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Vier Säcke Pferdefutter, vier Säcke Hundetrockenfutter und vier Säcke Katzentrockenfutter, dazu zwei Kisten Katzendosenfutter - Harry war verblüfft. Während Blair seinen Explorer auslud, protestierte sie, sie könne diese Geschenke nicht annehmen. Er sagte, sie könne natürlich dastehen und lamentieren, sie könne aber auch ausladen helfen und ihnen dann Kakao machen. Sie entschied sich für letzteres.

Als sie drinnen ihren Kakao tranken, zog er eine kleine hell­blaue Schachtel aus seiner Tasche. »Hier, Harry, Sie haben es verdient.«

Sie band die weiße Satinschleife auf. TIFFANY & CO sprang ihr in schwarzen Buchstaben von der Mitte der blauen Schach­tel entgegen. »Ich hab Angst, es aufzumachen.«

»Machen Sie schon.«

Sie hob den Deckel ab und erblickte eine dunkelblaue Leder­schatulle mit TIFFANY in Goldschrift Sie öffnete sie und sah ein Paar bildschöne goldgefaßte, blauemaillierte Ohrringe, die sich in das weiße Futter schmiegten. »Oh«, war alles, was sie herausbrachte.

»Blau und Gold sind doch Ihre Farben?«

Sie nickte und nahm die Ohrringe dann vorsichtig heraus. Sie steckte sie sich an die Ohren und betrachtete sich im Spiegel. »Sind die schön! Ich habe sie nicht verdient. Warum sagen Sie, daß ich sie verdient habe? Es ist. tja, es ist.«

»Nimm sie, Mom. Du siehst blendend aus«, riet Murphy ihr.

»Ja, schlimm genug, daß du unsere Kekse zurückgeben woll­test. Du brauchst mal was Hübsches«, fiel Tucker ein.

Blair bewunderte die Wirkung: »Großartig.«

»Wollen Sie mir die wirklich schenken?«

»Aber natürlich Harry, ohne Sie wäre ich hier draußen verlo­ren. Ich dachte, ich wäre ein tüchtiger Arbeiter und einigerma­ßen intelligent, aber ohne Sie hätte ich viel mehr Fehler ge­macht und viel mehr Geld ausgegeben Sie haben jemandem geholfen, den Sie kaum kennen, und unter den gegebenen Um­ständen bin ich dankbar dafür.« »Was für Umständen?«

»Die Leiche auf dem Friedhof.«

»Ach die.« Harry lachte. Sie hatte gedacht, er spreche von Boom Boom. »Ich meine es nicht ganz so, wie es sich anhört, Blair, aber Sie machen mir keine Angst. Sie haben nicht das Zeug zum Mörder.«

»Ich glaube, unter den richtigen - oder vielleicht sollte ich sa­gen, falschen - Umständen hat jeder das Zeug zum Mörder, aber ich weiß Ihre Freundlichkeit gegenüber einem Fremden zu schätzen. War es nicht Blanche DuBois, die gesagt hat:>Ich war immer auf die Freundlichkeit von Fremden angewiesen

»Und meine Mutter hat immer gesagt:Viele Hände erleich­tern die Arbeit<. Nachbarn helfen einander, um sich gegenseitig die Arbeit zu erleichtern. Es hat mir Spaß gemacht, und es hat mir gutgetan. Ich hab gemerkt, daß ich was kann.«

»Wie meinen Sie das?«

»Gestrüpp roden, wissen, wann gepflanzt werden muß, wis­sen, wie man Pferde von Würmern kuriert, all diese Dinge sind für mich ganz normal. Während ich Ihnen half, ist mir klar ge­worden, daß ich doch nicht so blöd bin.«

»Mädchen, die aufs Seven Sisters College gegangen sind, sind selten blöd.«

»Ha.« Harry platzte vor Übermut, Blair ebenso.

