erst sterben, damit wir zusammen sein können.«

Und Joanet begann, bitterlich zu weinen.


Bernat zögerte keinen Augenblick, als ihm Pere und seine Frau bei seiner Heimkehr noch in der Tür aufgeregt mitteilten, dass Joanet nicht nach Hause gekommen war. Sie hatten ihn nie gefragt, wo er hinging, wenn er das Haus verließ. Sie hatten angenommen, dass er nach Santa María ging, doch dort hatte ihn an diesem Tag niemand gesehen. Mariona schlug die Hand vor den Mund.

»Und wenn ihm etwas zugestoßen ist?«, schluchzte sie.

»Wir werden ihn finden«, versuchte Bernat sie zu beruhigen.


Joanet war neben seiner Mutter sitzen geblieben. Er strich ihr mit der Hand übers Haar, fuhr mit den Fingern hindurch, um es zu entwirren. Er unternahm keinen Versuch, ihre Gesichtszüge zu erkennen. Dann stand er auf und sah zu dem Fenster hinauf.

Es wurde dunkel.

»Joanet?«

Joanet sah erneut zum Fenster.

»Joanet?«, hörte er noch einmal eine Stimme auf der anderen Seite des Fensters fragen.

»Arnau?«

»Was ist los?«

Er antwortete von drinnen: »Sie ist tot.«

»Warum bist du nicht …?«

»Ich kann nicht. Hier drinnen gibt es keine Kiste. Es ist zu hoch.«

»Es stinkt entsetzlich«, stellte Arnau fest. Bernat klopfte an die Tür von Ponç, dem Kupferschmied. Was hatte der Junge den ganzen Tag dort drinnen gemacht? Er hämmerte noch einmal kräftig gegen die Tür. Warum machte er nicht auf? In diesem Augenblick öffnete sich die Tür und ein Hüne erschien. Er füllte den gesamten Türrahmen aus. Arnau wich zurück.

»Was wollt ihr?«, raunzte der Kupferschmied. Er war barfuß und trug lediglich ein zerschlissenes Hemd, das ihm bis zu den Knien reichte.

»Ich heiße Bernat Estanyol, und das ist mein Sohn«, sagte Bernat und schob Arnau nach vorne, »der Freund Eures Sohnes Joanet …«

»Ich habe keinen Sohn«, unterbrach ihn Ponç und machte Anstalten, die Tür zuzuschlagen.

»Aber Ihr habt eine Frau«, entgegnete Bernat und drückte die Tür mit dem Arm wieder auf. Ponç gab nach. »Ihr hattet eine Frau«, erklärte er angesichts der Blicke des Kupferschmieds. »Sie ist tot.«

Ponç zeigte keine Regung.

»Und?«, fragte er und zog fast unmerklich die Schultern hoch.

»Joanet ist bei ihr dort drinnen.« Bernat versuchte, alle Härte in seinen Blick zu legen, deren er fähig war. »Er kann nicht heraus.«

»Da hätte er schon sein ganzes Leben lang hingehört, dieser Bastard.«

Bernat hielt dem Blick des Kupferschmieds stand, während er seinen Sohn an der Schulter festhielt. Arnau hätte sich am liebsten ganz klein gemacht, aber als der Kupferschmied ihn ansah, blieb er aufrecht stehen.

»Was gedenkt Ihr zu tun?«, beharrte Bernat.

»Nichts«, antwortete der Kupferschmied. »Morgen, wenn der Raum abgerissen wird, kann der Junge wieder raus.«

»Ihr könnt das Kind nicht die ganze Nacht …«

»In meinem Haus kann ich tun und lassen, was ich will.«

»Ich werde es dem Stadtrichter melden«, drohte Bernat, wohl wissend, dass seine Drohung nutzlos war.

Ponç kniff die Augen zusammen und verschwand wortlos im Haus. Die Tür ließ er offen stehen. Bernat und Arnau warteten, bis er mit einem Seil zurückkehrte, das er Arnau überreichte.

