Briefe paßten in die Schließfächer, aber Zeitschriften mußten geknickt werden. Keiner in Crozet bekam so viele Zeitschriften geschickt wie Ned Tucker. Noch erstaunlicher war, daß er sie auch las. Susan sagte, es sei, als lebe man mit einem Lexikon zusammen.
Die Morgentemperatur lag bei vier Grad Celsius, deswegen marschierten Harry, Mrs. Murphy und Tucker in flottem Tempo zur Arbeit. Den blauen Transporter nahm Harry nur, wenn das Wetter saumäßig war oder sie Besorgungen machen mußte. Da sie ihre Lebensmitteleinkäufe gestern getätigt hatte, ließ sie die blaue Kiste vor der Scheune stehen.
Harry genoß die Stille auf dem Weg zur Arbeit und die frühe Stunde, die sie im Postamt allein war, nachdem Rob Collier die Post abgeladen hatte. Der beständige Rhythmus ihrer Tätigkeiten beruhigte sie, es war wie eine Arbeitsliturgie. In der Wiederholung lag Trost.
Die Hintertür wurde geöffnet und geschlossen. Mrs. Murphy, Tucker und sogar Harry erkannten am Schritt, daß es Mrs. Hogendobber war.
»Harry.«
»Mrs. H.«
»Ich habe Sie auf dem Krebsball vermißt.«
»Mich hat keiner eingeladen.«
»Sie hätten solo hingehen können. Ich mache das manchmal.«
»Das konnte ich mir nicht leisten, bei dem Eintrittspreis von 150 Dollar.«
»Das hatte ich ganz vergessen. Larry Johnson hat den Eintritt für mich bezahlt. Er ist ein ganz guter Tänzer.«
»Wer war alles da?«
»Susan und Ned. Sie hatte ihr pfirsichfarbenes Organdykleid an. Es steht ihr sehr gut. Herbie und Carol. Sie hatte das gletscherblaue Kleid mit der Straußenfederrüsche an. Sie hätten Mim sehen sollen. Ihre Robe sah aus, als hätte Bob Mackie sie fürDenver Clan entworfen.«
»Im Ernst?« »So wahr ich hier stehe. Das Kleid muß soviel gekostet haben wie ein Toyota. In ganz Los Angeles ist bestimmt keine einzige Glasperle mehr zu haben. Wenn man Mim damit in ihren See werfen würde, sie würde sämtliche Fische anlocken.«
Harry kicherte. »Vielleicht käme sie mit Fischen besser zurecht als mit Menschen.«
»Weiter. Ich muß nachdenken Ned und Susan hatte ich schon. Fair war nicht da. Little Marilyn und Fitz auch nicht - sie machen wohl mal Pause vom Smoking-und-Abendkleid-Zirkus. Die meisten Leute vom Keswick- und vom Farmington- Jagdclub haben sich sehen lassen und auch die Clique vom Country Club. Das war's.« Mr. Hogendobber griff sich eine Handvoll Post und half beim Sortieren.
Mrs. Murphy saß in einem Postbehälter. Sie hatte so lange daraufgewartet, angeschubst zu werden, daß sie darüber eingeschlafen war. Mrs. Hogendobbers Ankunft hatte sie geweckt.
»Was hatten Sie an?«
»Sie kennen doch das smaragdgrüne Satinkleid, das ich Weihnachten immer anziehe?«
»Ach, ja.«
»Ich habe es in Schwarz mit goldenem Besatz nach nähen lassen. In Schwarz sehe ich nicht so fett aus.«
»Sie sind doch nicht fett«, versicherte ihr Harry. Das stimmte. Fett war sie nicht, aber sie war, nun ja, ausladend.
