18

Wenn Überreste einer Menschenleiche gefunden wurden, so war das zwar unschön, aber keine Seltenheit. Alle Jahre stol­pern in Virginia Jäger über von Vögeln und Aasfressern säuber­lich abgenagte Leichen, denen noch ein paar Kleiderfetzen an den Knochen klebten. Manche waren versehentlich von anderen Jägern erschossen worden; ein andermal war ein alter Mensch, der an einer Krankheit oder an Gedächtnisschwund litt, einfach im Winter losgegangen, hatte sich in Wind und Wetter verirrt und war gestorben. Dann gab es die gequälten Seelen, die in den Wald gingen, um allem selbst ein Ende zu machen. Morde kamen allerdings nicht so oft vor.

Was diese zerstückelte Leiche betraf, so stand für Rick Shaw fest, daß es sich um Mord handelte. Das Leben eines Bezirks­sheriffs besteht gewöhnlich aus Vorladungen, die zugestellt werden müssen, aus Zeugenbefragungen bei Wilderei oder Grundstücksstreitigkeiten, aus der Verfolgung von Rasern und dem Einlochen von Betrunkenen. Ein Mord sorgt für Aufre­gung. Ohne daß es Rick bewußt gewesen wäre, arbeitete sein Verstand schneller, als wenn er an seinem überhäuften Schreib­tisch saß; er konzentrierte sich und war voller Eifer. Ein un­gerechter Tod war nötig, um ihn zum Leben zu erwecken.

»Los, Cooper.« Er drehte sich auf seinem Stuhl herum, indem er sich mit den Fußballen abstieß. »Her damit.«

»Womit?«

»Das wissen Sie doch ganz genau.« Er streckte die Hand aus.

Gereizt zog Cynthia ihre große Schreibtischschublade auf, nahm eine Schachtel Lucky Strikes ohne Filter heraus und knallte sie Rick in die Hand. »Sie könnten wenigstens Filterzi­garetten rauchen.«

»Dann würde ich zwei Schachteln am Tag rauchen statt einer. Wo soll da der Unterschied sein? Und glauben Sie bloß nicht, ich wüßte nicht, daß Sie sich welche mopsen.«

So gesehen, konnte Cooper keinen Unterschied erkennen. Die Oberfläche ihres Schreibtisches glänzte, die Maserung des alten Eichenholzes verlieh dem Möbelstück Gediegenheit. Säuberli­che Papierstapel mit Briefbeschwerern darauf kontrastierten mit Ricks Schreibtisch. Die Denkweisen der zwei kontrastierten ebenfalls. Cooper war logisch, ordentlich und zurückhaltend. Rick war intuitiv, unordentlich und so offen, wie es seine Stel­lung eben zuließ. Cooper mochte das Politische an dem Job. Er nicht. Da er gut zwanzig Jahre älter war als sie, war er stets der Sheriff und sie seine Assistentin. Wenn kein Unfall dazwi­schenkäme, konnte Cooper sich darauf freuen, irgendwann der erste weibliche Sheriff von Albemarle County zu werden. Rick hielt sich nicht für einen Feministen. Er hatte sie damals nicht haben wollen, aber mit den Jahren lernte er sie aufgrund ihrer Leistungen schätzen. Nach einer Weile vergaß er, daß sie eine Frau war, oder es spielte keine Rolle mehr. Er betrachtete sie als seine rechte Hand, und er fand es in Ordnung, eines Tages den Bezirk an sie zu übergeben; allerdings war er noch nicht soweit, sich zur Ruhe zu setzen. Dafür war er zu jung.

Die Zigarette beruhigte ihn. Die Telefone schrillten. Das klei­ne Büro verfügte über eine Sekretärin und mehrere Teilzeitbe­schäftigte. Die Dienststelle mußte dringend erweitert werden, aber bislang hatten die Bezirksoberen dem überarbeiteten She­riff keine Gelder dazu bewilligt.

Gestern war ein Reporter des Lokalblatts erschienen, und Rick hatte sich geweigert, auf die grausigen Einzelheiten des Falls einzugehen. Seine zurückhaltenden Bemerkungen hatten dem Reporter fürs erste genügt, aber Rick wußte, daß er wieder­kommen würde. Rick und Coop hofften, genug Antworten parat zu haben, um einer Panik oder dem Anrücken einer Schwadron von Reportern von anderen Zeitungen zuvorzukommen, ganz zu schweigen vom Fernsehen.