»Hol ihn raus«, wies er ihn an, »und sag ihm, dass ich ihn hier nicht mehr sehen will, jetzt, wo seine Mutter tot ist.«

»Wie …?«, begann Bernat.

»Genauso, wie er sich all die Jahre hineingeschlichen hat«, kam Ponç ihm zuvor. »Über die Gartenmauer. Durch mein Haus kommt ihr nicht.«

»Und die Mutter?«, fragte Bernat.

»Die hat mir der König überlassen mit der Maßgabe, sie nicht zu töten, und dem König werde ich sie zurückgeben, nun, da sie tot ist«, antwortete Ponç rasch. »Ich habe teures Geld als Sicherheit hinterlegt, und bei Gott, ich gedenke nicht, es wegen einer Hure in den Wind zu schreiben.« Mit diesen Worten schlug der Kupferschmied die Tür zu.


Nur Pater Albert, der Joanets Geschichte bereits kannte, und der alte Pere und seine Frau, denen Bernat davon erzählte, erfuhren von dem Unglück des Jungen. Die drei kümmerten sich rührend um ihn, doch der Junge blieb verschlossen. Er, der zuvor ungestüm und quirlig gewesen war, bewegte sich nun schleppend, als lastete ein unerträgliches Gewicht auf seinen Schultern.

»Die Zeit heilt alle Wunden«, sagte Bernat eines Morgens zu Arnau. »Wir müssen abwarten und ihm unsere Zuneigung und unsere Hilfe anbieten.«

Doch Joanet schwieg weiter, abgesehen von den Weinkrämpfen, die ihn jede Nacht schüttelten. Vater und Sohn lagen still auf ihrem Lager und hörten ihm zu, bis Joanets Kräfte nachzulassen schienen und der Schlaf ihn übermannte.

»Joanet«, hörte Bernat Arnau eines Nachts nach ihm rufen, »Joanet …«

Er bekam keine Antwort.

»Wenn du willst, kann ich die Jungfrau bitten, auch deine Mutter zu sein.«

Gut gemacht, mein Junge!, dachte Bernat. Er hatte ihm diesen Vorschlag nicht machen wollen. Es war Arnaus Jungfrau, Arnaus Geheimnis. Er musste es sein, der diese Entscheidung traf.

Doch Joanet antwortete nicht. Es herrschte absolute Stille im Zimmer.

»Joanet?«, versuchte es Arnau noch einmal.

»So hat mich meine Mutter genannt.« Es war das Erste, was Joanet seit Tagen sagte. Bernat blieb still liegen. »Und sie ist nicht mehr da. Ich heiße jetzt Joan.«

»Wie du willst … Hast du gehört, was ich über die Jungfrau gesagt habe, Joanet … Joan?«, korrigierte sich Arnau.

»Aber deine Mutter spricht nicht mit mir. Meine hat mit mir gesprochen.«

»Erzähl ihm das mit den Vögeln!«, flüsterte Bernat.

»Aber ich kann die Jungfrau sehen, und du konntest deine Mutter nicht sehen.«

Der Junge schwieg erneut.

»Woher weißt du, dass sie dich hört?«, fragte er schließlich. »Sie ist nur eine Figur aus Stein, und Figuren aus Stein können nicht hören.«

Bernat hielt den Atem an.

»Wenn sie nicht hören kann«, entgegnete Arnau, »warum sprechen dann alle mit ihr? Sogar Pater Albert tut das. Du hast es selbst gesehen. Glaubst du vielleicht, Pater Albert irrt sich?«

»Aber sie ist nicht Pater Alberts Mutter«, beharrte der Kleine. »Er hat mir gesagt, dass er schon eine Mutter hat. Woher soll ich wissen, dass die Jungfrau meine Mutter sein will, wenn sie nicht mit mir spricht?«

»Sie wird es dir nachts sagen, wenn du schläfst, und durch die Vögel.«

»Durch die Vögel?«

Arnau zögerte. Ehrlich gesagt, hatte er das mit den Vögeln nie verstanden, sich aber nicht getraut, es seinem Vater zu sagen. »Das ist ein bisschen komplizierter. Mein … unser Vater wird es dir erklären.«

Bernat hatte erneut einen Kloß im Hals. Es wurde wieder still im Zimmer, bis Joanet weitersprach: »Arnau, könnten wir die Jungfrau jetzt sofort fragen gehen?«

»Jetzt?«

Ja, jetzt, mein Junge. Er braucht das, dachte Bernat.