»Von wegen. Wenn ich noch mehr esse, sehe ich bald aus wie eine Kuh.«
»Wieso haben Sie mir nicht gesagt, daß Blair Boom Boom auf den Ball begleitet hat?«
»Wenn Sie's schon wissen, warum soll ich es Ihnen erzählen?« Mrs. Hogendobber stellte sich zu gern hinter die Postfächer und warf die Briefe ein. »Ja, es stimmt. Eigentlich glaube ich, daß sie ihn gefragt hat, denn die Eintrittskarten waren auf ihren Namen ausgestellt. So ein Flittchen.«
»Hat er sich amüsiert?«
»Er sah sehr gut aus in seinem Smoking, und sein neuer Schnurrbart gefällt mir. Erinnert mich an Ronald Colman. Boom Boom hat ihn zu allen Leuten hingeschleppt, um ihn vorzustellen. Sie hatte ihr Partygesicht aufgesetzt. Ich denke schon, daß er sich amüsiert hat.«
»Keine grauenhafte Krankheit?«
»Nein. Sie hat so viel getanzt, daß sie vermutlich gar nicht dazu kam, ihm von den Leiden ihrer Jugend zu erzählen, und davon, wie schrecklich ihre Eltern waren.« Miranda verzog keine Miene, während sie dies sagte, aber ihre Augen blitzten.
»Meine Güte, da kann er sich auf was gefaßt machen:Leben und Wirken der Boom Boom Craycroft<.«
»Machen Sie sich wegen der mal keine Sorgen.«
»Tu ich doch gar nicht.«
»Harry, ich kenne Sie seit Ihrer Geburt. Lügen Sie mich nicht an. Ich erinnere mich noch an den Tag, als Sie darauf bestanden, Harry genannt zu werden statt Mary. Komisch, daß Sie dann später Fair Haristeen geheiratet haben.«
»Sie erinnern sich an alles.«
»Stimmt. Sie waren vier Jahre alt, und Sie liebten Ihre kleine Katze - warten Sie mal, ja, Skippy hieß sie. Sie wollten behaart sein wie Skippy, deswegen wollten Sie Hairy genannt werden, und daraus ist dann Harry geworden. Sie dachten, wenn man Sie so riefe, würde Ihnen ein Fell wachsen und Sie würden sich in ein Kätzchen verwandeln. Der Name ist Ihnen geblieben.«
»Skippy war eine herrliche Katze.«
Das schreckte Mrs. Murphy aus ihrem Halbschlaf auf.»Nicht so herrlich wie Murphy.«
»Ha!« Tucker lachte.
»Sei still, Tucker. Du hattest auch einen Vorgänger. Einen Schäferhund. Sein Foto steht zu Hause auf dem Schreibtisch, daß du's nur weißt.«
»Na wenn schon. «
»Spielstunde ! « Harry hörte das Miauen und dachte, Mrs. Murphy wollte im Postbehälter angeschubst werden. Obwohl die Katze nichts davon gesagt hatte, wälzte sie sich munter in dem mit Sackleinwand ausgekleideten Karren.
Mrs. Hogendobber schloß den Haupteingang auf. Kaum hatte sie den Schlüssel herumgedreht, als Blair erschien. Er trug eine dicke rotkarierte Jacke über einem Flanellhemd. Er putzte sich die Stiefel am Fußkratzer ab.
»Guten Morgen, Mrs. Hogendobber. Den Tanz mit Ihnen gestern abend habe ich wirklich genossen. Sie schweben ja förmlich übers Parkett.«
Mrs. Hogendobber wurde rot. »Wie lieb, daß Sie das sagen.«
Blair schritt geradewegs zum Schalter. »Harry.«
»Keine Päckchen heute.«
»Ich will keine Päckchen. Ich will Ihre Aufmerksamkeit.«
Die von Mrs. Hogendobber bekam er noch dazu.
»Okay.« Harry beugte sich über den Schalter. »Ich bin ganz Ohr.«
»Ich habe gehört, daß an den Wochenenden Versteigerungen von Möbeln und Antiquitäten stattfinden. Können Sie mir sagen, welche gut sind, und wollen Sie mit mir kommen? Ich hab's allmählich satt, auf dem Fußboden zu sitzen.«
»Natürlich.« Harry war sehr hilfsbereit.
Mrs. Murphy murrte und hüpfte aus dem Postbehälter, der daraufhin klappernd über den Boden rollte. Sie sprang auf den Schalter.
»Und dann würde ich mich freuen, wenn Sie mich zu einem Abendessen begleiten würden, das Little Marilyn morgen für Stafford und Brenda gibt. Ich weiß, es ist sehr kurzfristig, aber sie hat mich auch erst heute morgen angerufen.«
»Was zieht man dazu an?« Harry traute ihren Ohren nicht.
