Die hauchdünne Eisdecke knackste, obwohl Mrs. Murphy vorsichtig auftrat. In der Nacht hatte es endlich zu regnen aufgehört, und sie war zeitig aufgestanden, um Feldmäuse zu jagen. Tucker, die sich in Harrys Bett auf die Seite gewälzt hatte, lag noch in tiefem Schlaf.
Obwohl das Unterfell der Katze schon dichter wurde, fröstelte sie in dem steifen Wind. Noch ein Monat, und ihr Fell würde sie besser gegen die Kälte schützen. Die Aussicht, in vollem Tempo hinter einem Kaninchen oder einer Maus herzuwetzen, begeisterte Mrs. Murphy. Was machte da schon das bißchen Kälte? Wenn sich eine Maus in ihr Loch verkroch, war die Jagd zu Ende, aber die Kaninchen rannten häufig quer durch Wiesen und Wälder. Gelegentlich erwischte sie ein Kaninchen, öfter aber eine Maus. Sie schlich sich seitlich heran und packte sie an der Kehle, wenn sie konnte. Wenn nicht, ließ sie sie fallen und drehte sie herum. Mrs. Murphy erledigte ihre Beute blitzschnell; sie hielt nichts von der Quälerei, das Opfer zu beuteln, bis es zerfetzt und blöde war vom vielen Herumwerfen. Ein blitzschnell gebrochenes Genick, und im Bruchteil einer Sekunde war es vorbei. Meistens brachte sie die Beute zu Harry.
Durch den Frost hielten sich die Gerüche. Trotzdem war es kein guter Tag zum Jagen. Einmal knurrte sie, als sie eine Rotfüchsin witterte Mrs. Murphy und Füchse wetteiferten um dasselbe Futter, deswegen konnte Mrs. Murphy ihre Rivalin nicht leiden. Außerdem war vor Jahren, als sie noch ein kleines Kätzchen war, ein Fuchs in den Hühnerstall eingedrungen und hatte sämtliche Hühner getötet. Die Federn waren umhergewirbelt wie Schneeflocken, und das Bild der traurigen Leichen von zehn Hennen und einem Hahn war ihr im Gedächtnis geblieben. Sie hätte den Räuber nicht abwehren können, weil sie noch so klein war, aber Harrys Entsetzen über den Anblick war Mrs. Murphy an die Nieren gegangen. Danach hielt Harry keine Hühner mehr, was bedauerlich war, denn als kleines Kätzchen hatte Mrs. Murphy es geliebt, sich flach ins Gras zu legen und die gelben Küken zu beobachten, die piepsend umherliefen.
Wenn Tucker sich nicht so anstellen würde, könnte Harry sich einen großen Hund anschaffen, einen, der im Freien lebte, um Füchse und die verteufelten Waschbären zu verjagen. Ein junger Hund aus dem Tierheim, einer mit großen Pfoten, der hier aufwachsen würde, das wäre genau das richtige. Aber wann immer Mrs. Murphy das nur erwähnte, bekam Tucker einen Tobsuchtsanfall.
»Würdest du eine zweite Katze dulden?« kreischte sie dann.
»Wenn wir einen Mäuseüberschuß hätten, würde mir wohl nichts anderes übrigbleiben«, gab Mrs. Murphy gewöhnlich zur Antwort.
Tucker behauptete, mit einem Fuchs könnte sie wohl fertig werden. Das war eine glatte Lüge. Sie konnte es nicht. Wenn ein Fuchs sich verkroch, konnte sie ihn womöglich ausgraben, aber was würde sie dann mit ihm machen? Tucker war nicht gut im Töten. Corgis waren tapfere Hunde - Mrs. Murphy hatte dafür genügend Beweise gesehen -, aber zumindest Tucker war kein Jägertyp. Corgis, zum Viehhüten gezüchtet, waren kurzbeinig, so daß sie sich, wenn eine Kuh austrat, schnell wegducken konnten. Zäh, behende und gewöhnt an Tiere, die viel größer waren als sie selbst, konnten Corgis mit fast allen großen Haustieren arbeiten. Aber der Jagdtrieb lag ihnen nicht im Blut, weswegen Mrs. Murphy gewöhnlich allein auf Beutezug ging.
Ein tiefes, sanftes Miauen in der Nähe erregte Mrs. Murphys Aufmerksamkeit. Sie verkrampfte und entspannte sich dann, als ihr ungeheuer gutaussehender Exmann aus dem Wald geschlichen kam. Paddy trug wie immer seinen schwarzen Frack, seine weiße Hemdbrust war makellos, aber die weißen Gamaschen waren schmutzig. Seine herrlichen Augen funkelten, und in unverhohlener Freude darüber, seine Exfrau zu sehen, machte er einen Luftsprung.