»Bitte.«

»Du weißt, dass es verboten ist, nachts in die Kirche zu gehen. Pater Albert …«

»Wir werden ganz leise sein. Niemand wird etwas merken. Bitte.«

Arnau gab nach, und die beiden Jungen schlichen sich leise aus Peres Haus, um die wenigen Schritte bis Santa María del Mar zurückzulegen.

Bernat rollte sich auf der Matratze zusammen. Was konnte den Jungen schon zustoßen? Alle in der Kirche mochten sie.

Das Mondlicht ergoss sich auf die Gerüste, die halb fertigen Mauern, die Strebepfeiler, Bögen und Gewölbe … Santa María lag still da, und nur das eine oder andere Feuer wies auf die Anwesenheit von Wächtern hin. Arnau und Joanet gingen um die Kirche herum bis zur Calle del Born. Das Portal war verschlossen, und der Bereich um den Friedhof, wo der größte Teil des Baumaterials lagerte, war am besten bewacht. Ein einsames Feuer beleuchtete die im Bau befindliche Chormauer. Es war nicht schwer, in die Kirche zu gelangen: Dort, wo die Eingangstreppe entstehen sollte, befand sich ein hölzernes Gerüst, auf dem der Baumeister Montagut angezeichnet hatte, wo genau das Portal und die Stufen entstehen sollten. Sie betraten die Kirche und schlichen leise zur Sakramentskapelle im Chorumgang, wo hinter einem schön gearbeiteten, schmiedeeisernen Gitter die Jungfrau auf sie wartete, wie stets von den Kerzen erleuchtet, die immer wieder von den Bastaixos erneuert wurden.

Die beiden bekreuzigten sich – »Das müsst ihr immer tun, wenn ihr die Kirche betretet«, hatte ihnen Pater Albert gesagt – und umklammerten die Gitterstäbe vor der Kapelle.

»Ich möchte, dass du seine Mutter wirst«, hielt Arnau stumme Zwiesprache mit der Madonna. »Seine ist gestorben, und mir macht es nichts aus, dich zu teilen.«

Joan umklammerte mit den Händen die Gitterstäbe und blickte zwischen der Jungfrau und Arnau hin und her.

»Und?«, fragte er.

»Still!«

»Papa sagt, dass er viel mitgemacht hat. Seine Mutter war eingesperrt, weißt du? Sie streckte nur ihren Arm durch ein kleines Fensterchen, und er konnte sie nicht sehen, bis sie starb. Aber er hat mir erzählt, dass er sie auch dann nicht angesehen hat. Sie hatte es ihm verboten.«

Der Rauch der Bienenwachskerzen, der von dem Leuchter vor der Statue aufstieg, vernebelte Arnaus Sicht, und die steinernen Lippen lächelten.

»Sie wird deine Mutter sein«, erklärte er und drehte sich zu Joan um.

»Woher weißt du das? Du hast doch gesagt, dass sie durch die Vögel …«

»Ich weiß es eben«, unterbrach Arnau ihn unwirsch.

»Und wenn ich sie frage …«

»Nein«, fiel ihm Arnau erneut ins Wort.

Joan sah zu der steinernen Figur. Er wollte auch mit ihr sprechen können, wie Arnau es tat. Weshalb hörte sie ihn nicht an, seinen Bruder aber wohl? Wie konnte Arnau wissen …? Während Joan sich schwor, dass auch er eines Tages ihrer Worte würdig sein würde, hörten sie ein Geräusch.

»Pssst!«, wisperte Arnau, während er zu dem dunklen Portal hinübersah.

»Wer ist da?« Der Widerschein einer Laterne erschien in der Öffnung.