»Ich ziehe ein gelbes Hemd an, einen blaugrünen Schlips und ein braunes Fischgrat-Sakko. Hilft Ihnen das weiter?«
»Ja.« Mrs. Hogendobber antwortete ihm, weil sie wußte, daß Harry in solchen Dingen hilflos war.
»Ich habe Sie noch nie in Schale gesehen, Harry.« Blair lächelte. »Ich hole Sie morgen abend um sieben ab.« Er machte eine Pause. »Ich habe Sie gestern abend auf dem Krebsball vermißt.«
Harry wollte gerade sagen, daß sie nicht eingeladen war, aber Mrs. Hogendobber sprang in die Bresche. »Harry hatte eine andere Verabredung. Sie hat ja immer so viel vor.«
»Ach. Ich hätte gerne mit Ihnen getanzt.« Er schob seine Hände in die Taschen. »Diese Craycroft ist eine richtige Quasselstrippe. Sie hat pausenlos von sich geredet. Ich weiß, es ist unhöflich von mir, sie zu kritisieren, wo sie sich doch solche Mühe gegeben hat, mich mit den Leuten bekannt zu machen, aber du lieber Himmel« - er stieß einen langen Seufzer aus -, »die ist vielleicht gesprächig!«
Harry und Mrs. Hogendobber bemühten sich beide, ihre Freude über diese Bemerkung zu verbergen.
»Boom Boom weiß, daß du reich bist«, meldete sich Mrs. Murphy zu Wort.»Außerdem bist du alleinstehend, siehst gut aus, und darüber hinaus ist sie sich nicht zu schade, Fair mit dir auf die Palme zu bringen.«
»Sie hat heute morgen eine Menge zu erzählen, was?« Blair tätschelte Mrs. Murphys Kopf.
»Worauf du dich verlassen kannst, Freundchen. Halt dich an mich, ich klär dich über alle auf.«
Blair lachte. »Hör mal, Murphy - ich meine Mrs. Murphy, wie unhöflich von mir -, du hast mir versprochen, mir bei der Suche nach einer Freundin zu helfen, die so ist wie du.«
»Ich glaube, ich muß kotzen«, murmelte Tucker auf dem Fußboden.
Blair nahm seine Post, ging zur Tür und blieb stehen. »Harry?«
»Ja?«
Er hob fragend die Hände. Mrs. Hogendobber gab Harry hinter dem Schalter einen Tritt. Blair konnte es nicht sehen.
»O ja, ich komme gern mit.«
»Morgen um sieben.« Er ging pfeifend hinaus.
»Das hat weh getan. Morgen hab ich ein geschwollenes Fußgelenk.«
»Sie haben einfach keinen Verstand, wenn es um Männer geht!« erregte sich Miranda.
»Was wohl in ihn gefahren ist?« Harrys Blick folgte ihm zu seinem Kombi.
»Man soll nicht nach den Gründen fragen. Man soll nur ja und Amen sagen.«
Just in diesem Moment kam Susan zum Hintereingang hereingeschlendert.»>Sechshundert Mann ritten ins Tal des Tode<«, beendete sie das Zitat.
»Blair Bainbridge hat sie gerade gebeten, ihn morgen abend zu einem Essen bei den Hamiltons zu begleiten, und er will mit ihr zu ein paar Versteigerungen gehen.«
»Juhuu!« Susan klatschte in die Hände. »Gut gemacht, Mädchen.«
»Ich hab gar nichts gemacht.«
»Susan, helfen Sie mir. Sie hätte ihm fast gesagt, daß sie keine Verabredung für den Krebsball hatte. Sie wird ihre Jeans für das Essen aufbügeln und glauben, sie ist gut angezogen. Wir müssen etwas unternehmen.«
Miranda und Susan sahen sich an, dann sahen sie beide Harry an. Ehe sie sich's versah, hatten sie je einen Arm von ihr gepackt, und sie wurde zum Hintereingang hinausbugsiert und in Susans Wagen verfrachtet.
»He, he, ich kann die Arbeit nicht im Stich lassen.«
»Ich halte die Stellung, meine Liebe.« Miranda schlug die Tür zu, und Susan ließ den Motor an.