14

Der Glanz des vom Feuer erhellten Mahagoniholzes in Herbie Jones' Bibliothek ließ die Züge des Reverend jugendlich weich erscheinen. Der leichte Regen auf der Fensterscheibe unterstrich seine Stimmung. Er war in sich gekehrt und nachdenklich und zudem erschöpft. Er hatte vergessen, wie strapaziös erschüt­ternde Ereignisse sein können. Carol, seine Frau, die veilchen­blauen Augen voll Mitgefühl, redete ihm zu, etwas zu essen. Als er ablehnte, wußte sie, daß er litt.

»Möchtest du nicht wenigstens eine Tasse Kakao?«

»Was? Ach nein, Liebes. Ich habe Cabell in der Bank getrof­fen. Er meint, wir haben es mit einem Verrückten zu tun. Ein Durchreisender, so eine Art wandernder Serienmörder. Ich glaube das nicht. Ich glaube, der Mörder ist einer von uns.«

Ein lautes Knacken im Kamin ließ ihn auffahren. Er setzte sich wieder hin.

»Ich bring dir den Kakao, und wenn du ihn nicht willst, dann trinkt ihn eben die Katze. Er wird an dieser entsetzlichen Schweinerei nichts ändern, aber du wirst dich besser fühlen.«

Es läutete an der Haustür. Carol öffnete. Zwei Tassen Kakao. Sie bat Blair Bainbridge in die Bibliothek. Auch er wirkte er­schöpft.

Reverend Jones erhob sich von seinem Sessel, um seinen her­eingeschneiten Gast zu begrüßen.

»Oh, bitte bleiben Sie sitzen, Reverend.«

»Nehmen Sie Platz.«

Ella, die Katze, leistete ihnen Gesellschaft. Ihr voller Name lautete Elevation, und sie machte diesem Namen alle Ehre. Ho­stien fressen wie die ungezogene episkopalische Katze war nicht ihr Stil, aber einmal hatte Ella an einem Sonntagmorgen eine Predigt von Herbie zerfetzt. Zum erstenmal im Leben hielt er eine Predigt aus dem Stegreif. Und ohne Ellas mutwillige Zerstörung wäre er wohl nie auf das Thema »mit allen Gottes­geschöpfen leben« gekommen. Es wurde die beste Predigt sei­nes Lebens. Die Pfarrkinder baten um Kopien. Da er nicht eine einzige Notiz hatte, glaubte er seine Predigt nicht rekonstruieren zu können, aber Carol half ihm. Sie war ebenfalls gerührt über ihres Mannes liebevolle Fürsprache für alle Lebewesen und hatte sich jedes Wort gemerkt. Die Predigt, die in vielen Kir­chenzeitungen abgedruckt wurde, sogar außerhalb seiner eige­nen lutheranischen Konfession, hatte den Reverend zu einer Kirchenberühmtheit gemacht.

Ella musterte Blair eingehend, weil sie ihn noch nicht kannte. Zufrieden legte sie sich vor dem Feuer auf die Seite, während die Männer plauderten. Carol brachte eine große Kanne Kakao herein, entschuldigte sich dann und ging nach oben, um sich wieder ihrer Arbeit zu widmen.

»Entschuldigen Sie, daß ich so unangemeldet hereinplatze.«

»Blair, wir sind hier auf dem Land. Wenn Sie vorher anrufen würden, würden die Leute Sie für hochnäsig halten.« Herbie schenkte sich und seinem Gast eine Tasse dampfenden Kakao ein; der schwere Duft erfüllte den Raum.

»Ich bin nur gekommen, um Ihnen zu sagen, wie leid es mir tut, daß diese, dieses - ich weiß nicht mal, wie ich es nennen soll.« Blair runzelte die Stirn. »Nun ja, daß diese grauenhafte Entdeckung auf der Parzelle Ihrer Familie gemacht wurde. Da Sie Probleme mit dem Rücken haben, bin ich bereit, alle nöti­gen Reparaturen vorzunehmen, sobald Sheriff Shaw mich läßt.«

»Danke.« Der Reverend meinte es ernst.

