Der Sonntag dämmerte eisig, aber klar herauf. Die Temperatur würde vielleicht auf zehn Grad klettern, aber kaum darüber. Harry liebte die Sonntage. Sie konnte von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang ohne Unterbrechung arbeiten.
Für heute hatte sie sich vorgenommen, die Pferdeboxen auszumisten, Kalk aufzubringen und dann die Seiten mit Holzspänen aufzuschütten. Körperliche Arbeit hielt ihren Geist wach. In der Scheune schob sie eine Entspannungskassette in die Stereoanlage und machte sich daran, die Schubkarre zu beladen. Der Düngerstreuer hatte seinen Standplatz unterhalb einer kleinen Erdaufschüttung. So konnte Harry die Schubkarre auf die Aufschüttung schieben und den Inhalt in den Streuwagen kippen. Sie und ihr Vater hatten die Rampe Ende der sechziger Jahre gebaut. Harry war damals zwölf gewesen. Sie hatte so hart und so eifrig gearbeitet, daß ihr Vater ihr zur Belohnung eine maßgeschneiderte Cowboyüberhose kaufte. Die Rampe hatte all die Jahre überstanden, und die Erinnerung an die Hose hatte ebensolange gehalten. Harrys Eltern waren beide der Meinung gewesen, daß müßige Hände Teufelswerk verrichteten. Getreu ihrer Erziehung konnte Harry nicht stillsitzen. Am glücklichsten war sie, wenn sie arbeitete, und mit Arbeit kurierte sie fast alle Krankheiten. Nach der Scheidung hatte sie oft nicht schlafen können und manchmal sechzehn bis achtzehn Stunden am Tag gearbeitet. Der Farm war dieser Eifer anzusehen. Harry auch. Ihr Gewicht sank auf fünfzig Kilo, zuwenig für eine Frau von fast eins siebzig. Am Ende hatten Susan und Mrs. Hogendobber sie mit einem Trick zum Arzt gelotst. Hayden Mclntire, der vorgewarnt war, hatte die Tür zu seinem Sprechzimmer fest zugemacht, als sie Harry hineinbugsierten. Eine BJ2-Injektion und eine gehörige Standpauke überzeugten sie, daß es besser für sie sei, mehr zu essen. Hayden verschrieb ihr außerdem ein leichtes Beruhigungsmittel, damit sie schlafen konnte. Sie nahm es eine Woche lang, dann warf sie es weg. Harry haßte Medikamente jeder Art, aber ihr Körper nahm Schlaf und Nahrung wieder auf, Haydens Kur hatte also ihren Zweck erfüllt, so oder so.
Der Kreislauf der Jahreszeiten, der sich wiederholende Rhythmus von Pflanzen, Jäten, Ernten und winterlichen Reparaturen machte es Harry jedes Jahr bewußt, daß das Leben einmal zu Ende gehen würde. Vielleicht nicht das Leben an sich, wohl aber ihr eigenes. Es gab einen Anfang, eine Mitte und einen Schluß. Sie war noch nicht ganz in der Mitte, aber es gab schmerzliche Hinweise, daß sie nicht mehr fünfzehn war. Verletzungen brauchten länger, bis sie heilten. Erfreulicherweise verfügte sie über mehr Energie als in ihrer Teenagerzeit; was sich aber am meisten verändert hatte, war ihr Verstand. Sie war gerade lange genug auf der Welt, um Ereignisse und Menschen einer zweiten und dritten Betrachtung zu unterziehen. Sie ließ sich nicht leicht beeindrucken oder zum Narren halten. Auch aus diesem Grund fand sie die meisten Filme sterbenslangweilig Sie hatte Varianten der Handlung meist schon zuvor gesehen. Die Filme fesselten eine neue Generation von Fünfzehnjährigen, aber Harry konnte nichts damit anfangen. Was sie fesselte, waren gut geleistete Arbeit, Lachen mit Freunden, ein stiller Ritt auf einem Pferd. Sie hatte sich nach der Scheidung aus dem Wirbel des gesellschaftlichen Lebens zurückgezogen - kein großer Verzicht, aber sie mußte erschüttert feststellen, wie wenig eine alleinstehende Frau galt. Ein alleinstehender Mann war ein Gewinn, eine alleinstehende Frau eine Last. Weil die verheirateten Frauen sie fürchteten, vermutete Susan.
Wenn es Fair auch an Geld fehlte, an Prestige in seinem Beruf fehlte es ihm nicht, und so hatte er Harry zu Banketten, langweiligen Abendessen bei Pferdezüchtern und noch langweiligeren Abendessen in Saratoga geschleppt. Es war immer dieselbe Parade von gekonnt gelifteten Gesichtern, gutem Bourbon- Whisky und abgedroschenen Geschichten Sie war froh, daß sie das hinter sich hatte. Boom Boom konnte das alles haben. Und Fair konnte Boom Boom auch haben.
