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Es war ihr Gesicht, das ihr aus dem Spiegel entgegensah, aber Harry mußte sich erst daran gewöhnen. Der neue Haarschnitt betonte die hohen Wangenknochen, die vollen Lippen und das kräftige Kinn, die so stark an die Hepworths, die Familie ihrer Mutter, erinnerten. Auch die klaren braunen Minor-Augen blickten sie an. Wie jedermann in Crozet vereinte Harry die Züge der Eltern in sich, ein genetisches Zeugnis für das Roulet­te der menschlichen Fortpflanzung. Das Glück blieb Harry ge­wogen. Für andere, darunter manche Freunde, galt das nicht. In einer Familie in Crozet wurde eine nach der anderen von Mul­tipler Sklerose heimgesucht; andere konnten den Zangen des Krebses nicht entkommen, wieder andere hatten einen ausge­prägten Hang zu Alkohol oder Drogen geerbt. Je älter Harry wurde, desto mehr fühlte sie sich vom Glück begünstigt.

Während sie ihr Spiegelbild betrachtete, dachte sie an ihre Mutter, die vor eben diesem Spiegel gesessen hatte, die Farbtie­gel aufgestellt, die Lippenstifte in Reih und Glied wie untersetz­te Soldaten, die Puderquasten lauernd wie pfirsichfarbene Tel­lerminen. So sehr Grace Hepworth Minor ihrem einzigen Kind zuredete, schmeichelte, so sehr sie es bestach - Harry hatte sich der Verlockung femininer Künstlichkeit standhaft verweigert. Sie war damals zu jung, um ihre eiserne Ablehnung der kom­merzialisierten Weiblichkeit in Worte zu fassen. Sie wußte le­diglich, daß sie das nicht wollte, und niemand konnte sie von dieser Haltung abbringen. Im Laufe der Jahre bewährte sich diese instinktive Ablehnung. Harry fand, daß sie sauber und ordentlich, gesund und anziehend aussah. Ein Mann, der den ganzen falschen Kram brauchte, war in ihren Augen kein richti­ger Mann. Sie wollte um ihrer selbst willen geliebt werden und nicht dafür, daß sie einen Haufen Geld ausgab, um der landläu­figen Definition von Weiblichkeit zu entsprechen. Allerdings hatte Harry es auch nie für nötig befunden, zu beweisen, daß sie feminin war. Sie fühlte sich feminin, und das genügte ihr. Ihm sollte es auch genügen. Und Fair hatte es ja auch eine Weile genügt.

In dieser Hinsicht waren Boom Boom und Harry die entge­gengesetzten Pole der Philosophie der Weiblichkeit. Vielleicht war das der Grund, weshalb sie sich nicht riechen konnten. Boom Boom gab jeden Monat durchschnittlich tausend Dollar für ihre Instandhaltung aus. Sie ließ sich zupfen, färben, massie­ren. Sie war überschwemmt mit Nährstoffen, die auf ihren be­sonderen Hormonbedarf abgestimmt waren. Das stand zumin­dest auf den Flaschen. Sie hielt ständig Diät. Sie fand nichts dabei, zum Einkaufen nach New York zu fliegen. Dann trudel­ten die gepfefferten Rechnungen ein. Ein Paar Krokoschuhe von Gucci kostete 1200 Dollar. Gepflegt, hochmodisch und bestrebt, jeglichen Makel, ob echt oder eingebildet, zu überdecken, verkörperte Boom Boom den Siegeszug der amerikani­schen Kosmetik, Mode und Schönheitschirurgie. Ihre Ichbezo­genheit, durch diese Kultur genährt, wuchs sich zu hochgradiger Egozentrik aus. Boom Boom vermarktete sich als Schmuck­stück. Mit der Zeit wurde sie eins. Viele Männer machten Jagd auf dieses Schmuckstück.

Als Harry die neue Harry betrachtete, die sie Mirandas und Susans Unerbittlichkeit zu verdanken hatte, entdeckte sie er­leichtert eine Menge von der alten Harry. Okay, ein bißchen Rouge betonte die Wangen, Lippenstift verlieh ihrem Mund Wärme, aber nichts war übertrieben. Kein widerwärtiger Lid­schatten. Die Wimperntusche betonte lediglich ihre ohnehin langen schwarzen Wimpern. Sie sah aus wie sie selbst, viel­leicht sogar mehr als sonst. Sie versuchte, sich damit anzu­freunden, versuchte, sich in dem schlichten Wildlederrock und der Seidenbluse zu gefallen, die Susan sie unter Androhung der Todesstrafe zu kaufen gezwungen hatte. Geld ausgeben ist schmerzlicher als jede Strafe, dachte sie; man spürt es länger.

Zu spät. Der Scheck war ausgestellt, der Kauf nach Hause ge­tragen. Es war ohnehin keine Zeit mehr, sich darüber zu grä­men, denn Blair klopfte an die Haustür.

Harry ging öffnen.

Blair musterte sie. »Sie sind die einzige Frau, die ich kenne, die in Jeans genausogut aussieht wie im Rock. Na los, gehen wir.«

Mrs. Murphy und Tucker standen auf der Rückenlehne des Sofas und sahen den Menschen nach, wie sie die Zufahrt ent­langfuhren.

»Na, was sagst du?« fragte Tucker die Katze.

»Sie sieht scharf aus.« Mrs. Murphy zwinkerte Tucker zu. »Bist du nicht froh, daß wir keine Kleider tragen müssen? Du würdest in einem Baumwollfähnchen vielleicht irre aussehen!«

»Und du müßtest vier BHs anziehen.« Tucker stupste Mrs. Murphy in die Rippen, so daß sie fast vom Sofa kippte.

Das entsprach Mrs. Murphys schrägem Sinn für Humor. Sie schoß von der Sofalehne und forderte Tucker auf, sie zu fangen. Mrs. Murphy stürmte geradewegs zur Wand, damit Tucker dachte, sie könne nicht mehr zurück, dann stieß sie sich mit allen vieren an der Wand ab und flog im Absprung direkt über Tuckers Kopf, während der Hund zur Wand schlitterte und mit einem schweren Plumps dort landete. Mrs. Murphy vollführte dieses Manöver in teuflischer Absicht. Wütend drehte Tucker sich so schnell auf ihren Beinen, daß sie wackelte wie im Zeit­raffer. Sie wetzten im Kreis herum, bis am Ende, als Tucker unter einen Beistelltisch flitzte und Mrs. Murphy darauf hin und her hüpfte, die Lampe auf dem Tisch schwankte und wackelte, umkippte und auf dem Boden zerschellte. Das Klirren er­schreckte die zwei, und sie flohen in die Küche. Nachdem ein paar Minuten Stille war, wagten sie sich wieder hinaus.

»Ach du Scheiße«, sagte Tucker.

»Sie braucht sowieso eine neue Lampe. Die hier war so alt, daß sie schon graue Haare hatte.«

»Harry wird mir die Schuld geben.« Tucker fühlte sich bereits gescholten.

»Sobald wir den Wagen hören, verstecken wir uns unterm Bett. Dann kann sie wüten und toben, bis sie sich abgeregt hat. Bis morgen früh ist sie drüber weg.«

»Gute Idee.«

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