Arnau begann, in Richtung Calle del Born davonzuschleichen, von wo sie gekommen waren, doch Joan blieb wie angewurzelt stehen und starrte auf die Laterne, die sich nun bereits dem Chorumgang näherte.

»Los, lass uns verschwinden!«, flüsterte Arnau ihm zu und zog ihn mit sich.

Als sie auf die Calle del Born traten, sahen sie mehrere Laternen auf sie zukommen. Arnau blickte sich um; zu dem ersten Licht im Inneren der Kirche waren weitere hinzugekommen.

Es gab keinen Ausweg. Die Wächter sprachen miteinander und riefen einander etwas zu. Was sollten sie bloß tun? Das Gerüst! Arnau stieß Joan zu Boden. Der Kleine war wie gelähmt. Das Gerüst war seitlich offen. Er gab Joan erneut einen Schubs, und die beiden krochen darunter, bis sie die Grundmauern der Kirche erreichten. Joan presste sich gegen die Steinquader. Die Lichter wanderten an dem Gerüst entlang. Die Schritte der Wächter auf den Holzbrettern hallten Arnau in den Ohren und ihre Stimmen übertönten das Pochen seines Herzens.

Sie warteten ab, während die Männer sich in der Kirche umsahen. Es erschien ihnen eine Ewigkeit! Arnau spähte nach oben und versuchte herauszufinden, was dort geschah, doch jedes Mal, wenn ein Lichtstrahl durch die Bretterritzen fiel, duckte er sich noch tiefer.

Schließlich gaben die Wächter auf. Zwei von ihnen blieben auf dem Gerüst stehen und leuchteten von dort aus die Umgebung ab. Wie war es möglich, dass sie sein Herz nicht pochen hörten? Und das von Joan. Die Männer stiegen von dem Gerüst. Doch wo war Joan überhaupt? Arnau sah zu der Stelle hinüber, wo der Kleine gekauert hatte. Einer der Wächter hängte eine Laterne an das Gerüst, der andere verschwand in der Dunkelheit. Joan war nicht mehr da! Wo mochte er nur stecken? Arnau kroch zu der Stelle, an der das Gerüst an das Fundament der Kirche stieß. Er tastete mit der Hand im Dunkeln. Dort war eine Öffnung, ein schmaler Gang, der sich in der Mauer öffnete.


Von Arnau vorwärtsgestoßen, war Joan unter das Gerüst gekrochen. Nichts hatte sich ihm in den Weg gestellt, und der Junge war weitergekrochen, durch die Öffnung und in den Gang, der leicht abschüssig in Richtung Hauptaltar führte. Durch das Geräusch, mit dem sein Körper an den Wänden des Gangs entlangschleifte, konnte er nichts hören, aber Arnau musste direkt hinter ihm sein. Erst als sich der enge Tunnel weitete und er sich umdrehen, ja sogar hinknien konnte, hatte Joan bemerkt, dass er alleine war. Wo befand er sich? Es war stockfinster.

»Arnau?«, rief er.

Seine Stimme hallte in seinem Kopf wider. Es war … es war wie in einer Höhle. Eine Höhle unter der Kirche!

Er rief erneut, immer wieder. Zuerst leise, dann immer lauter, doch seine eigene Stimme erschreckte ihn. Er konnte versuchen zurückzukriechen. Doch wo war der Tunnel? Joan streckte die Arme aus, aber seine Hände griffen ins Leere. Er war zu weit gekrochen.

»Arnau!«, rief er erneut.

Nichts. Er begann zu weinen. Was befand sich wohl an diesem Ort? Ungeheuer? Und wenn er in der Hölle war? Er befand sich unter einer Kirche – hieß es nicht, die Hölle sei dort unten? Und wenn nun der Teufel erschien?


Arnau kroch in den Gang. Joan konnte nur dort sein. Niemals hätte er sein Versteck unter dem Gerüst verlassen. Nachdem er ein Stück zurückgelegt hatte, rief er nach seinem Freund. Draußen konnte man ihn unmöglich hören. Nichts. Er kroch weiter.