»Okay, es gibt ein paar blöde Smith- und Holy-Joker- Absolventinnen, aber schließlich gibt es ja auch ein paar mise­rable Old-Blues- und Princeton-Absolventen.«

Harry wechselte das Thema, weil sie nicht gerne über sich oder über Gefühle sprach: »Haben Sie schon mal Spuren im Schnee gesucht?«

»Nein.«

»Ich hab noch die alten Schneeschuhe von meinem Vater. Ha­ben Sie Lust, ein bißchen rauszugehen?«

»Klar.«

Wenige Minuten später hatten sie sich angezogen und das Haus verlassen. Viel Sonnenlicht war nicht mehr da.

Blair hob einen Fuß. »An die Schneeschuhe muß man sich erst gewöhnen.«

Sie stapften in den Wald, wo Harry ihm Rotluchs- und Reh­spuren zeigte. Die Rehe folgten den Luftströmungen. Als er dies alles sah und die Luft roch, als er den Unterschied zwi­schen der Temperatur unten am Bach und der weiter oben spür­te, da bekam Blair einen Begriff davon, wie intelligent Tierle­ben ist. Jede Art entwickelte ihre Überlebensstrategie. Wenn die Menschen sich herablassen würden, davon zu lernen, wären sie womöglich imstande, ihr eigenes Leben zu verbessern.

Sie gingen auf die Bergausläufer hinter Blairs Grundstück zu. Harry wollte einen Rundgang machen, wobei sie stets im Kopf behielt, daß das Licht im Schwinden begriffen war. Sie legte ihre Hand auf Blairs Arm und deutete nach oben. In einem Walnußbaum saß eine riesige Schnee-Eule.

Harry flüsterte: »Sie kommen selten so weit nach Süden.«

»Mein Gott, ist die groß«, flüsterte er zurück.

»Eulen und Kletternattern sind die besten Freunde, die ein Farmer haben kann. Und Katzen. Sie töten das Ungeziefer.«

Lange rosa Schatten schwebten von den Bergen, als drehten sich die Röcke des Tages in einem letzten Tanz. Sogar mit Schneeschuhen konnte das Gehen beschwerlich sein. Beide atmeten schwer, als sie aus dem Wald traten. Am Waldrand blieb Harry stehen. Ihr Blut wurde so eisig wie die Temperatur. Sie zeigte es Blair. Schneeschuhspuren. Aber es waren nicht ihre.

»Jäger« meinte Blair.

»Niemand würde hier ohne Genehmigung jagen. Die Mac­Gregors und meine Eltern waren da ganz rigoros. Wir hatten Angusrinder auf der Weide, und die MacGregors haben hornlo­se Herefords gezüchtet. Man kann nicht riskieren, daß irgendein Trottel einem das Vieh erschießt - und das kann durchaus pas­sieren.«

»Vielleicht wollte jemand Spuren suchen, so wie wir.«

»Suchen wollte er allerdings was.« Sie füllte ihre Lungen mit der scharfen Luft. »Und zwar im hinteren Bereich Ihres Grund­stücks.«

»Harry, was hat das zu bedeuten?«

»Ich glaube, wir sehen hier die Spuren des Mörders. Warum er noch mal hierher wollte, weiß ich nicht, aber er hat die Hände und Beine auf Ihrem Friedhof abgeladen. Vielleicht hat er was vergessen.«

»Im Schnee würde er es nicht finden.«

»Ich weiß. Das ist es ja, was mich so beunruhigt.« Sie kniete sich hin und untersuchte die Spuren. »Ein Mann, denke ich, oder eine dicke Frau.« Sie trat neben die Spur und hob dann ihren Schneeschuh hoch. »Sehen Sie, wieviel tiefer seine Spur ist als meine?«

Blair kniete sich ebenfalls nieder. »Ja. Wenn wir den Spuren folgen, können wir vielleicht feststellen, wo er hergekommen ist.«

»Es wird bald dunkel.« Sie zeigte auf die Wolken, die sich an den Berggipfeln zusammenballten. »Und da kommt der nächste Schneesturm.«

»Gibt es hier hinten irgendeine alte Straße?«

»Ja, einen alten Forstweg von 1937. Das war das letzte Mal, daß hier Holz geschlagen wurde. Der Weg ist überwuchert, aber der Mensch, mit dem wir's zu tun haben, könnte ihn kennen. Er könnte mit einem Auto mit Allradantrieb von der Yellow Mountain Road heruntergefahren sein und es auf dem Forstweg versteckt haben. Weit würde er nicht kommen, aber weit genug, um den Wagen außer Sicht zu schaffen, denke ich.«

Wie ein blauer Finger kroch ein dunkler Schatten auf sie her­ab. Die Sonne sank. Das Wechselspiel von klarem Himmel und Wolken wich schwerem Gewölk.

