Um elf Uhr an diesem Abend schlief Harry tief und fest. Mrs. Murphy, die Behendigkeit selbst, zog die Hintertür auf. Harry schloß selten ab, und heute abend hatte sie die Tür nicht fest zugeklinkt. Es erforderte von der Katze mit ihren geschickten Pfoten nur ein wenig Geduld, um die Tür ganz aufzubekommen. Die Fliegentür war ein Kinderspiel. Tucker stieß sie mit der Nase auf, der Haken schnellte aus der Befestigung.
Es war eine für Oktober ungewöhnlich warme Nacht, ein letztes Aufflackern des Spätsommers. Harrys alter supermanblauer Ford Transporter parkte bei der Scheune. Der Wagen lief wie geschmiert. Die Tiere trotteten an dem Transporter vorbei.
Tucker schnupperte»Warte mal.«
Mrs. Murphy setzte sich und putzte sich das Gesicht, während Tucker, die Nase am Boden, der Scheune zustrebte.»Schon wieder Simon?«
Simon, das Opossum, streunte mit Vorliebe auf dem Gelände herum. Harry warf oft Marshmallows und Tischabfälle hinaus. Simon unternahm alle Anstrengungen, um diese Leckerbissen zu ergattern, bevor die Waschbären ankamen. Er konnte die Waschbären nicht leiden, und die Waschbären konnten ihn nicht leiden.
Tucker antwortete nicht auf Mrs. Murphys Frage, sondern drückte sich in die Scheune. Der Duft von Timotheusheu, Grünfutter und Kleie umwehte ihre empfindlichen Nüstern. Die Pferde blieben nachts draußen und wurden in der Mittagshitze hereingebracht Hierbei würde es noch eine Woche bleiben, bald aber würde der Herbstfrost die Weiden silbern färben, und die Pferde müßten sich nachts drinnen aufhalten, geborgen in ihren Boxen und gewärmt von ihren Triple-Crown-Decken.
Eine kleine Spitznase lugte aus der Futterkammer hervor. »Tucker.«
»Simon, du hast in der Futterkammer nichts zu suchen. « Tuckers leises Knurren klang vorwurfsvoll.
»Die Waschbären waren früher da als sonst, deswegen bin ich hier reingerannt.« Die Futterreste der Waschbären bewiesen, daß Simon die Wahrheit sprach.»Hallo, Mrs. Murphy«, begrüßte Simon die geschmeidige Katze, als sie in den Stall kam.
»Hallo. Sag, warst du mal drüben in Foxden?« Mrs. Murphy ließ ihre Schnurrhaare vorschnellen.
»Gestern abend. Da gibt's noch nichts zu fressen.« Simon konzentrierte sich auf sein Hauptanliegen.
»Wir gehen rüber, nachsehen.«
»Nicht viel zu sehen, bloß der große Transporter von diesem neuen Typ. Und ein Anhänger. Sieht so aus, als wollte er Pferde kaufen, aber noch sind keine da. « Simon lachte, denn er wußte, in wenigen Wochen würden die Pferdehändler versuchen, Blair Bainbridge das Geld aus der Tasche zu ziehen.»Wißt ihr, was ich vermisse? Die alte Mrs. MacGregor hat immer heißen Ahornsirup in den Schnee gegossen, um Bonbons zu machen, und sie hat mir immer was dagelassen. Könnt ihr Harry nicht dazu bringen, das auch mal zu machen, wenn es schneit?«
»Simon, du kannst von Glück sagen, daß du Tischabfälle kriegst, Harry hält nicht viel vom Kochen. Na ja, jetzt gehen wir jedenfalls nach Foxden und gucken mal, was da am Kochen ist.« Tucker lächelte über ihr kleines Wortspiel.
Mrs. Murphy starrte Tucker an. Sie liebte Tucker, aber manchmal fand sie Hunde ausgesprochen dämlich.
