22

Feuerschein wirft Schatten an die Wände, die man je nach Stimmung als freundliche Gestalten oder als mißgebildete Un­geheuer empfindet. Susan, Harry und Blair saßen an Harrys Kamin. Die besten Freundinnen hatten entschieden, daß Blair ein bißchen Gesellschaft brauchte, bevor er in sein leeres Haus zurückkehrte.

Das Erntefest hatte alle aus der Fassung gebracht, und als Har­ry ihre Haustür aufmachte, wartete eine weitere Überraschung auf sie. Aus Wut, weil sie zu Hause bleiben mußte, hatte Tucker Harrys Lieblingspantoffeln zerfetzt. Mrs. Murphy hatte ihr da­von abgeraten, aber wenn Tucker wütend war, war sie nicht zur Raison zu bringen. Zur Strafe wurde der Hund in der Küche eingesperrt, während die Erwachsenen sich im Wohnzimmer unterhielten. Zu allem Unglück durfte Mrs. Murphy mit ins Wohnzimmer. Tucker legte den Kopf zwischen die Pfoten und jaulte.

»Komm schon, Harry, laß sie rein«, bat Susan.

»Du hast leicht reden - es waren ja nicht deine Pantoffeln.«

»Du hättest Tucker lieber mitnehmen sollen. Sie findet mehr Hinweise als alle anderen.« Susan warf einen Blick auf die wachsame Mrs. Murphy, die auf Harrys Sessel hockte »Mrs. Murphy natürlich auch.«

Harry besann sich auf ihre Pflichten als Gastgeberin »Hat je­mand Hunger?«

»Nein.« Blair schüttelte den Kopf.

»Ich auch nicht«, erklärte Susan. »Sie Ärmster.« Sie deutete auf Blair. »Sie ziehen hierher, um Frieden und Ruhe zu finden, und alles dreht sich um einen Mord.«

Die Muskeln in Blairs hübschem Gesicht strafften sich.

»Der menschlichen Natur kann man nicht entfliehen Erinnern Sie sich an die Männer von der Bounty, die auf der Insel Pit­cairn ausgesetzt wurden?«

»Ich erinnere mich an den wunderbaren Film mit Charles Laughton als Captain Bligh«, sagte Susan.

»Im wirklichen Leben haben sich die Engländer, die damals im Paradies strandeten, bald ihre eigene Variante der Hölle geschaffen. Das Übel war in ihnen. Die Eingeborenen - es wa­ren hauptsächlich Frauen, weil die Weißen die Männer getötet hatten - schlitzten den Engländern mitten in der Nacht, als sie schliefen, die Kehlen auf. Das glauben jedenfalls die Historiker. Kein Mensch weiß, wie die Meuterer wirklich starben, man weiß nur, daß Jahre später, als ein europäisches Schiff vorbei­kam, die>zivilisierten< Männer verschwunden waren.«

»Wollen Sie damit andeuten, daß Crozet eine kleinere Ausga­be von Manhattan ist?« Harry beugte sich vor und stocherte mit dem Kaminbesteck aus Messing, das sie von ihren Eltern geerbt hatte, im Feuer.

»Big Marilyn als Brooke Astor.« Dann fügte Susan hinzu. »Astor ist wirklich eine große Dame. Mim tut nur so.«

»Alles in allem geht es in Crozet friedlicher zu als in Manhat­tan, aber unsere Fehler zeigen sich, wo immer wir auch sein mögen - in kleinerem Maßstab. Leidenschaften sind Leiden­schaften, egal, in welchem Jahrhundert und an welchem Ort.« Blair starrte ins Feuer.

»Stimmt.« Harry kuschelte sich wieder in ihren Sessel. »Hat Little Marilyn nicht gesagt, sie hätte das Gesicht wiederer­kannt?« Bei der Erinnerung an den Kopf wurde Harry schlecht.

»Ein Landstreicher, den sie an den Gleisen entlanggehen sah, als sie im Postamt war.« Blair fügte hinzu. »Ich kann mich auch dunkel an ihn erinnern. Er hatte alte Jeans an und eine Baseball­jacke. Ich hab nicht weiter auf ihn geachtet. Haben Sie ihn ge­sehen?«

Harry nickte. »Die METS-Jacke ist mir aufgefallen. Das ist aber auch schon alles. Na ja, auch wenn die Leichenteile zu dem Kerl gehören, wissen wir immer noch nicht, wer er ist.«

»Ein Student an der Uni von Virginia?«

»Gott, Susan, das will ich nicht hoffen.« Harry gestattete Mrs. Murphy, sich auf ihrem Schoß niederzulassen.

»Zu alt.« Blair faltete die Hände.

»Ist ein bißchen schwer zu schätzen.« Auch Susan hatte den grausigen Anblick vor Augen.

»Meine Damen, ich denke, ich geh nach Hause. Ich bin fix und fertig, und es ist mir peinlich, daß ich in Ohnmacht gefallen bin. Die Sache hat mich ziemlich mitgenommen.«

Harry begleitete ihn zur Tür und sagte ihm gute Nacht. Als sie zu Susan zurückkam, hatte Mrs. Murphy den Sessel mit Be­schlag belegt. Sie hob die protestierende Katze hoch und setzte sich wieder hin.

»Blair war heute abend reserviert«, bemerkte Susan. »Muß ein schöner Schock für ihn gewesen sein. Er hat kein einziges Mö­belstück im Haus, er kennt keinen von uns, und dann werden auf seinem Grund und Boden Leichenteile gefunden. Und jetzt das. Aus der Traum vom idyllischen Landleben.«

»Das einzig Gute heute abend war der Anblick, wie Boom Boom ohnmächtig wurde.«

»Du bist gemein«, sagte Susan lachend.

»Du mußt zugeben, es war komisch.«

»Ein bißchen. Fair hatte das Vergnügen, sie wiederzubeleben, in ihrer voluminösen Handtasche nach Beruhigungspillen zu wühlen und sie dann nach Hause zu bringen. Wenn sie zu zickig wird, könnte er ihr eine Ace-Spritze verpassen.«

Der Gedanke, daß Boom Boom mit einem Pferde-Tranquilizer ruhiggestellt würde, amüsierte Susan. »Ich würde sagen, Boom Boom ist nicht leicht zu halten«, sagte sie. Dieser Pferdeaus­druck war durchaus angemessen, denn Boom Boom war alles andere als leicht zu halten.

»Wir müssen jetzt wohl über irgendwas lachen. Die ganze Sa­che ist so makaber, was bleibt uns sonst übrig?« Harry kraulte Mrs. Murphy hinter den Ohren.

»Ich weiß nicht.«

»Hast du Angst?«

»Und du?«

»Ich hab dich zuerst gefragt.«

»Nicht um mich«, antwortete Susan.

»Ich auch nicht, weil ich nicht glaube, daß der Mord was mit mir zu tun hat, aber wenn ich nun hineingezogen werde? Der Mörder hätte die Teile ja auch auf meinem Friedhof vergraben können.«

»Ich glaube, uns passiert nichts, wenn wir ihm nicht im Weg sind«, sagte Susan. »Aber was heißt>im Weg Und warum das alles?« Mrs. Murphy schlug ein Auge auf und sagte:»Liebe oder Geld.«

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