Der Morgen des 24. Dezember dämmerte silbergrau herauf. Der Schnee rieselte herab, bedeckte Büsche, Häuser und Autos, die bereits zu sanften, phantastischen Schemen verwischt waren. Die Radiosender unterbrachen ihr Programm mit Wettermeldungen und spielten dann wieder>God Rest Ye Merry Gentlemen<. Alles war in eine märchenhafte Stille gehüllt.
Als Harry Tomahawk und Gin Fizz ins Freie brachte, blieben die Pferde lange stehen und starrten in den fallenden Schnee. Dann legte der betagte Gin los und tollte wie ein Fohlen durch den Schnee.
Es gab viel zu tun. Harry nahm Tucker auf den Arm, Mrs. Murphy schmiegte sich an ihren Hals. Sie stapfte durch den Schnee. An der hinteren Verandatür lehnte eine Schneeschaufel. Harry brachte die protestierenden Tiere ins Haus und machte sich dann an das beschwerliche Schaufeln. Wenn sie wartete, bis es zu schneien aufhörte, würde die Schneemenge sich verdoppelt haben. Lieber in Abständen schaufeln als alles später anpacken, denn der Wetterbericht verkündete noch einmal einen halben Meter Schnee. Der Weg zum Stall schien ihr anderthalb Kilometer lang. In Wirklichkeit waren es ungefähr hundert Meter.
»Laß mich raus, laß mich raus«, kläffte Tucker.
Mrs. Murphy saß im Küchenfenster.»Komm schon, Mom, wir können die Kälte vertragen.«
Harry gab nach, und sie flitzten auf den Weg, den sie freigeschaufelt hatte. Dann versuchten die Tiere, sich abseits des Weges zu bewegen, was zu komisch war. Mrs. Murphy sank so tief ein, daß sie, als sie aufsprang und vorwärts hüpfte, ein Schneemützchen auf ihrem gestreiften Kopf hatte. Tucker wälzte voraus wie ein Schneepflug. Sie hatte bald genug davon und beschloß, hinter Harry zu bleiben. Der zur Seite geschaufelte und aufgetürmte Schnee knirschte unter ihren Pfoten.
Mrs. Murphy schoß hervor und rief:»Würstchen, Würstchen, Tucker ist ein Würstchen!« »Du hältst dich wohl für besonders schlau, häh?« murrte Tucker.
Jetzt schlug die Tigerkatze Purzelbäume, wobei sie Schneeklumpen aufwarf. Sie schlug nach den kleinen Bällen, dann jagte sie ihnen nach. Im Hochspringen warf sie sie mit den Pfoten in die Luft. Ihre Energie ermüdete Tucker, aber Harry brachte sie zum Lachen.
»Juhuu!« rief Mrs. Murphy. Ihr Übermut wirkte ansteckend.
»Miss Pussy, du solltest zum Zirkus gehen.« Harry warf einen kleinen Schneeball in die Luft, damit Mrs. Murphy ihn auffing.
»Genau, in die Monstershow«, knurrte Tucker. Sie haßte es, ausgestochen zu werden.
Simon kam herbei und lugte unter der Stalltür hervor.»Macht ihr heute aber einen Lärm.«
Harry, über die Schaufel gebeugt, hatte die glänzenden Augen und die rosa Nase unter der Tür noch nicht bemerkt. Sie war erst halb am Ziel, und der Schnee wurde immer schwerer.
»Keine Arbeit heute.« Nach einem weiteren Sprung, der die Schwerkraft Lügen strafte, landete Mrs. Murphy kopfüber im Schnee.
»Meint ihr, Harry backt Weihnachtsplätzchen oder schüttet Sirup in den Schnee?« fragte Simon.»Mrs. MacGregor hat die allerbesten Sirupbonbons gemacht.«
»Da würde ich mich nicht drauf verlassen«, brüllte Tucker hinter Harry hervor,»aber sie hat ein Weihnachtsgeschenk für dich. Wetten, sie bringt es morgen früh mit nach draußen, wenn sie die Pferde beschert.«
»Die Pferde sind so blöd. Ob sie das überhaupt schnallen?« nörgelte Simon über die grasfressenden Tiere. Ähnliche Vorurteile hegte er gegen Kühe und Schafe.»Was hat sie für mich?«
»Darf ich nicht sagen. Das wäre Schummeln.« Mrs. Murphy beschloß, sich einen Augenblick in den Schnee zu setzen, um zu verschnaufen.