Sie gingen weiter. Simon, eine Brotkruste mampfend, blieb zurück. Als sie die zwanzig Morgen auf der Westseite von Harrys Farm überquerten, riefen sie nach Harrys Pferden Tomahawk und Gin Fizz, die mit einem Wiehern antworteten.
Harry hatte die Farm ihrer Eltern geerbt, als vor Jahren ihr Vater gestorben war. Wie ihre Eltern hielt sie alles tipptopp. Die meisten Umzäunungen waren in gutem Zustand, aber kommendes Frühjahr würde sie den Zaun entlang dem Bach zwischen ihrem Grundstück und Foxden erneuern müssen. Ihre Scheune hatte dieses Jahr einen neuen roten Anstrich mit weißer Verzierung bekommen. Die Heuernte war gut gediehen. Die Ballen, aufgerollt wie riesige »Shredded Wheats«, waren an der Ostumzäunung aufgereiht. Alles in allem bestellte Harry 120 Morgen. Sie wurde die Arbeit auf der Farm nie leid, und am glücklichsten war sie, wenn sie auf dem vorsintflutlichen, gut fünfunddreißig Jahre alten Ford Traktor eine Egge oder einen Pflug übers Feld zog.
Sie stand gerne morgens um halb sechs auf, nur im tiefsten Winter fiel es ihr ein bißchen schwer, aber dann tat sie es trotzdem. Die Arbeit draußen nahm so viel von Harrys Freizeit in Anspruch, daß sie mit der Instandhaltung des Hauses nicht immer nachkam. Es hatte einen frischen Außenanstrich nötig. Innen hatten Susan und sie es letzten Winter gestrichen. Sogar Mrs. Hogendobber war für einen Tag gekommen, um zu helfen. Harrys überdimensionales Sofa und die Sessel müßten neu bezogen werden. Ihre Eltern hatten die Stücke 1949 kurz nach ihrer Heirat auf einer Versteigerung erstanden. Sie schätzten, daß die Möbel aus den dreißiger Jahren stammten. Harry war es ziemlich egal, wie alt die Möbel waren; es waren jedenfalls die bequemsten, auf denen sie je gesessen hatte. Mrs. Murphy und Tucker durften sich ungehindert auf dem Sofa lümmeln, deswegen mochten es die beiden auch.
Ein schmaler Bach mit starker Strömung bildete die Grenze zwischen Harrys Grundstück und Foxden. Tucker kletterte die Böschung hinunter und tauchte hinein. Das Wasser war nicht tief. Mrs. Murphy, die Wasser nicht viel abgewinnen konnte, beschrieb einen Kreis, nahm einen Anlauf und sprang sowohl über den Bach als auch über Tucker hinüber.
Von dort sausten sie zum Haus, vorbei an der kleinen Anhöhe mit dem Friedhof. Aus einem Fenster im ersten Stock fiel Licht in die Dunkelheit. Riesengroße Styrax-, Walnußbäume und Eichen beschirmten das 1837 erbaute Fachwerkhaus, das einen Anbau von 1904 hatte. Mrs. Murphy kletterte auf den hohen Walnußbaum und spazierte lässig auf einen Ast, um in das erhellte Zimmer zu spähen. Tucker winselte und stöhnte am Fuß des Baumes.
»Schnauze, Tucker. Du bist schuld, wenn wir hier weggejagt werden.«
»Sag doch mal, was du siehst.«
»Erst, wenn ich wieder unten bin. Woher sollen wir wissen, ob dies nicht ein Mensch mit guten Ohren ist? Es gibt nämlich welche, die gut hören.«
In dem erhellten Zimmer war Blair Bainbridge mit der Drecksarbeit beschäftigt, die Tapete mit Dampf zu lösen. Schmutzige Streifen mit Pfingstrosenmuster, die Blüten in einem schauerlichen Pink, hingen herab. Hin und wieder setzte Blair das Dampfgerät ab und riß an der Tapete. Er hatte ein T- Shirt an, an seinen Armen klebten kleine Stückchen Tapete. Ein tragbarer CD-Player auf der anderen Seite des Zimmers spendete mit Bachs Erstem Brandenburgischem Konzert ein wenig Trost. Weder Möbel noch Kisten standen herum.