»Was sagen Sie nun zu diesem Fall, Boss?«

»Das Naheliegende. Das wichtigste für den Mörder war, daß sein Opfer nicht identifiziert werden kann. Keine Fingerabdrücke. Keine Kleidungsstücke am Rumpf. Kein Kopf. Wer immer der arme Kerl war, er wußte zuviel. Und wir würden auch zu­viel wissen, wenn wir wüßten, wer er war.«

»Ich kann mir nicht erklären, warum der Mörder sich die Mü­he gemacht hat, die Leiche zu zerstückeln. Eine Menge Arbeit. Dann mußte er oder sie sie einpacken, damit sie nicht alles voll­blutete, und dann die Teile durch die Gegend transportieren, um sie abzuladen.«

»Vielleicht war es ein Bestattungsunternehmer oder jemand, der Erfahrung mit Toten hat. Vielleicht hat er die Leiche aus­bluten lassen, bevor er sie zerlegte.«

»Oder ein Arzt«, ergänzte Cynthia.

»Vielleicht sogar ein Tierarzt.«

»Aber nicht Fair Haristeen. Der Ärmste wurde schon bei Kel­ly Craycrofts Ermordung verdächtigt.«

»Ja, und nun ist er bei Boom Boom gelandet, oder etwa nicht?«

»Tja, der arme Kerl.« Cynthia brach in Lachen aus.

Rick lachte mit. »Das Weib wird ihn zum Wahnsinn treiben. Aber hübsch ist sie.«

»Das sagen die Männer immer.« Cynthia lächelte.

»Hm, ich begreife nicht, wie ihr Frauen für Mel Gibson schwärmen könnt. Was ist so besonders an ihm?« Rick drückte seine Zigarette aus.

»Wenn Sie das wüßten, hätten Sie und ich uns viel mehr zu sagen«, stichelte Cynthia.

»Sehr witzig.« Er griff nach dem nächsten Sargnagel.

»Nicht, Sie haben doch gerade eine ausgemacht!«

»Tatsächlich?« Er nahm den Aschenbecher in die Hand und zählte die Kippen. »Scheint zu stimmen. Die hier qualmt noch.« Er zerdrückte sie noch einmal.

»Sie werden mal wieder von einer Ahnung geplagt. Ich weiß es doch. Nun spucken Sie's schon aus.«

Er hob eine Schulter und ließ sie sinken. Er kam sich ein biß­chen komisch vor, wenn ihn diese Ahnungen befielen, denn er konnte sie weder erklären noch rechtfertigen. Männern wird beigebracht, zu untermauern, was sie sagen. Das war ihm in diesem Fall nicht möglich, aber im Laufe der Zeit hatte er ge­lernt, eigenartige Empfindungen oder seltsame Ideen nicht gleich zu verwerfen. Oft führten sie ihn zu brauchbaren Bewei­sen, brauchbaren Erkenntnissen.

»Na los, Boss. Ich merke es doch, wenn Sie Witterung auf­nehmen«, drängte Cynthia.

Er faltete die Hände auf seinem Schreibtisch. »Nur soviel. Daß die Leiche zerstückelt wurde, ergibt einen Sinn. Das gibt mir keine Rätsel auf. Die Regengüsse sind unserem Mörder in die Quere gekommen. Und die kleine Tucker. Sonst wäre die Chance nicht gering gewesen, daß die Beine und Hände nie gefunden worden wären. Aber das Bootshaus, das paßt nicht ins Bild.«

»Vielleicht hat er den Rumpf in den See geworfen, und als er hochkam, hat er ihn mit einem Haken oder was rangezogen und ins Bootshaus gezerrt.« Cynthia hielt inne, um nachzudenken. »Aber dann hätten alle diese Person, ob männlich oder weib­lich, gesehen, es sei denn, es war mitten in der Nacht, aber das Erscheinen einer Wasserleiche kann man nicht vorausplanen, oder?«

»Nee. Deswegen geht ja die Rechnung nicht auf. Das Stück Fleisch ist ins Bootshausgebracht worden. Es gibt keine andere Erklärung.«

»Wenn der Mörder sich in der Gemeinde auskannte, hätte er von Mims Pontonboot am Dock gewußt. Ins Bootshaus geht fast keiner, außer wenn sie mal wieder eine Bootspartie plant. Es eignet sich zum Verstecken einer Leiche so gut wie jeder andere Ort.«

»Wirklich?«

Sie starrten sich an. Dann fragte Cynthia: »Ob der Kopf wohl auch noch auftauchen wird?«

»Halb hoffe ich es, halb nicht.« Er konnte der Versuchung nicht widerstehen. Er nahm sich eine Zigarette, zögerte aber mit dem Anzünden. »Erkundigen Sie sich mal, ob in New York was gegen Blair Bainbridge vorliegt.«

»Okay. Sonst noch jemand?«

»Alle anderen kennen wir. Oder glauben wir zu kennen.«

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