Der Bach umwirbelte die größeren Steine, kleine Strudel bildeten sich und lösten sich auf. Tucker ging am Ufer auf und ab, das glitschig war vom Schlamm, der sich abgelagert hatte. Das Wasser war zurückgegangen und floß wieder innerhalb seiner Ufer, aber der Wasserstand war immer noch hoch und die Strömung reißend. Nebel hing über den Weiden und den Bäumen, die nun kahl waren, denn die schweren Regengüsse hatten das leuchtende Herbstlaub fast vollständig heruntergefegt.
Hoch auf dem Heuboden beobachtete Mrs. Murphy durch eine Ritze in den Brettern ihre Freundin. Als sie Tucker aus den Augen verlor, brach sie ihre Unterhaltung mit Simon ab und eilte die Leiter hinunter. Leise fluchend ließ sie die Hoffnung, trocken zu bleiben, fahren und rannte über die Felder. Wasser bespritzte ihren sahnegelben Bauch, was ihre schlechte Laune noch verschlimmerte. Tucker konnte die dämlichsten Sachen anstellen. Als Mrs. Murphy beim Bach anlangte, war die Corgihündin mittendrin und wippte auf der Spitze eines riesigen Gesteinsbrockens.
»Komm da raus«, forderte Mrs. Murphy sie auf.
»Nein«, weigerte sich Tucker.»Riech mal.«
Mrs. Murphy hielt die Nase in die Luft.»Ich rieche Schlamm, Harz und abgestandenes Wasser.«
»Es ist ein ganz schwacher Hauch. Süßlich. Und dann ist es plötzlich wieder weg. Ich muß es finden.«
»Was meinst du mit süßlich?« Mrs. Murphy schlug mit dem Schwanz.
»Verdammt, jetzt ist es wieder weg.«
»Tucker, du hast kurze Beine - in dieser Strömung zu schwimmen ist keine gute Idee.«
»Ich muß den Geruch wiederfinden. « Damit stieß sie sich von dem Stein ab, sprang ins Wasser und ruderte mit aller Kraft. Das schlammige Wasser schlug über ihrem Kopf zusammen. Sie tauchte auf und schwamm schräg hinüber zum anderen Ufer.
Mrs. Murphy schrie, was das Zeug hielt, aber Tucker achtete nicht auf sie. Als die Corgihündin das Ufer erreichte, war sie so erschöpft, daß sie sich einen Moment ausruhen mußte. Aber der Geruch war jetzt etwas stärker. Auf wackligen Beinen schüttelte sie sich und erklomm mühsam den Schlammhang, zu dem die Böschung am Bach geworden war.
»Alles klar?« rief die Katze.
»Ja.«
»Ich bleib hier, bis du zurückkommst.«
»Okay« Tucker kletterte über die Böschung und witterte. Sie fand die Richtung und trottete über Blair Bainbridges Gelände. Der Geruch wurde mit jedem Schritt intensiver. Vor dem kleinen Friedhof blieb Tucker stehen.
Der heftige Sturm hatte die Grabsteine umgeworfen, die Blair aufgerichtet hatte, und der schadhafte Teil des schmiedeeisernen Zauns war wieder umgestürzt. Vorsichtig bahnte sich die Hündin einen Weg durch den Schutt auf dem Friedhof. Der Geruch war jetzt kristallklar und verlockend, äußerst verlockend.
Die Nase am Boden, ging sie zu dem Grabstein mit dem gemeißelten harfespielenden Engel. Vor dem Stein wiesen die Finger einer Menschenhand zum Himmel. Die Gewalt von Wind und Regen hatte den lockeren Mutterboden abgedeckt; ein Stückchen Grasnarbe war aufgerollt wie ein kleiner Teppich. Tucker beschnüffelte auch dies. Als sie letzte Woche mit Mrs. Murphy an dem Friedhof vorbeigekommen war, hatte sie keinen verlockenden Geruch, keine sichtbare Veränderung des Bodens wahrgenommen. Der Verwesungsgestank, der jeden Hund belebte, vertrieb ihre Verwunderung über die Grasnarbe. Sie begann die Hand auszugraben. Bald war die ganze Hand zu sehen. Tucker biß in den fleischigen, geschwollenen Ballen und zerrte. Die Hand ließ sich mühelos aus der Erde ziehen. Dann sah Tucker, daß die Hand am Gelenk abgetrennt war, fein säuberlich, und daß die Fingerkuppen fehlten.
Vor lauter Begeisterung über ihren Fund vergaß Tucker ihre Erschöpfung und raste durch den Morast zum Bach. Sie blieb stehen, weil sie sich nicht traute, ins Wasser zu tauchen, aus Furcht, ihre pikante Beute zu verlieren.
Mrs. Murphy war sprachlos.
Tucker legte die Hand vorsichtig ab.»Ich hab 's gewußt! Ich hab gewußt, ich rieche was köstlich Totes.«
»Tucker, kau da nicht drauf rum.« Mrs. Murphy ekelte sich.