Mrs. Murphy kletterte vom Baum herunter und berichtete Tucker, daß nicht viel los sei. Sie drehten eine Runde um das Haus. Die Sträucher waren zurückgestutzt, der Garten gemulcht, die toten Zweige von den Bäumen geschnitten. Mrs. Murphy öffnete das Fliegengitter vor der Hintertür. Auf der Veranda davor standen zwei Regiestühle; eine Apfelsinenkiste diente als Tisch. Der alte schmiedeeiserne Fußabtreter in Form eines Dackels lag immer noch gleich links neben der Tür. Weder Katze noch Hund konnten sich hoch genug recken, um zum Hintertürfenster hineinzusehen.
»Laß uns in den Stall gehen«, schlug Tucker vor.
Der Stall - sechs Boxen und in der Mitte ein kleiner Wirtschaftsraum - hatte nichts Außergewöhnliches zu bieten. Die Böden in den Boxen sahen aus wie Mondkrater; sie mußten aufgefüllt und geebnet werden. Blair Bainbridge würde sich an dieser Arbeit die Zähne ausbeißen. Boxen festzustampfen war schlimmer, als mit Lehm und Steinstaub beladene Schubkarren zu schleppen. Überall hingen Spinnweben, ein paar Spinnen beendeten soeben ihre Wintervorbereitungen. Mäuse räumten mit den Körnern auf, die in der Futterkammer übriggeblieben waren. Mrs. Murphy bedauerte, daß sie nicht die Zeit hatte, mit ihnen Fangen zu spielen.
Sie verließen den Stall und inspizierten den Transporter und den Anhänger, beides nagelneu. Wer konnte sich gleichzeitig einen neuen Transporter und einen Anhänger leisten? Mr. Bainbridge lebte offensichtlich nicht von Sozialhilfe.
»Viel haben wir nicht herausbekommen«, seufzte Tucker. »Außer der Tatsache, daß er Geld hat.«
»Ein bißchen mehr wissen wir schon.« Mrs. Murphy spürte einen Biß in der Schulter. Sie duckte sich erbost.»Er ist unabhängig und schuftet schwer. Er will, daß der Besitz anständig aussieht, und er will Pferde. Und es ist keine Frau in der Nähe, es scheint in seinem Leben überhaupt keine zugeben.«
»Das kann man nie wissen.« Tucker schüttelte den Kopf.
»Da ist keine Frau. Sonst würden wir sie riechen.«
»Ja, aber wir können nicht wissen, ob nicht eine zu Besuch kommt. Vielleicht bringt er hier alles auf Vordermann, um ihr zu imponieren.«
»Nein. Ich kann 's nicht beweisen, aber ich spüre es. Er will allein sein. Er hört besinnliche Musik. Ich glaube, er befreit sich von jemand oder von etwas.«
Tucker fand, daß Mrs. Murphy voreilige Schlüsse zog, aber sie hielt den Mund, sonst hätte sie einen Vortrag über sich ergehen lassen müssen, wie mysteriös Katzen seien und daß Katzen Dinge wüßten, von denen Hunde nichts verstünden. Einfach zum Kotzen.
Auf dem Heimweg kamen die beiden am Friedhof vorbei. Der schmiedeeiserne Zaun, der das Gelände abgrenzte, war mit Lanzenspitzen gekrönt. Eine Seite war eingefallen.
»Laß uns reingehen.« Tucker lief hinüber.
