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»Die Baisertörtchen.« Mit einem triumphierenden Nicken wies Little Marilyn Tiffany an, das Dessert aufzutragen.

Little Marilyn pflegte die Nouvelle Cuisine. Big Marilyn folg­te ihrem Beispiel. Es war das erste Mal, daß die Mutter die Tochter nachahmte. Jim Sanburne klagte, Nouvelle Cuisine sei eine raffinierte Methode, den Menschen weniger zu essen zu geben. Vogelfutter war seine Bezeichnung dafür. Glücklicher­weise waren Big Marilyn und Jim heute nicht zu dem kleinen Abendessen eingeladen. Wohl aber Cabell Hall. Fitz schmei­chelte dem bedeutenden Banker unaufhörlich, was er damit rechtfertigte, daß Cabell ihn vor drei Jahren mit Marilyn zu­sammengebracht hatte Little Marilyns unleidliche Natur wurde durch die Abwesenheit ihrer Mutter etwas gemildert, und so überschüttete auch sie Cabell und Taxi mit ihrer Aufmerksam­keit.

»Taxi, erzählen Sie Blair, wie Sie zu Ihrem Spitznamen ge­kommen sind.« Little Marilyn strahlte die ältere Frau an.

»Ach was. Das will er bestimmt nicht hören.« Taxi lächelte.

»Doch, ich würde es gerne hören«, ermunterte Blair sie, wäh­rend Cabby seine Frau, mit der er seit fast drei Jahrzehnten ver­heiratet war, zärtlich ansah.

»Cabell wird Cabby genannt. Heißt ja auch Taxi. Schön und gut, aber als die Kinder klein waren, habe ich sie zur Schule kutschiert. Ich habe sie von der Schule abgeholt. Ich habe sie zum Arzt gefahren, zum Zahnarzt, zu den Pfadfindern, zur Tanzstunde, Klavierstunde und Tennisstunde. Eines Tages kam ich hundemüde und mies gelaunt nach Hause. Mein Mann, der selbst gerade von einem harten Arbeitstag nach Hause gekom­men war, wollte wissen, wie ich denn von meinen hausfrauli­chen Pflichten so geschlaucht sein konnte. Ich habe ihm laut und deutlich erklärt, was ich den ganzen Tag gemacht hatte, und er sagte, ich solle doch gleich einen öffentlichen Taxidienst aufziehen, wenn ich schon für meine eigenen Kinder einen be­triebe. Der Name ist mir geblieben. Er hat mehr Sex als der Name Florence.«

»Mein Herz, du wärst auch sexy, wenn du Amanda heißen würdest«, schmeichelte ihr Cabby.

»Was haben Sie gegen den Namen Amanda?« fragte Brenda Sanburne.

»Miss Amanda Westover war die gefürchtete Geschichtslehre­rin bei uns im Internat«, klärte ihr Mann sie auf. »Sie hat Cabell unterrichtet, mich, womöglich sogar Großvater. Ein richtiges Ekel.« Stafford Sanburne und Cabell Hall waren beide Choate- Absolventen.

»Nicht so ein Ekel wie mein Vorgänger in der Bank.« Cabell blinzelte.

»Artie Schubert.« Little Marilyn versuchte, sich auf ein Ge­sicht zu besinnen. »War das nicht Artie Schubert?«

»Sie waren noch zu klein, um sich zu erinnern.« Taxi tätschel­te Marilyns beringte Hand. »Wie ich hörte, hat er immer, wenn jemand ein Darlehen wollte, ein schrecklich unangenehmes Theater gemacht. Cabby und ich waren damals noch in Manhat­tan, und dann wurde ihm von einem Vorstandsmitglied der Al­lied National die Leitung der Bank angeboten. Richmond kam uns vor wie das Ende der Welt.«

Cabby unterbrach sie: »Ganz so schlimm war es nicht.«

»Und nachher hat uns Mittelvirginia so gut gefallen, daß wir hier ein Haus gekauft haben, und Cabby ist jeden Tag zur Ar­beit gependelt.«