Blair rieb sich die Nase, die langsam kalt wurde. »Was könnte jemand bloß hier hinten wollen?«

»Ich weiß nicht. Kommen Sie, kehren wir um.«

Bei gutem Wetter hätte der Rückweg zu Harrys Haus zwanzig Minuten gedauert, aber da sie durch den Schnee stapften, ka­men sie erst nach einer Stunde im Dunkeln bei Harrys Hinter­eingang an. Ihre Augen tränten, ihre Nasen liefen, aber ihre Körper waren durch die Bewegung warm geblieben. Harry machte frischen Kakao und Käsetoast. Blair nahm das Abend­essen dankbar an, dann ging er, um seine Kätzchen zu versor­gen.

Sobald er fort war, rief Harry Cynthia Cooper an.

Cynthia und Harry kannten sich gut genug, um keine Zeit zu verschwenden. Die Polizistin kam gleich zur Sache. »Sie mei­nen, jemand hat es auf Blair abgesehen?«

»Warum sollte sonst jemand bei ihm herumschnüffeln?«

»Ich weiß es nicht, Harry, aber an diesen Morden ist über­haupt nichts plausibel, abgesehen davon, daß Ben Dreck am Stecken hatte. Nur was für Dreck, das wissen wir noch nicht. Ich denke aber, daß Cabell es weiß. Wir werden ihn finden. Ben ist viel reicher gestorben, als er gelebt hat. Darin war er sehr diszipliniert.«

»Worin?«

»Möglichst wenig Geld auszugeben.«

»Oh, daran habe ich nie gedacht«, erwiderte Harry »Hören Sie, Coop, wäre es möglich, einen Mann in Blairs Scheune zu postieren? Jemanden bei ihm zu verstecken? Der Kerl, mit dem wir's zu tun haben, hat nicht vor, durch Blairs Einfahrt zu pol­tern. Der kommt vom Berghang angestürmt.«

»Harry, können Sie sich einen Grund denken, irgendeinen Grund, weswegen jemand Blair Bainbridge ermorden will?«

»Nein.«

Ein langgezogener Seufzer kam durchs Telefon. »Ich auch nicht. Und ich mag den Mann, aber wenn man jemanden mag, heißt das noch lange nicht, daß er nicht in krumme Touren ver­wickelt sein kann. Wir haben seine Eltern angerufen - reine Routine und weil es mich gewundert hat, warum er Weihnach­ten nicht nach Hause gefahren ist und sie auch nicht herge­kommen sind. Seine Mutter war sehr freundlich. Sein Vater war nicht grob, aber ich habe gemerkt, daß es da Spannungen gibt. Er ist mit dem, was sein Sohn tut, nicht einverstanden. Nennt ihn einen Stümper. Kein Wunder, daß Blair nicht nach Hause wollte. Jedenfalls war von ihnen nicht viel zu erfahren. Nichts, was uns weiterbringt.«

»Postieren Sie einen Mann bei ihm?«

»Ich geh selbst hin. Zufrieden?«

»Ja. Ich bin Ihnen wirklich sehr dankbar.«

»Ach was. Schlafen Sie gut heute nacht. Oh, haben Sie gehört, daß jemand Mim eine tote Ratte geschenkt hat?«

»Ja. Merkwürdige Geschichte.« »Mir fallen ungefähr hundert Leute ein, die das gerne tun würden.«

»Aber würden Sie's tatsächlich tun?«

»Nein.«

»Sind Sie nervös? Es ist noch nicht zu Ende. Das spür ich in den Knochen.«

Coops Schweigen sagte Harry, was sie wissen mußte. Cynthia sagte schließlich: »So oder so, wir werden den Fall lösen. Pas­sen Sie auf sich auf.«

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