Harry wußte nicht, warum sie neulich so wütend auf Fair gewesen war. Sie liebte ihn nicht mehr, aber sie hatte ihn gern. Wie sollte man einen Mann nicht gern haben, den man seit dem ersten Schuljahr kannte und den man auf den ersten Blick gemocht hatte. Deswegen ging es ihr gegen den Strich, daß er von Boom Boom so verblendet war. Wenn er eine vernünftige Frau fände, eine wie Susan, wäre sie erleichtert. Boom Boom würde so viel von seiner Energie und seinem Geld schlucken, daß am Ende seine Arbeit darunter leiden würde. Er hatte sich seine Praxis in jahrelanger Mühe aufgebaut. Boom Boom könnte sie im Ablauf eines einzigen Jahres ruinieren, wenn er nicht aufwachte.
Der süßliche Geruch von Kieferspänen betörte ihre Sinne. Harry griff zum Hörer des Wandtelefons. Sie wollte Fair anrufen und ihm sagen, was sie wirklich dachte. Dann hängte sie ein. Was brächte das schon? Er würde nicht auf sie hören. Menschen in seiner Situation hören nie auf andere. Sie müssen von allein aufwachen.
Sie verteilte frische Streu in den Boxen.
Mrs. Murphy inspizierte den Heuboden. Simon, der fest schlief, hörte es nicht, wie sie auf Zehenspitzen um ihn herumschlichen. Er hatte ein altes T-Shirt von Harry nach oben geschleppt und dann einen Heuballen ein Stück ausgehöhlt. Simon lag zusammengerollt auf dem T-Shirt in der Kuhle. Mrs. Murphy ging auf die Südseite des Heubodens. Die Schlange lag im Winterschlaf. Bis zum Frühling würde nichts sie aufwecken. Die Eule ganz oben schlief auch. Zufrieden, weil alles war, wie es sein sollte, kletterte Mrs. Murphy die Leiter wieder hinunter.
»Tucker!« rief sie.
»Was gibt's?« Tucker trieb sich in der Sattelkammer herum.
»Hast du Lust auf einen Spaziergang?«
»Wohin?«
»Zu den Foxden-Weiden hinter der Yellow Mountain Road.«
»Warum dahin?«
»Paddy hat mich neulich auf die Idee gebracht, und heute ist die erste Gelegenheit, daß ich sie mir mal bei Tageslicht ansehe.«
»Okay.« Tucker stand auf, schüttelte sich und zockelte dann mit ihrer Freundin hinaus an die frische Luft.
Mrs. Murphy erzählte Tucker von Paddys Gedanken, jemand könnte auf dem alten Forst weg hinter der Yellow Mountain Road geparkt und die Leichenteile in einem Plastiksack oder ähnlichem auf den Friedhof geschleppt haben.
Bei den Weiden angelangt, hielt Tucker die Nase am Boden. Es war zuviel Regen gefallen und zuviel Zeit vergangen. Sie witterte Feldmäuse, Rehe, Füchse, jede Menge wilde Truthühner; sogar den schwachen Geruch eines Rotluchses nahm sie wahr.
Während Tucker die Nase am Boden hielt, ließ Mrs. Murphy ihre scharfen Augen schweifen, aber da war nichts, absolut nichts, kein metallisches Blinken, kein Fetzen Fleisch.
»Was gefunden?«
»Nein, zu spät.« Tucker hob den Kopf.»Wie konnte die Leiche sonst auf den Friedhof gelangen? Wenn der Mörder nicht über diese Weiden gegangen ist, dann hätte er - oder sie - direkt vor Gottes und Blairs Augen durch Blairs Zufahrt gehen müssen. Paddy hat recht. Er ist hier durchgekommen. Wenn es nicht Blair selbst war.«
Mrs. Murphy warf den Kopf herum und sah ihrer Freundin ins Gesicht.»Du glaubst doch nicht, daß er es war, oder?«
»Ich will's nicht hoffen. Aber wer weiß?«
Die Katze sträubte ihr Fell, ließ es wieder zusammenfallen, dann machte sie sich auf den Heimweg.»Weißt du, was ich glaube?«
»Nein.«
»Ich glaube, morgen bei der Arbeit wird es unerträglich. Die fette Nudel quatscht bestimmt pausenlos von dem Kopf in dem Kürbis. Ihr Name und ihr Bild waren in der Zeitung. Gott sei uns gnädig.« Mrs. Murphy lachte.