»Das tu ich immer noch. Montags, mittwochs und freitags. Dienstags und donnerstags bin ich in der Zweigstelle im Ein­kaufszentrum von Charlottesville. Wissen Sie, daß wir mit un­serer Wachstumsrate in den letzten zehn Jahren jede andere Bank in Virginia übertroffen haben - prozentual natürlich. Wir sind immer noch eine kleine Bank, verglichen mit der Central Fidelity, Crestar oder Nations Bank.«

»Liebling, dies ist eine private Einladung, keine Börsenmak­lerversammlung.« Taxi lachte. »Man merkt meinem Mann an, wie sehr er seine Arbeit liebt, nicht wahr?«

Während die Gäste Taxi zustimmten und sich überlegten, wie die Menschen zu ihrem Beruf finden, fragte Fitz-Gilbert Blair: »Werden Sie zur Eröffnung der Jagdsaison kommen?«

Blair gab die Frage an Harry weiter: »Werde ich zur Eröff­nung der Jagdsaison kommen?«

Stafford beugte sich zu Blair hinüber. »Wenn sie Sie nicht mitnimmt, tu ich's. Harry wird wohl morgen reiten.«

»Wollen Sie mir nicht morgen früh bei den Vorbereitungen helfen?« fragte Harry mit unschuldiger Stimme. »Anschließend können Sie dann dort alle Leute treffen.«

Alle anderen mußten schallend lachen, sogar Brenda Sanbur­ne, die sich genügend auskannte, um zu wissen, daß die Vorbe­reitungen für eine Fuchsjagd eine nervenaufreibende Angele­genheit sein können.

»Viel Vergnügen, Harry.« Fitz-Gilbert prostete ihr zu.

»Jetzt werde ich aber neugierig. Um wieviel Uhr muß ich bei Ihrer Scheune sein?«

Harry drehte ihre Gabel zwischen den Händen. »Halb acht.«

»Das ist nicht so schlimm«, fand Blair.

»Wenn sie heute abend genug trinken, dann schon«, prophe­zeite Stafford.

»Sprich mir nicht von so was.« Fitz-Gilbert faßte sich an die Stirn.

»Ich muß schon sagen, du warst gestern abend ganz schön be­säuselt. Heute morgen bin ich neben einem Häufchen Elend aufgewacht.« Little Marilyn machte einen Schmollmund.

»Blair, wußten Sie, daß es in Virginia mehr Fuchsjagd-Clubs gibt als in jedem anderen Staat in Amerika? Neunzehn insge­samt, davon zwei in Albemarle County«, klärte Cabell ihn auf. »Keswick im Osten und Farmington im Westen.«

»Nein, das wußte ich nicht. Ich nehme an, es gibt jede Menge Füchse. Worin unterscheiden sich denn die zwei hiesigen Clubs? Warum gibt es nicht einen einzigen großen Club?«

Harry antwortete mit einem hinterhältigen Lächeln: »Ja, wis­sen Sie, Blair, im Keswick-Jagdclub ist altes, uraltes Virginia­Geld, das in alten, uralten Virginia-Häusern beheimatet ist. Im Farmington-Jagdclub ist altes, uraltes Virginia-Geld, das verteilt wurde.«

Dies rief einen Aufschrei und brüllendes Gelächter hervor. Stafford erstickte fast an seinem Nachtisch.

Als sie sich von der bissigen Bemerkung erholt hatten, unter­hielt sich die kleine Gruppe über New York, den Untergang des Theaters, ein Thema, das eine lebhafte Diskussion auslöste, da Blair nicht glaubte, daß es mit dem Theater bergab ging, wäh­rend Brenda davon überzeugt war. Blair gab ein paar komische Geschichten aus der Model-Szene zum besten, die durch sein Nachahmungstalent überaus lebendig wurden. Alle meinten, daß es mit der Börse trübe aussehe und sie auf bessere Zeiten warten sollten.

