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Eine gewaltige Douglas-Fichte reichte bis an die hohe Decke von Mim Sanburnes eleganter Villa. Die Hartholzböden schimmerten vom Widerschein der Baumlichter. Unter dem Baum, auf der Anrichte, überall waren Geschenke gestapelt, fröhliche Päckchen, in grüner, goldener, roter und silberner Folie verpackt und mit riesigen bunten Schleifen gekrönt.

An die 150 Gäste füllten die sieben Räume im Parterre des al­ten Hauses. Zion Hill, wie das Haus genannt wurde, war aus einer 1769 errichteten einräumigen Blockhütte hervorgegangen. Damals waren die Indianer herbeigestürmt und hatten die Wei­ßen getötet, und bis nach dem Freiheitskrieg war Zion Hill ohne Nachbarn geblieben. Schießscharten waren in der Wand, hinter der sich die Pioniere verschanzt hatten, um auf die angreifenden Indianer zu schießen. Die Urquharts, Mims Familie mütterli­cherseits, waren zu Wohlstand gelangt und hatten das Haus im Unionsstil vergrößert. Ein rapider wirtschaftlicher Aufschwung verlieh den Vereinigten Staaten in den 1820er Jahren Glanz. Das Land hatte wieder einen Krieg gegen Großbritannien ge­wonnen, der Westen wurde erschlossen, alles schien möglich. Captain Urquhart, der in der dritten Generation in Zion Hill lebte, investierte in Pippinäpfeln, die angeblich von Dr. Thomas Walker, dem Arzt Thomas Jeffersons, aus dem Staat New York ins Land gebracht worden waren. Der Captain kaufte Bergland zu einem Spottpreis und legte riesige Obstplantagen an. Ein Glück für den Captain, daß die Amerikaner Äpfel mochten, ob als Apfelauflauf, Apfelmost, Apfelmus, Apfeltorte oder Apfel­krapfen. Auch Pferde liebten Äpfel.

Vor dem Bürgerkrieg kaufte sich die nächste Urquhart- Generation in die Eisenbahn ein, die nach Westen fuhr, und häufte weiteres Vermögen an. Dann kam der verheerende Bür­gerkrieg, dem drei oder vier Söhne zum Opfer fielen. Von der übernächsten Generation hatten nur eine Tochter und ein Sohn überlebt. Die Tochter war so vernünftig, einen Yankee zu heira­ten. Er war zwar unbeliebt, brachte aber Geld und die für Neu­england typische Sparsamkeit mit. Der Bruder, dessen Kriegsverwundungen nie ganz heilten, arbeitete für den Ehemann seiner Schwester. Kein glückliches Abkommen, aber immer noch besser als verhungern. Das Stigma des Yankeebluts war durch den Zweiten Weltkrieg verblaßt, jedenfalls so weit, daß Mim gegen die Verwendung ihres väterlichen Familiennamens nichts einzuwenden hatte; allerdings stellte sie den Namen ihrer Mutter stets voran.

Architekturfans freuten sich über eine Einladung nach Zion Hill, weil die Räume nach dem Abstand zwischen dem Ellbo­gen des Poliers bis zur Spitze seines Mittelfingers abgemessen worden waren. Die Maße waren nicht exakt, aber optisch wirk­ten die Zimmer vollkommen. Gärtner erfreuten sich an den Buchsbäumen und dem Garten mit immergrünen und einjähri­gen Pflanzen, der über zwei Jahrhunderte liebevoll gepflegt worden war. Und auch die Speisen erfreuten jedermann. Daß die Gastgeberin sich als Herrin aufspielte, freute niemanden, aber auf der Weihnachtsparty waren so viele Leute, mit denen man reden konnte, daß man zu Mim nur »hallo« und beim Ge­hen »danke für den wunderbaren Abend« sagen mußte.

Die Säufer von Albemarle County, die an der Punschschüssel und an der Bar festklebten, hatten Nasen so rot wie das Gewand des Weihnachtsmanns. Dieser erschien pünktlich um 20 Uhr für die Kinder. Er verteilte seine Gaben, danach konnten die Mamis und Papis ihre Engel nach Hause bringen und schlafen legen. Als das junge Gemüse abtransportiert war, drehten die Leute voll auf. Alle Jahre wieder konnte man sich darauf verlassen, daß jemand stockbesoffen umkippte, Streit anfing, heulte oder einen unglücklichen oder auch glücklichen Partygast verführte.

Dieses Jahr hatte Mim den Chor der lutheranischen Kirche be­stellt. Der Auftritt war für 21 Uhr 30 festgesetzt, damit die Frühaufsteher die Weihnachtslieder mitsingen und anschließend nach Hause gehen konnten.