Der Friedhof war fast zweihundert Jahre lang von Jones und MacGregors benutzt worden. Auf dem ältesten Grabstein war zu lesen CAPTAIN FRANCIS EGBERT JONES, GEBOREN 1730, GESTORBEN 1802. Einst hatte am Bach eine kleine Blockhütte gestanden, aber dann waren die Jones zunehmend wohlhabender geworden und hatten das Fachwerkhaus gebaut. Das Fundament der Blockhütte am Bach war noch erhalten. Auf den diversen Grabsteinen, kleinere für die Kinder, von denen zwei gleich nach dem Bürgerkrieg von Scharlach dahingerafft worden waren, waren Gravuren und Sprüche. Nach jenem entsetzlichen Krieg hatte eine Jones-Tochter, Estella Lynch Jones, einen MacGregor geheiratet, und so kam es, daß hier MacGregors begraben lagen, einschließlich der letzten Bewohner von Foxden.
Der Friedhof war seit Mrs. MacGregors Tod nicht mehr gepflegt worden. Ned Tucker, Susans Ehemann und der Verwalter des Anwesens, hatte die Felder an Mr. Stuart Tapscott verpachtet. Was er nutzte, mußte er unterhalten, und das tat er. Der Friedhof jedoch barg die sterblichen Überreste der Familien Jones und MacGregor, und für die Pflege waren deren Verwandte zuständig, nicht Mr. Tapscott. Der einzige Nachkomme, Reverend Herbert Jones, belastet mit kirchlichen Pflichten und einem schlimmen Rücken, war außerstande, das Gelände instand zu halten.
Es sah ganz so aus, als ob sich diese Dinge mit Blair Bainbridge ändern würden. Die umgekippten Grabsteine waren aufgerichtet, das Gras war gemäht, und neben Elizabeth MacGregors Grabstein war ein kleiner Kamelienstrauch gepflanzt. Es würde allerdings mehr als eine Person erfordern, den Eisenzaun aufzurichten und zu reparieren.
»Sieht aus, als hätte sich Mr. Bainbridge auch hier zu schaffen gemacht«, bemerkte Mrs. Murphy.
»Hier, das ist mein Lieblingsgrab.« Tucker blieb an der Gedenktafel für Colonel Ezekiel Abraham Jones stehen, geboren 1812 und gestorben 1861, gefallen in der ersten Schlacht bei Manassas. Die Inschrift lautete: LIEBER STEHEND STERBEN ALS KNIEND LEBEN. Ein passender Spruch für einen gefallenen Konföderierten, der für seine Überzeugung bezahlt hatte; in seiner unbeabsichtigten Parallele zum Unrecht der Sklaverei aber auch ein ironischer Spruch.
»Mir gefällt dieser hier.« Mrs. Murphy sprang auf einen viereckigen Grabstein mit einem eingemeißelten Engel, der Harfe spielte. Er zierte das Grab von Ezekiels Ehefrau Martha Selena, die ihren Mann um dreißig Jahre überlebt hatte. Die Inschrift lautete: SIE SPIELT MIT DEN ENGELN.
Die Tiere zogen nun nach Hause; keines erwähnte den kleinen Friedhof auf Harrys Farm. Nicht, daß die Grabstätte von Harrys Vorfahren nicht liebevoll und gut gepflegt wäre, aber da waren auch kleine Grabsteine für die geliebten Haustiere der Familie. Für Mrs. Murphy und Tucker war das eine ernüchternde Aussicht, an die sie lieber nicht erinnert wurden.
Sie schlüpften so leise ins Haus, wie sie es verlassen hatten, und beide Tiere taten ihr Bestes, um die Tür zuzuschieben. Es gelang ihnen nicht ganz, so daß die Küche kalt war, als Harry um halb sechs aufstand. Katze und Hund mußten sich eine Flut unanständiger Wörter anhören, die sie zum Kichern brachten. Die Entdeckung, daß der Haken der Fliegentür verbogen war, rief einen weiteren Schwall von Schimpfwörtern hervor. Harry vergaß dies alles, als die Sonne aufging und der Osthimmel pfirsichfarben, golden und rosa glühte.
Diese so außergewöhnlich schönen Oktobertage und -nächte sollten Harry und ihren Freundinnen aus der Tierwelt noch zu schaffen machen. Alles wirkte so vollkommen. Niemand ist im Angesicht der Schönheit auf Böses gefaßt.