»Wie lange es wohl dauern wird, bis die Leute denken, daß ich es getan habe?« entfuhr es Blair.

»Oh, diese Möglichkeit wurde schon erwogen, und die mei­sten haben sie gleich wieder verworfen, mit Ausnahme von Rick, der nie jemanden von der Leine läßt und nie vorschnell urteilt. In seinem Beruf muß man wohl so sein, schätze ich.«

»Verworfen.?«

Herbie bewegte die rechte Hand in der Luft, eine freundliche, wegwerfende Geste, während er mit der linken seine Kakaotas­se samt Untertasse hielt »Sie sind noch nicht lange genug hier, um Marilyn Sanburne zu hassen. Sie hätten die Leiche oder das, was von ihr übrig war, nicht in ihrem Bootshaus deponiert.«

»Ich hätte sie dorthin treiben lassen können.«

»Ich habe kurz nach der Entdeckung mit Rick Shaw gespro­chen.« Herb stellte seine Tasse auf den Tisch Ella beäugte sie interessiert. »Dem Zustand der Leiche nach bezweifelt er ent­schieden, daß sie ins Bootshaus getrieben sein kann, ohne daß jemand auf dem See etwas gemerkt hat; schließlich geht so etwas langsam. Außerdem war die Tür des Bootshauses ge­schlossen.«

»Sie hätte von unten hineintreiben können.«

»Die Leiche war auf ungefähr das Dreifache ihrer normalen Größe aufgeschwemmt.«

Blair unterdrückte einen unwillkürlichen Schauder. »Die arme Frau wird Alpträume haben.«

»Es hat nicht viel gefehlt, und man hätte sie mit einem Bol­zenschußgerät ruhigstellen müssen. Little Marilyn war auch ziemlich erschüttert. Und ich glaube, Fitz-Gilbert dürfte es für eine Weile den Appetit verschlagen haben. Mir ist er übrigens auch vergangen.«

»Mir auch.« Blair beobachtete ein am unteren Ende königs­blau und zur Mitte hin karmesinrot glühendes Holzscheit, aus dem hellgelbe Flammen schossen.

»Ich mache mir Sorgen wegen der Reporter. Es wird morgen in der Zeitung stehen. Haarklein. Und wenn die Leiche erst identifiziert ist, werden sie über uns hereinbrechen wie Fliegen­schwärme.« Herb wünschte, er hätte das nicht gesagt; denn es erinnerte ihn an die Beine und Hände.

»Reverend Jones.«

»Herbie«, wurde Blair unterbrochen.

»Herbie, warum hassen die Leute Marilyn Sanburne? Ich bin ihr erst einmal begegnet. Sie hat sich über Stammbäume ausge­lassen, aber schließlich hat jeder eine Schwäche.«

»Einen Snob kann keiner leiden, Blair. Nicht mal ein anderer Snob. Stellen Sie sich so ein Leben vor, Jahr ein, Jahr aus von Mim taxiert, bei jeder Gelegenheit von ihr in die Schranken gewiesen werden. Sie arbeitet hart für wohltätige Einrichtun­gen, das läßt sich nicht leugnen, aber sogar während sie gute Werke tut, schikaniert sie andere Leute. Ihr Sohn Stafford hat eine Schwarze geheiratet, und das hat das Schlechteste in Mim und, darf ich hinzufügen, das Beste in allen anderen zum Vor­schein gebracht. Sie hat ihn enterbt. Er lebt mit seiner Frau in New York Sie sind gewissermaßen der Ausgleich zu Little Ma­rilyns Ehe. Ich weiß nicht, die meisten Leute schauen bei ande­ren nicht hinter die Fassade, und Mims Fassade ist kalt und hart.«