»Warum nicht? Ich hab sie gefunden. Ich hab die Arbeit gemacht. Sie gehört mir!« Sie bellte in hoher Tonlage, weil sie so aufgeregt war.
»Ich will die Hand nicht, Tucker, aber sie ist ein böses Omen.«
»Ist nicht wahr. Weißt du noch, wie Harry uns von dem Hund vorgelesen hat, der Vespasian, als er General war, eine Hand brachte, und die Seher haben daraufhin prophezeit, daß er Kaiser von Rom werden würde, und dann ist er es tatsächlich geworden. Es ist ein gutes Zeichen.«
Mrs. Murphy erinnerte sich vage, daß Harry diese Geschichte einmal aus einem ihrer vielen Geschichtsbüchern vorgelesen hatte, aber das war jetzt kaum ihr Hauptinteresse.»Hör zu. Die Menschen packen ihre Toten in Kisten. Wenn du eine Hand gefunden hast, heißt das, die Leiche war nicht verpackt.«
»Na und? Die Hand gehört mir!« Tucker heulte, was ihre Lungen hergaben, obgleich sie in einem Moment der Besinnung einsah, daß Mrs. Murphy recht hatte. Menschen zerstückelten ihre Toten nicht.
»Tucker, wenn du die Hand vernichtest, dann vernichtest du ein Beweisstück. Du wirst ganz schön in der Scheiße sitzen, und außerdem bringst du Mutter in die Bredoullie.«
Tucker hockte sich niedergeschlagen neben die kostbare Hand, ein grausiger Anblick.»Sie gehört aber mir.«
»Tut mit leid. Aber da stimmt was nicht, siehst du das nicht ein?«
»Nein« Ihre Stimme war jetzt schwächer.
»Wenn ein toter Mensch nicht in einer Kiste ist, bedeutet das entweder, daß er oder sie krank war und weit entfernt von anderen gestorben ist oder daß er oder sie ermordet wurde. Die anderen Menschen müssen es erfahren. Du weißt, wie sie sind, Tucker. Manche töten zum Vergnügen. Das ist gefährlich für die übrigen.«
Tucker setzte sich auf.»Warum sind sie so?« »Ich weiß es nicht, sie wissen es ja selbst nicht. Es ist eine Krankheit in der Gattung. So ähnlich, wie wenn Hunde einen Verwesungsgeruch nicht wittern. Bitte, Tucker, mach kein Hackfleisch aus dem Beweisstück. Laß mich versuchen, Mutter zu holen. Versprich mir, daß du wartest.«
»Es kann Stunden dauern, bis sie schnallt, was du ihr sagen willst.«
»Ich weiß. Du mußt warten.«
Die unglückliche Hündin legte den Kopf schief und seufzte. »Na gut, Murphy.«
Mrs. Murphy flog über die Weiden, ihre Füße berührten kaum die durchweichte Erde. Sie fand Harry auf der Ladefläche des Transporters Behende sprang Mrs. Murphy auf den Wagen Sie miaute. Sie rieb sich an Harrys Bein. Sie miaute lauter.
»He, kleine Miezekatze, ich hab zu tun. «
Es wurde dunkler. Mrs. Murphy verzweifelte allmählich. »Komm mit, Mom. Los komm sofort.«
»Was ist bloß in dich gefahren?« Harry war verwirrt.
Mrs. Murphy maunzte und schrie aus Leibeskräften. Am Ende sprang sie hoch, grub ihre Krallen in Harrys Jeans und kletterte an ihrem Bein hinauf. Harry brüllte, Mrs. Murphy sprang von ihrem Bein herunter und rannte ein paar Schritte weg. Harry rieb sich das Bein. Mrs. Murphy rannte zurück und machte Anstalten, das andere Bein zu erklimmen.
Harry streckte die Hand aus. »Wehe!«
»Dann komm mit, Dummkopf.« Mrs. Murphy lief wieder fort von ihr.
Schließlich folgte Harry. Sie hatte keine Ahnung, was los war, aber sie lebte jetzt sieben Jahre mit Mrs. Murphy zusammen, lange genug und nahe genug, um ein bißchen über das Wesen von Katzen zu wissen.
Die Katze eilte über die Wiese. Wenn Harry langsamer wurde, rannte Mrs. Murphy zurück und preschte dann wieder los, wobei sie versuchte, sie anzuspornen Harry legte Tempo zu.
Als Tucker die beiden kommen sah, fing sie an zu bellen.
Schwer atmend blieb Harry an der Böschung stehen. »O verdammt, Tucker, wie bist du da rübergekommen?«
»Guckdoch!« schrie die Katze.
»Mommy, ich hab Sie gefunden, sie gehört mir. Wenn ich sie abgeben muß, will ich einen Fleischknochen dafür«, feilschte Tucker. Sie hob die Hand mit der Schnauze auf.
Harry brauchte eine Minute, bis sie in dem schwindenden Licht etwas erkennen konnte. Zuerst traute sie ihren Augen nicht. Aber dann traute sie ihnen doch. »O mein Gott.«