Giftgrün glitzerten Mims Smaragde an ihrem Hals. Ihr weißes Kleid war eigens kreiert, um den Schmuck zur Geltung zu brin­gen. Die Smaragdohrgehänge paßten zur Halskette. Der Ge­samtwert dürfte sich im Einzelhandel bei Tiffany auf 200.000 Dollar belaufen haben. Auf dem Edelsteinsektor gab es harte Konkurrenz durch Boom Boom Craycroft, die Saphire bevorzugte, und Miranda Hogendobber, die eine Vorliebe für Rubine hatte. Miranda, beileibe nicht wohlhabend, hatte ihre kostbare Halskette aus Rubinen und Diamanten von der Schwester ihrer Mutter geerbt. Susan Tucker trug schlichte Diamantohrringe, und Harry trug überhaupt keine Steine. Für eine Frau war Mims Weihnachtsparty wie ein Eintrag in die Gesellschaftsklatsch­spalten. Es war über die Maßen wichtig, wer was trug, und Har­ry konnte da nicht mithalten. Sie wünschte, sie wäre darüber erhaben, aber sie hätte liebend gern eine schicke Garnitur aus Ohrringen, Halskette und Ring gehabt. Wie die Dinge lagen, trug sie den verbogenen Ohrring.

Die Herren trugen grüne, rote oder buntkarierte Kummerbun­de zu ihren Fräcken. Jim Sanburne trug einen Mistelzweig im Knopfloch, womit er tatsächlich die gewünschte Wirkung er­zielte. Fitz-Gilbert trat im Kilt auf, was ebenfalls die gewünsch­te Wirkung hatte. Die Frauen bemerkten seine Beine.

Fair begleitete Boom Boom. Harry konnte nicht ergründen, ob es eine vor längerem getroffene Verabredung war, ob er schwach geworden oder schlicht masochistisch veranlagt war. Blair begleitete Harry, was sie freute, obwohl er sie erst in letz­ter Minute gefragt hatte.

Fitz-Gilbert bot Macanudo-Zigarren an. Seine kubanischen Montecristo verwahrte er für ganz besondere Gelegenheiten auf oder verteilte sie nach Lust und Laune, aber eine gute Macanu­do war gewissermaßen der Jaguar, wenn eine Montecristo der Rolls-Royce unter den Zigarren war. Blair paffte frohgemut die Gratiszigarre.

Susan und Ned gesellten sich zu ihnen, außerdem Rick Shaw im Frack und Cynthia Cooper, die einen Samtrock mit einem festlichen roten Oberteil trug. Die kleine Gruppe unterhielt sich über die Damen-Basketballmannschaft der Universität von Vir­ginia. Alle waren stolz auf dieses Team. Unter der geschickten Führung der Trainerin Debbie Ryan hatten sich die Frauen lan­desweit Anerkennung errungen.

Ned meinte: »Wenn sie bloß den Korb niedriger hängen wür­den. Ich vermisse den Sprungwurf Ansonsten spielen die Mä­dels großartig Basketball, und sie können werfen.« »Besonders die an der Dreipunktelinie.« Harry lächelte. Sie liebte diese Basketballmannschaft.

»Ich finde die Abwehrspielerinnen am besten«, sagte Susan. »Debbie Ryan ist Brookies Heldin. Die meisten Mädchen wol­len Filmstar oder Schauspielerin werden. Brookie will Trainerin werden.«

»Klingt vernünftig.« Blair bemerkte Susans Tochter inmitten einer Gruppe Achtkläßler. Ein anstrengendes Alter, für die jun­gen Leute ebenso wie für die Erwachsenen.

Market Shiflett trat zu ihnen. »Tolle Party. Ich kann es jedes Jahr kaum abwarten. Es ist das einzige Mal, daß Mim mich hierher einlädt, außer wenn ich eine Bestellung abliefern soll.« Sein Gesicht glänzte. Er hatte sich Johnnie Walker Black ein­verleibt, seine Lieblingsmarke.

»Sie denkt einfach nicht dran«, sagte Harry diplomatisch.

»Quatsch«, widersprach Market. »Möchtest du mit Nachna­men Shiflett heißen?«

»Market, wenn Sie ein typisches Exemplar sind, wäre es mir eine Ehre, den Namen Shiflett zu tragen.« Blairs Baritonstimme klang beschwichtigend.

»Hört, hört.« Ned hob sein Glas.

Das Klirren von splitterndem Glas lenkte sie ab. Boom Boom hatte Mrs. Drysdale in Rage gebracht, weil sie ihre Brüste unter Patrick Drysdales Adlernase schwingen ließ. Patrick, nicht un­empfänglich für solche Gaben, vergaß, daß er ein verheirateter Mann war, eine Vergeßlichkeit, die sich auf solchen Riesenpar­ties geradezu seuchenartig ausbreitete. Missy warf mit einem Glas nach Boom Booms Kopf. Aber es flog knapp an Dr. Chuck Beegles Kopf vorbei und krachte an die Wand.