Nach dem Dessert setzten sich die Damen in die Fensternische im Wohnzimmer. Brenda mochte Harry gern. Viele Weiße wa­ren liebenswert, aber man konnte ihnen nicht richtig trauen. Obwohl sie Harry nur flüchtig kannte, hatte Brenda das Gefühl, ihr trauen zu können. Die Posthalterin war sozusagen farben­blind. Harry war aufrichtig und verstellte sich nicht, und das wußte Brenda zu schätzen. Wenn eine weiße Person sagte: »Ich persönlich habe keine Vorurteile«, dann wußte man, daß es kritisch wurde.

Die Herren zogen sich zu Kognak und kubanischen Zigarren zurück. Fitz-Gilbert war stolz auf seine Schmuggelware und wollte seine Quelle nicht preisgeben. Wer einmal eine Monte­cristo geraucht hatte, für den gab es kein Zurück.

»Eines Tages wirst du die Katze aus dem Sack lassen.« Staf­ford hielt sich die Zigarre unter die Nase und ließ sich von dem betörenden Duft des Tabaks erregen.

Cabell lachte. »Eher friert die Hölle zu. Fitz kann Geheimnis­se für sich behalten.«

»Der einzige Grund, weswegen ihr Jungs nett zu mir seid, sind meine Zigarren.«

»Und die Tatsache, daß du in Andover der erste Ruderer warst.« Stafford paffte drauflos.

»Sie sehen eher nach einem Ringer aus als nach einem Rude­rer.« Auch Blair ergab sich der Trägheit, die die Zigarre erzeug­te.

»Als Kind war ich dünn wie eine Bohnenstange.« Fitz klopfte sich auf sein Bäuchlein. »Damit ist es vorbei.«

»Kannten Sie in Andover Binky Colfax? Mein Jahrgang in Yale.« »Binky Colfax. Er hat die Abschiedsrede gehalten.« Fitz­Gilbert blätterte in seinem Jahrbuch und reichte es Blair.

»Gott, nur gut, daß Binky Akademiker ist.« Blair lachte. »Er ist nämlich jetzt in der Verwaltung. Staatssekretär im Außenmi­nisterium. Wenn ich daran denke, was für ein Schwächling der Kerl war, wird mir angst und bange um unsere Regierung. Ich meine, wenn man sich vorstellt, was für Leute wir gekannt ha­ben in Yale, Harvard, Princeton und.«

»Stanford«, warf Stafford ein.

»Muß ich?« fragte Blair.

»Äh ja.« Stafford nickte.

». Stanford. Die Trottel sind in die Regierung gegangen oder in die Forschung. In zehn Jahren werden sie die Bürokraten im Dienste derer sein, die die Wahlen gewinnen.« Blair schüttelte den Kopf.

»Glauben Sie, daß jede Generation dasselbe durchmacht? Ei­nes Tages nimmt man die Zeitung in die Hand oder guckt sich die Sechsuhrnachrichten an, und siehe da, wieder eins von die­sen Würstchen.« Fitz-Gilbert lachte.

»Mein Vater - er war Yale Jahrgang 49 - hat gesagt, das hätte ihm immer eine Heidenangst gemacht. Dann hat er sich dran gewöhnt«, sagte Blair.

Cabby meinte: »Alle wursteln sich durch. Wie muß ich mir denn vorkommen? Die Jungs von meinem Jahrgang in Dart­mouth gehen nach und nach in Pension. Pension? Und ich weiß noch genau, damals hatten wir nichts anderes im Sinn als.«

Er brach ab, weil seine Gastgeberin den Kopf zur Bibliothek hereinsteckte, die Hand im Türrahmen. »Seid ihr noch nicht fertig? Wir haben in der letzten Dreiviertelstunde sämtliche Probleme der Welt gelöst.«

»Einsam, Schätzchen?« rief Fitz ihr zu.

»Oh, ein klitzekleines bißchen.«

»Wir sind in einer Minute drüben.«

»Wissen Sie, Fitz, ich glaube, wir dürften eine Menge ge­meinsame Bekannte haben, nachdem so viele von unseren Schulkameraden nach Yale gegangen sind. Wir müssen dem­nächst mal unsere Unterlagen vergleichen«, sagte Blair.