»Joanet!« rief er, dann verbesserte er sich: »Joan!«

»Hier«, hörte er ihn antworten.

»Wo ist hier?«

»Am Ende des Tunnels.«

»Alles in Ordnung?«

Joan hörte auf zu zittern.

»Ja.«

»Dann komm her.«

»Ich kann nicht.« Arnau seufzte. »Hier ist so eine Art Höhle, und ich weiß nicht mehr, wo der Ausgang ist.«

»Taste dich an den Wänden entlang, bis du … oder nein!«, korrigierte sich Arnau sofort. »Tu das nicht, hörst du, Joan? Es könnte noch weitere Gänge geben. Wenn ich es bis dorthin schaffe … Sieht man etwas, Joan?«

»Nein«, antwortete der Kleine.

Er konnte sich weitertasten, bis er ihn fand – aber wenn er sich ebenfalls verirrte? Ah! Jetzt wusste er, wie er es schaffen könnte. Er brauchte Licht. Mit einer Laterne würden sie zurückfinden.

»Warte dort auf mich! Hörst du, Joan? Bleib ganz ruhig und rühr dich nicht von der Stelle! Hörst du?«

»Ja. Was hast du vor?«

»Ich hole eine Laterne und komme dann zurück. Warte hier auf mich und rühr dich nicht vom Fleck, verstanden?«

»Ja«, antwortete Joan zögerlich.

»Denk daran, direkt über dir ist die Jungfrau, deine Mutter.« Arnau hörte keine Antwort. »Joan, hast du mich gehört?«

Natürlich hatte er ihn gehört. »Deine Mutter«, hatte er gesagt. Aber er hatte ihn nicht mit ihr reden lassen. Und wenn Arnau seine Mutter nicht teilen wollte und ihn hier in der Hölle eingesperrt hatte?

»Joan?«, vergewisserte sich Arnau.

»Was?«

»Warte auf mich, und rühr dich nicht vom Fleck!«

Mühsam robbte Arnau rückwärts, bis er sich wieder unter dem Gerüst an der Calle del Born befand. Ohne lange zu überlegen, nahm er die Laterne, die der Wächter dort aufgehängt hatte, und verschwand wieder in dem Tunnel.

Joan sah das Licht näher kommen. Arnau drehte die Flamme höher, als die Seitenwände zurückwichen. Sein Freund kniete einige Schritte vom Ausgang entfernt und sah ihn ängstlich an.

»Hab keine Angst«, versuchte ihn Arnau zu beruhigen.

Arnau hielt die Laterne hoch und drehte die Flamme noch höher. Was war das …? Ein Friedhof! Sie befanden sich auf einem Friedhof. Eine kleine Höhle, die aus irgendeinem Grund unter Santa María überdauert hatte wie eine Luftblase. Die Decke war so niedrig, dass sie nicht einmal aufrecht stehen konnten. Arnau leuchtete auf mehrere große Amphoren, ähnlich den Krügen, die er in Graus Werkstatt gesehen hatte, nur grober gearbeitet. Einige waren zerbrochen und gaben den Blick auf die Gerippe frei, die sich darin befanden. Andere waren unversehrt: große Amphoren, die aus zwei aufeinanderliegenden, versiegelten Hälften bestanden.

Joan starrte zitternd auf eines der Skelette.

»Ganz ruhig«, sagte Arnau und wollte zu ihm gehen. Doch Joan wich hastig zurück.

»Was ist …?«, fragte Arnau.

»Lass uns von hier verschwinden«, bat Joan.

Ohne eine Antwort abzuwarten, kroch er in den Tunnel, und Arnau folgte ihm. Als sie das Gerüst erreichten, erlosch die Laterne. Es war niemand zu sehen. Arnau hängte die Laterne wieder an ihren Platz und sie kehrten zu Peres Haus zurück.

»Kein Wort darüber, einverstanden?«, sagte er unterwegs zu Joan.

Joan gab keine Antwort.

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