Mim beobachtete das Ganze. Sie nickte Little Marilyn zu.

Little Marilyn schwebte herbei. »Na, Missy, Schätzchen, wie wär's mit einem Schluck Kaffee?«

»Hast du gesehen, was das Biest getan hat? Die kann sich wohl nicht anders empfehlen als mit ihren. ihren Titten!«

Boom Boom, halb betrunken, lachte. »Ach komm, Missy, stell dich nicht so an. Du warst schon in der sechsten Klasse neidisch auf mich, als wir die Geflügelarten durchnahmen und die Jungs dich Hühnerbrüstchen nannten.«

Diese Bemerkung brachte Missy derart in Wut, daß sie in eine Schüssel mit Käsedip langte. Gleich darauf war Boom Booms Busen mit einer Handvoll von dem pappigen gelben Zeug deko­riert.

Boom Boom schubste Missy: »Verdammter Mist, du hast meine Saphire bekleckert!«

»Ach, das sollen Saphire sein?« kreischte Missy.

Harry stieß Susan an. »Los.«

»Darf ich helfen?« erbot sich Blair.

»Nein, das ist Frauensache«, sagte Susan lässig.

Harry flüsterte ihrer Freundin zu: »Wenn sie ausholt, landet sie einen Rundumschlag. Boom Boom ist zu keinem gezielten Schlag fähig.«

»Ja, ich weiß.«

Susan legte flugs einen Arm um Boom Booms schmale Taille und bugsierte sie in die Küche. Das Gezische erstarb.

Harry schlich sich unterdessen hinter Missy, legte ihr beide Hände auf die Schultern und steuerte sie zum Badezimmer. Little Marilyn kam mit.

»Gott, ich hasse sie, und wie ich sie hasse.« Missy schäumte, ihre Haarsprayfrisur wippte bei jedem Schritt. »Wenn ich wirk­lich gehässig wäre, würde ich sie Patrick an den Hals wünschen. Sie vernichtet jeden Mann, den sie anfaßt!« Jetzt merkte Missy, wer sie dirigierte. »Verzeihung, Harry. Ich bin so wütend, daß ich nicht mehr weiß, was ich rede.«

»Schon gut, Missy. Du weißt genau, was du redest, und ich bin absolut deiner Meinung.«

Das eröffnete eine neue Gesprächsgrundlage, und Missy wur­de deutlich ruhiger. In dem geräumigen Badezimmer ließ Little Marilyn kaltes Wasser über einen Waschlappen laufen und legte ihn Missy auf die Stirn.

»Ich bin nicht betrunken.«

»Ich weiß«, erwiderte Little Marilyn. »Aber bei mir hilft das, wenn ich durchdrehe. Mutter unterstützt natürlich den Upjohn- Konzern.«

Missy kapierte den Witz nicht: »Wie bitte?«

»Mommy hat Pillen, die sie beruhigen, Pillen, die sie aufput­schen, und Pillen, die sie einschläfern, verzeih den Ausdruck.« »Marilyn« - Missy berührte Little Marilyns Hand -, »das ist ernst.«

»Ich weiß. Auf ihre Familie hört sie nicht, und wenn Hayden Mclntire ihr die Pillen nicht verschreiben will, geht sie einfach zu einem anderen Arzt und bezahlt ihn bar. Also stellt Hayden ihr die Rezepte aus. So hat er wenigstens einen Überblick, wie viele sie nimmt.«

»Geht's wieder?« wollte Harry von Missy wissen.

»Ja. Ich hab die Beherrschung verloren, und ich werde mich bei deiner Mutter entschuldigen, Marilyn. Eigentlich ist Patrick die Aufregung nicht wert. Er kann sich auf der Speisekarte an­sehen, was er will, solange er nichts bestellt.«

Diese Redewendung bekamen Harry und auch Little Marilyn oft von Ehepaaren zu hören. Little Marilyn lächelte, und Harry zuckte die Achseln. Little Marilyn starrte Harry an und kam ihr mit dem Gesicht so nahe, daß sich ihre Nasen fast berührten.

»Harry?«

»Was ist?« Harry trat zurück.

»Ich hatte mal solche Ohrringe, bloß der da sieht aus wie.«

»Zerquetscht.«

»Zerquetscht.«, echote Little Marilyn. »Und du hast nur einen. Komisch, ich hab nämlich einen verloren. Ich hab sie immer getragen, meine Tiffany-Ohrringe. Ich dachte, ich hätte ihn auf dem Tennisplatz verloren. Ich hab ihn nicht wiedergefunden.«

»Den hier hab ich gefunden.«

»Wo?«

»In einem Opossumnest.« Harry sah Little Marilyn eindring­lich an. »Ich hab ihn mit dem Opossum getauscht.«

»Ach komm.« Missy zog ihre Lippen nach.