»Ja, gerne.« Fitz, von Little Marilyn abgelenkt, hatte nicht richtig zugehört.

»Yale und Princeton. Igitt.« Stafford hielt den Daumen nach unten.

»Und Sie waren in Stanford?« fragte ihn Blair.

»Ja. Wirtschaftswissenschaft.«

»Ah.« Blair nickte. Kein Wunder, daß Stafford als Invest­mentbanker so viel Geld verdiente, und kein Wunder, daß Ca­bell ihn strahlend anlächelte. Die beiden redeten zweifellos auch am Wochenende über Geschäfte.

»War schlau von dir, daß du nicht Anwalt geworden bist.« Fitz drehte seine Zigarre zwischen den Fingern, auf deren schö­ner, schlichter Bauchbinde MONTECRISTO stand.

»Ein Anwalt ist eine angeheuerte Kanone, selbst wenn's ums Steuerrecht geht. Ich werde nie begreifen, wie ich das Juraex­amen bestanden habe, es hat mich so gelangweilt.«

»Es gibt schlimmere Berufe.« Cabell kniff vor dem Qualm die Augen zusammen. »Sie hätten Proktologe werden können.«

Die Männer lachten.

Das Telefon klingelte. Tiffany rief aus der Küche: »Mr. Ha­milton.«

»Entschuldigen Sie mich.«

Als Fitz den Hörer abnahm, gingen Stafford, Cabell und Blair zu den Damen ins Wohnzimmer. Wenige Minuten später kam Fitz-Gilbert nach.

»Hat jemand von euch Ben Seifert gesehen oder was von ihm gehört?«

»Nein. Warum?« fragte Little Marilyn.

»Er ist heute nicht zur Arbeit erschienen. Cynthia Cooper war am Apparat. Sie hat den ganzen Abend seine Mitarbeiter und seine Angehörigen angerufen. Jetzt ruft sie Freunde und Be­kannte an. Ich habe ihr gesagt, daß Sie hier sind, Cabby. Sie möchte Sie gern sprechen.«

Cabell ging zum Telefon.

»Er verbringt fast mehr Zeit auf Achse als im Büro«, erlaubte sich Harry zu bemerken, nachdem Bens Chef außer Hörweite war.

»Ich habe ihm erst letzte Woche gesagt, er soll auf sich auf­passen, aber ihr kennt ja Ben.« Fitz zog sich einen Sessel heran. »Wetten, wenn er wieder auftaucht, wird er eine phantastische Geschichte zum besten geben.«

Harry machte den Mund auf und wieder zu. Sie hatte sagen wollen: »Und wenn hier ein Zusammenhang mit dem Mord an dem Landstreicher besteht?« Vielleicht war ja Ben der Mörder und hatte sich abgesetzt? Aber sie wußte, wie empfindlich Ma­rilyn auf das Thema reagierte, und so sagte sie nichts.

Harry hatte Ben Seifert vollkommen vergessen, als Blair sie vor ihrer Haustür absetzte. Er versprach, am nächsten Morgen um halb acht dazusein. Sie öffnete die Tür und machte Licht. Nur eine Lampe ging an. Harry sah sich die Bescherung auf dem Fußboden an; das Lampenkabel war aus der Wand geris­sen.

»Tucker! Mrs. Murphy!«

Die beiden Tiere kicherten unterm Bett, blieben aber, wo sie waren. Harry ging ins Schlafzimmer, kniete sich hin, spähte unters Bett und sah sich von zwei glänzenden Augenpaaren angestarrt.

»Ich weiß, daß ihr zwei das wart.«

»Das mußt du uns erst mal beweisen.« Das war alles, was Mrs. Murphy dazu zu sagen hatte. Sie schlug mit dem Schwanz.

»Ich hatte einen schönen Abend und lasse mir von euch nicht die Laune verderben.«

Nur gut, daß Harry so dachte. Der Lauf der Ereignisse sollte früh genug alles verderben.

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