»Aber Sie denken anders von ihr, nicht?«

Der junge Mann war ein genauer Beobachter. Herb mochte ihn mit jeder Minute lieber. »Ja, ich denke anders von ihr.« Er zog sich ein Polster für die Füße heran, machte Blair ein Zei­chen, sich auch eins zu holen, und faltete die Hände vor der Brust. »Sie müssen wissen, Marilyn Sanburne ist eine geborene Marilyn Urquhart Conrad. Die Urquharts, schottischen Ur­sprungs, waren eine der ersten Familien, die hierher in den fer­nen Westen kamen. Kaum zu glauben, noch während des Un­abhängigkeitskrieges war dies eine rauhe Gegend, Grenzgebiet. Davor, um 1720, 1730, riskierte man sein Leben, um zu den Blue Ridge Mountains zu gelangen. Marilyns Mutter, Isabelle Urquhart Conrad, setzte ihren drei Kindern Flausen in den Kopf, weil sie königlichen Geblüts waren. Die amerikanische Version. Ihr Mann, Jimp Conrad, der keinen so erlauchten Stammbaum aufweisen konnte wie die Urquharts, war zu sehr damit beschäftigt, Land zu kaufen, um sich groß darum zu kümmern, wie seine Kinder erzogen wurden. Ein Männerpro­blem, würde ich sagen. Jedenfalls stieg Marilyns zwei Brüdern die Sache mit dem Adel zu Kopf, und sie befanden, daß sie sich ihren Lebensunterhalt nicht mit so etwas Ordinärem wie Arbeit sichern dürften. James wurde Rennjockey und starb bei einem gräßlichen Unfall in Culpeper. Das war direkt nach dem Zwei­ten Weltkrieg. Das Pferd hat ihn zu Tode geschleift. Ich hab's mit eigenen Augen gesehen. Theodore, der jüngere Bruder, ebenfalls ein guter Reiter, hat sich schlicht und einfach tot ge­soffen. Der Kummer brachte Jimp um und machte Isabelle zu einer verbitterten Frau. Sie fühlte sich, als sei sie die einzige, die jemals Söhne verloren hatte. Sie vergaß, daß Hunderttau­sende von amerikanischen Müttern erst vor kurzer Zeit ihre Söhne im Schlamm von Europa und im Sand des Südpazifiks verloren hatten. Die Verbitterung der Mutter färbte auf Mim ab. Da sie nun das einzige Kind war, wurde ihr die Pflege ihrer Mutter aufgebürdet, als Isabelle alt wurde. Gesellschaftliche Überheblichkeit wurde vielleicht ihre Zuflucht.«

Er schwieg einen Moment, dann fuhr er fort: »Sehen Sie, ich erlebe viele Menschen, die in einer Krise stecken. Und im Laufe der Jahre habe ich festgestellt, daß zweierlei passieren kann. Entweder öffnen sich die Menschen und erlangen Größe; der Schmerz führt zu Mitgefühl für andere und zu einer Einsicht in sich selbst, zum Empfinden der Liebe Gottes, wenn Sie wollen. Oder sie verschließen sich durch Alkohol, Rauschgift, Promis­kuität oder Verbitterung. Verbitterung ist, wie jede Form von selbstzerstörerischen Verhalten, eine Beleidigung Gottes. Das Leben ist ein Geschenk, das man genießen und mit anderen teilen muß.« Er verfiel in Schweigen.

Ella schnurrte, während sie lauschte. Sie liebte Herbies Stim­me, das tiefe, männliche Dröhnen, aber sie liebte auch, was er sagte. Den Menschen fiel es so schwer zu erkennen, daß das Leben eine Lust ist, solange man genug zu fressen, ein warmes Lager und jede Menge Katzenminze hat. Sie war sehr froh über Herbs Überzeugung, daß das Leben meistens wunderbar war.

Lange Zeit saßen die beiden Männer in stillem Einverständnis nebeneinander.

Schließlich sprach Blair. »Herbie, ich gebe mir Mühe, mich zu öffnen. Aber ich habe nicht viel Übung dann.«

Da Herb spürte, daß Blair ihm irgendwann in Zukunft, wenn er sich sicher fühlte, seine Geschichte erzählen würde, hakte er klugerweise nicht nach. Er versicherte ihm statt dessen, was er selbst aufrichtig glaubte: »Vertrauen Sie auf Gott. Er wird Ihnen den Weg weisen.«

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