»Ehrenwort.« Harry hob die rechte Hand. »Hast du den zwei­ten noch?« fragte sie Little Marilyn.

»Ich zeig ihn dir morgen. Ich bring ihn mit zur Post.«

»Ich würde gerne sehen, wie er in unversehrtem Zustand aus­sieht.«

Little Marilyn holte tief Luft. »Harry, warum können wir kei­ne Freundinnen sein?«

Missy hielt beim Nachziehen ihrer Lippen mitten im Schwung inne. Eine Sanburne, die aufrichtige Gefühle zeigte. Mehr oder weniger.

Ganz im Sinne des Weihnachtsfestes lächelte Harry und erwi­derte: »Wir können es versuchen.«

Eine Dreiviertelstunde später hatte sich Harry, nachdem sie auf dem Rückweg vom Badezimmer mit jedermann gesprochen hatte, zu Susan durchgekämpft. Sie flüsterte ihr die Neuigkeit ins Ohr.

»Unmöglich.« Susan schüttelte den Kopf.

»Unmöglich oder nicht, sie scheint zu glauben, daß es ihrer ist.«

»Morgen werden wir's wissen.«

Boom Boom stieß zu ihnen. »Harry und Susan, ich danke euch vielmals, daß ihr mich von der nervenden Missy Drysdale befreit habt.«

Ehe sie etwas erwidern konnten, und es wäre eine bissige Er­widerung geworden, warf Boom Boom sich Blair an den Hals, der sich freute, daß seine eigentliche Begleiterin sich endlich vom Badezimmer losgerissen hatte. »Blair, Lieber, Sie müssen mir einen Gefallen tun. Keinen Riesengefallen, nur einen klit­zekleinen.«

»Äh...«

»Orlando Heguay will Silvester herkommen, und bei mir kann er nicht wohnen - ich kenne den Mann ja kaum. Können Sie ihn bei sich unterbringen?«

»Natürlich.« Blair hielt die Hände, als wollte er einen Segen erteilen. »Das hatte ich sowieso vor.«

Susan flüsterte Harry zu: »Hat Fair sich mit seinem Weih­nachtsgeschenk für unsere Schmerzensreiche sehr verausgabt?«

»Er sagt, er kann es nicht zurückgeben. Er hat beiHimmel­hoch jauchzen< einen Mantel für sie machen lassen.«

»Auweia.« Susan zuckte zusammen.Himmelhoch jauchzen<, ein teures, aber originelles Damenbekleidungsgeschäft, würde ein maßgeschneidertes Stück nicht zurücknehmen. Außerdem hatten wenige Frauen Boom Booms Maße.

»Achtung!« Harry wölbte die Hände in genau dem Moment vor dem Mund, als Fitz-Gilbert Hamilton sturzbesoffen auf den Fußboden knallte.

Alle lachten, bis auf die zwei Marilyns.

»Das muß ich wiedergutmachen.« Harry wand sich durch die Menge zu Little Marilyn. »Hey, wir stehen alle unter Druck«, flüsterte sie. »Die Party heute abend, das ist einfach zuviel. Laß deine Wut nicht an ihm aus.«

»Bevor diese Nacht zu Ende ist, haben wir sie gestapelt wie Klafterholz.«

»Wo bringt ihr sie unter?«

»Im Schuppen.«

Harry nickte. »Sehr vernünftig.«

Die Sanburnes dachten an alles. Die abgefüllten Gäste konn­ten ihren Suff im Schuppen ausschlafen und in den Schuppen kotzen - den Perserteppichen passierte nichts. Und man mußte kein schlechtes Gewissen haben, weil jemand nach der Party einen Unfall baute.

Danny Tuckers Freundin heulte, weil er sie nicht oft genug zum Tanzen aufgefordert hatte.

Die saftigste Klatschgeschichte von allen war, daß Missy Drysdale Patrick, betrunken und damit ein Schuppenkandidat, allein gelassen hatte. Sie war nach der Party mit Fair abgezo­gen, der Boom Boom fallenließ, als er mit anhörte, wie sie von Orlando Heguays Besuch erzählte.

Boom Boom tröstete sich, indem sie Jim Sanburne ihr Herz darüber ausschüttete, daß alle sie mißverstanden. Sie hätte gute Fortschritte gemacht, wenn Mim ihn ihr nicht entrissen hatte.

Wieder eine Weihnachtsparty. Friede auf Erden und den Men­schen ein Wohlgefallen.

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