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Lange Schatten fielen auf die Gräber von Grace und Cliff Mi­nor. Die Sonne ging unter, ein goldenes Orakel, dessen Flam­menzungen von den Blue Ridge Mountains emporleckten. Scharlachrot stiegen die Streifen zum Firmament, dann wech­selten sie die Farbe, wurden golden, goldrosa, lavendelblau, purpurn und schließlich preußischblau, der erste Kuß der Nacht.

Harry hatte sich ihren Schal um den Hals gewickelt und be­trachtete das letzte Spiel der Sonne an diesem Tag. Mrs. Mur­phy und Tucker saßen zu ihren Füßen. Die schmerzende Melan­cholie des Sonnenuntergangs durchstach sie wie mit Nadeln. Sie betrauerte den Verlust der Sonne; sie wollte baden in Fluten von Licht. Immer, wenn es dämmerte, ließ sie ihre Arbeit für einen Augenblick ruhen, um sich zu versichern, daß die Sonne morgen wiederkehren würde wie neugeboren. Und heute abend regte sich dieselbe Hoffnung, doch mit größerer Anstrengung. Die Zukunft ist stets blind. Die Sonne würde sich erheben, aber würde auch sie, Harry, sich erheben?

Kein Mensch glaubt, daß er sterben wird, weder ihre Mutter noch ihr Vater hatten es geglaubt. Es ist wie beim Fangenspiel mit Abschlagen - der Tod »ist«, er jagt umher, berührt Men­schen, und sie fallen um. Bestimmt würde sie aufstehen, wenn es tagte, ein neuer Tag würde sich entfalten wie eine aufblühen­de Rose. Aber hatte Ben Seifert das nicht auch geglaubt? Den Verlust eines Elternteils, schmerzlich und zutiefst erschütternd, empfand Harry anders als den Verlust eines Gleichaltrigen. Benjamin Seifert hatte ein Jahr vor Harry an der Crozet High School den Abschluß gemacht.

Diesmal hatte der Tod jemanden geholt, der ihr nahestand - zumindest was das Alter betraf.

Ein schreckliches Gefühl von Verlassenheit überkam Harry. Unter diesen Grabsteinen lagen die zwei Menschen, die ihr das Leben geschenkt hatten. Sie erinnerte sich an ihre Belehrungen, sie erinnerte sich an ihre Stimmen, und sie erinnerte sich an ihr Lachen. Wer würde sich an sie erinnern, wenn Harry nicht mehr da wäre, und wer würde die Erinnerung an ihr eigenes Leben bewahren? Jahrhundert um Jahrhundert torkelte die Menschheit zwei Schritte vorwärts und einen zurück, aber immer gab es gute Menschen, komische Menschen, starke Menschen, und die Erinnerung an sie wurde mit den Jahren ausgelöscht. Königen und Königinnen wurde eine Erwähnung in den Chroniken zu­teil, aber was war mit den Pferdetrainern, den Bauern, den Nä­herinnen? Und mit den Posthalterinnen und Postkutschenfah­rern? Wer bewahrte die Erinnerung an ihr Leben?

Einsamkeit übermannte Harry. Wenn sie gekonnt hätte, sie hätte jedes Leben umarmt und hochgehalten. Wie die Dinge lagen, hatte sie mit ihrem eigenen Leben zu kämpfen.

Neuerdings fürchtete Harry die kommenden Jahre. Früher war die Zeit ihre Verbündete gewesen. Jetzt war sie sich da nicht mehr so sicher. Wenn der Tod einen jeden Moment krallen kann, dann sollte man das Leben lieber voll auskosten. Das Schlimmste wäre, ins Grab zu gehen, ohne gelebt zu haben.

Die Fingerspitzen kribbelten ihr von der schneidenden Nacht­luft, und ihre Zehen schmerzten. Sie pfiff nach Tucker und Mrs. Murphy und machte sich auf den Weg ins Haus.

Harry hatte kein introvertiertes, nachdenkliches Naturell. Sie liebte ihre Arbeit. Sie liebte es, die Früchte ihrer Arbeit zu se­hen. Tiefschürfende Gedanken und philosophische Betrachtun­gen überließ sie anderen. Aber nach der heutigen Erschütterung war Harry in sich gekehrt, und sie war durchströmt vom Leben in seiner ganzen Traurigkeit und Harmonie.

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