»Auf der Jagd, Süße? Komm, wir tun uns zusammen.«
»Danke, Paddy, ich kann das besser allein.«
Er setzte sich und schlug mit dem Schwanz.»Das sagst du immer. Weißt du, Murph, du bleibst nicht ewig jung und schön.«
»Du auch nicht«, antwortete sie schnippisch.»Treibst du dich noch mit der silbergrauen Schlampe herum?«
»Ach die! Die hat mich genervt.« Paddy sprach von einer seiner zahlreichen Liebschaften. Bei dieser handelte es sich um eine silbergraue Langhaarkatze von außerordentlicher Schönheit.»Ich kann es nicht ausstehen, wenn sie jeden Augenblick wissen wollen, wo du gewesen bist und was du denkst. Ich mach jetzt mal Pause.« Seine rosa Zunge unterstrich die Wirkung seiner weißen Reißzähne.»Du hast das nie getan.«
»Ich hatte selbst zuviel zu tun, um mich auch noch darum zu scheren, was du gemacht hast.« Sie wechselte das Thema. »Hast du was erwischt?«
»Die Jagd läuft nicht gut. Lassen wir sie noch ein bißchen hungriger werden, dann fangen wir uns ein paar. Die Feldmäuse sind zur Zeit dick und zufrieden.«
»Wo kommst du jetzt her?«
»Yellow Mountain. Ich bin mitten in der Nacht weg von zu Hause. Ich hab ja das Türchen - ich verstehe nicht, warum Harry dir nicht so eins einbaut. Also, eigentlich wollte ich zum ersten Eisenbahntunnel, aber der war mir zu weit, und die Jagdaussichten waren sowieso trübe, da bin ich lieber den Berg raufgezockelt. «
»Und da war auch nicht viel zu holen?«
»Nein«, erwiderte er.
»Paddy, hast du von den Leichenteilen auf dem Friedhof gehört?«
»Na und, was soll's? Die Menschen bringen sich gegenseitig um, und dann tun sie so, als ob sie es schrecklich fänden. Wenn es so schrecklich ist, warum tun Sie's dann so oft?«
»Keine Ahnung.«
»Und überleg doch mal, Murphy. Wenn der neue Mensch zu Hause ist, warum schleppt der Mörder dann die Leichenteile seine Zufahrt rauf? Zu riskant.«
»Vielleicht wußte er nicht, daß der Mann eingezogen war.«
»In Crozet? Wenn du niest, sagt dein Nachbar >Gesundheit<. Ich glaube, er oder sie hat irgendwo im Umkreis von etwa einem Kilometer geparkt - zwei Beine und zwei Hände sind nicht so schwer zu tragen. Ist von der Yellow Mountain Road gekommen, in den alten Forstweg eingebogen und durch den Wald und über die Weide zum Friedhof gegangen. Ihr hättet die Person von eurem Grundstück aus nicht sehen können, außer von der Westweide. Ihr seid aber meistens bei Sonnenuntergang nicht mehr auf der Westweide, weil die Pferde schon in ihre Boxen gebracht wurden. Dieser Neue, der war ein Risiko, aber der Friedhof ist weit genug vom Haus entfernt, so daß er dort zwar jemanden hätte sehen können, aber ich bezweifle, daß er etwas hören konnte. Natürlich kann es auch sein, daß es der Neue selber war.«
Mrs. Murphy klopfte auf ein totes Blatt.»Da ist was dran, Paddy.«
»Du mußt wissen, Menschen töten nur aus zwei Gründen.«
»Unddie wären?«
»Liebe oder Geld.« Seine weißen Schnurrhaare zitterten vor Übermut. Beide Gründe schienen Paddy absurd.
»Drogen.«
»Das hängt wiederum mit Geld zusammen«, klärte Paddy sie auf.»Egal, worum 's bei diesem Fall geht, am Ende läuft es auf Liebe oder Geld hinaus. Harry ist nicht in Gefahr, mit ihr hat es nichts zu tun. Du machst dir immer so viele Sorgen um Harry. Dabei ist sie doch ziemlich robust.«
»Du hast recht. Ich wünschte bloß, ihre Sinne wären schärfer. Ihr entgeht zuviel. Manchmal dauert es zehn oder zwanzig Sekunden, bis sie etwas hört, und auch dann kann sie das Knirschen der verschiedenen Reifen nicht unterscheiden. Aber die unterschiedlichen Motorengeräusche erkennt sie. Sie hat ziemlich gute Augen, aber stell dir vor, sie kann aus fünfhundert Meter Entfernung keine Feldmaus erkennen. Auch wenn ihre Augen bei Tag besser sind, sie kriegt einfach die Bewegung nicht mit. Hören ist so leicht, man muß einfach lauschen und die Augen folgen lassen. Nachts sieht sie natürlich nicht so gut, und kein Mensch kann auch nur die kleinste Kleinigkeit wittern. Ich weiß einfach nicht, wie sie mit so schwachen Sinnen funktionieren kann, und das macht mir Sorgen.«
»Wenn sich ein Tiger an Harry heranpirschen würde, dann würde ich mir Sorgen machen. Da die Sinne bei einem Menschen so schlecht sind wie beim anderen, sind sie alle gleich. Und da sie einander anscheinend selbst die ärgsten Feinde sind, sind sie bestens gerüstet, sich gegenseitig zu bekämpfen. Ansonsten hat Harry dich und Tucker, und ihr könnt ihr auf die Sprünge helfen, wenn sie zuhört.«
»Auf mich hört sie - meistens. Sie kann aber auch sehr stur sein. Selektives Hörvermögen.«
»So sind sie alle.« Paddy nickte ernsthaft.»Hey, wollen wir über die vordere Weide rennen, auf den Walnußbaum am Bach klettern, den großen Ast entlanglaufen und auf der anderen Seite runterspringen? Wir können im Nu an eurer Hintertür sein. Wetten, ich bin erster.«
»Also los!«
Sie rasten wie die Verrückten und kamen an die hintere Verandatür. Harry, die Kaffeetasse in der Hand und noch verschlafen, machte auf. Die beiden stürmten in die Küche.
»Auf Katzentour.« Lächelnd kraulte sie Mrs. Murphys Kopf. Und Paddys auch.