»Wo bist du, Murph?« Tucker wurde immer bange zumute, wenn sie ihre beste Freundin und ständige Peinigerin nicht sehen konnte.
»Hab mich versteckt.«
»Sie ist links von dir, Tucker, und ich wette, sie will durch den Schnee düsen und dich erschrecken«, warnte Simon.
Zu spät, denn genau das tat Mrs. Murphy, und Tucker und Harry fuhren zusammen.
»Ätsch-bätsch!« Die Katze wirbelte herum und flitzte wieder vom Weg herunter.
»Das Mädel ist vollkommen übergeschnappt«, sagte Tucker zu Harry, die nicht zuhörte.
Endlich bemerkte Harry Simon. »Frohe Weihnachten, Kleiner.«
Simon zog sich zurück, dann steckte er den Kopf wieder heraus. »Ah, frohe Weihnachten, Harry.« Dann sagte er zu Mrs. Murphy, die inzwischen an die Stalltür gekommen war: »Ich find's gräßlich, mit Menschen zu sprechen, aber es macht ihr solche Freude.«
Ein tiefes Brummen alarmierte Simon. »Bis später, Murphy.« Er hastete den Gang entlang, die Leiter hinauf und quer über den Heuboden in sein Nest. Murphy steckte neugierig den Kopf aus der Stalltür. Ein glänzender neuer Ford Explorer, jägergrünmetallic mit einem Rallye streifen und, was noch besser war, einem Schneepflug vorne dran, bog in die Zufahrt ein. Eine Bahn war sauber freigeschaufelt.
Blair Bainbridge öffnete sein Fenster. »He, Harry, aus dem Weg. Ich mach das schon.«
Ehe sie etwas erwidern konnte, pflügte er geschwind einen Gehweg zum Stall.
Er stellte den Motor ab und stieg aus. »Klasse, was?«
»Ist der schön.« Harry fuhr mit der Hand über die Motorhaube, die mit einem galoppierenden Pferd geschmückt war. Sehr teuer.
»Er ist schön, und er ist für heute Ihre Kutsche mit mir als Fahrer. Ich weiß, Sie haben keinen Allradantrieb, und ich wette, Sie haben Geschenke zu verteilen. Also holen Sie sie, und wir fahren los.«
Harry, Mrs. Murphy und Tucker verbrachten den Rest des Vormittags damit, Geschenke abzuliefern: für Susan Tucker und ihre Familie, Mrs. Hogendobber, Reverend Tones und Carol, Market und Pewter und schließlich Cynthia Cooper. Harry stellte erfreut fest, daß alle auch für sie ein Geschenk hatten. Alle Jahre wieder tauschten Freunde und Freundinnen. Gaben aus, und alle Jahre wieder staunte Harry, daß sie an sie dachten.
Blair liebte Weihnachten. Er mochte die Musik, die Dekorationen, die Vorfreude in den Gesichtern der Kinder. In stillschweigender Übereinkunft wurde bis nach den Feiertagen nicht über Cabell gesprochen. Blair begleitete Harry, Katze und Hund in die diversen Häuser, und die Leute bestaunten die weiße Weihnacht und die Festtagsschleife an Tuckers Halsband, ein Geschenk von Susan. Eierpunsch wurde angeboten, Whiskey Sour, Tee und Kaffee. Plätzchen in Form von Tannenbäumen, Glocken und Engeln, mit rotem oder grünem Glitzer überzogen, wurden herumgereicht. Dieses Jahr gab es zu Weihnachten so viele Früchtekuchen, wie die Firma Claxton in Georgia produzieren konnte, außerdem die hausgemachte, rumgetränkte Sorte. Kalter Truthahnbraten für Sandwiches, Maisbrot und Hackfleischpastete wurden in Tupper-Gefäßen sicher verstaut und Harry mitgegeben, deren mangelhafte Kochkünste ihren Freunden bekannt waren.
Nachdem sie Cynthia ihr Geschenk gegeben hatten, fuhren sie durch den Schnee zum Tierheim, denn Harry brachte auch dort immer Gaben hin. Das Büro des Sheriffs war vollgestopft mit Geschenken, aber nicht für Rick oder Cynthia. Es waren »verdächtige« Geschenke. Cynthia freute sich über ihr unverdächtiges.
Blair bemerkte: »Sie haben großes Glück, Harry.«
»Wieso?«
»Weil Sie wahre Freunde haben. Und das nicht nur, weil der Wagen mit Geschenken überladen ist.« Er fuhr langsamer. »Ist das die Abzweigung?«
»Ja. Es ist keine starke Steigung, aber bei diesem Wetter ist es trotzdem nicht einfach.«
Sie fuhren den Hügel hinauf und bogen nach rechts in den kleinen Feldweg ein, der zum Tierheim führte. Fairs Lieferwagen parkte davor.
»Wollen Sie trotzdem reingehen?«
»Na klar.« Sie überhörte die Anspielung. »Die Türen werden ohnehin geschlossen sein.«
Gemeinsam luden sie Kisten mit Katzen- und Hundefutter ab. Als sie ihre Last zum Eingang schleppten, öffnete Fair die Tür, und sie gingen hinein.
»Frohe Weihnachten.« Er gab Harry einen Kuß auf die Wange.
»Frohe Weihnachten.« Sie gab ihm auch einen.
»Wo sind die Leute alle?« fragte Blair.
»Heiligabend gehen sie immer früh nach Hause. Ich bin vorbeigekommen, um nach einem Hund zu sehen, der von einem Auto angefahren wurde. Er hat's nicht überlebt.« Harry wußte, daß es Fair immer noch naheging, wenn er einen seiner Schützlinge verlor. Obwohl er auf Pferde spezialisiert war, tat er wie die anderen Tierärzte unentgeltlich Dienst im Tierheim. Als sie verheiratet waren, hatte Harry Weihnachten immer Futter gebracht, und Fair hatte natürlich den Feiertagsdienst im Heim übernommen.
»Tut mir leid.« Harry meinte es ehrlich.
»Kommt mal mit, ich muß euch was zeigen.« Er führte sie zu einem Karton. Zwei kleine Kätzchen waren darin. Eins war grau mit einem weißen Latz und weißen Pfoten, das andere war dunkel gescheckt. Die armen Tierchen schrien jämmerlich. »Irgendein Trottel hat sie einfach hier abgeladen. Sie waren eiskalt und halb verhungert, als ich kam. Aber ich glaube, sie werden durchkommen. Ich habe sie untersucht und ihnen die Erstimpfung verpaßt. Keine Würmer, was ein Wunder ist, und keine Flöhe. Zu kalt dafür. Aber eine Todesangst natürlich.«
»Füllst du die Papiere aus?« fragte Harry Fair.
»Sicher.«
Sie langte in den Karton und nahm ein Kätzchen in jede Hand. Dann legte sie sie Blair in die Arme. »Blair, das hier ist die einzige Liebe, die man kaufen kann. Ich kann mir nicht vorstellen, was ich Ihnen lieber zu Weihnachten schenken würde.«
Das graue Kätzchen, ein Weibchen, hatte schon die Augen geschlossen und schnurrte. Das gescheckte, noch etwas zögerlich, musterte Blairs Gesicht.
»Na los, sagen Sie ja!« Fair hatte schon seinen Stift gezückt und hielt ihn über die Übernahmeformulare des Tierheims. Wenn er sich über Harrys Geste wunderte, sagte er es nicht.
»Ja.« Blair lächelte. »Und wie soll ich die Gesellen nennen?«
»Weihnachtsnamen?« schlug Fair vor.
»Ja, ich könnte das graue Noel nennen und das gescheckte Jingle Bells. Ich bin nicht besonders gut im Namengeben.«
»Ideal.« Harry strahlte.
Auf der Heimfahrt hielt Harry den Karton auf dem Schoß. Die Kätzchen schliefen ein. Mrs. Murphy streckte den Kopf über den Rand und machte eine unziemliche Bemerkung. Bald schlief sie selber ein. Die Katze hatte bei jedem Stopp Truthahnfleisch gefressen. Sie mußte alles in allem einen halben Vogel vertilgt haben.
Tucker machte sich Mrs. Murphys völlereibedingten Schlaf zunutze, um Blair über ihre zahlreichen Ansichten aufzuklären. »Ein Hund ist viel nützlicher, Blair. Du solltest dir wirklich einen Hund anschaffen, der dich beschützen kann und auch die Ratten aus dem Stall vertreibt. Außerdem sind wir treu, gutmütig und leicht zu halten. Ein Corgi-Junges können Sie in einer Woche stubenrein haben«, log sie.
Blair tätschelte ihren Kopf. Tucker plapperte noch ein Weilchen, bis auch sie einschlief.
Harry konnte sich an streßfreiere Weihnachtsfeste als dieses erinnern. Weihnachten voll Jugend und Verheißung, Parties und Lachen, aber sie konnte sich nicht erinnern, jemals ein Geschenk gemacht zu haben, das sie so froh gemacht hatte.