Das Feuer knisterte, die Flammen loderten in den Schornstein empor. Draußen zog der vierte Sturm dieses denkwürdigen Winters zu den Berggipfeln hinauf.
Blair, den Arm in der Schlinge, Harry, Orlando, Mrs. Hogendobber, Susan und Ned, Cynthia Cooper, Market und Pewter, Reverend Jones und Carol hatten sich am Kamin versammelt.
Während Blair im Krankenhaus lag und über sich ergehen ließ, wie mit einer Sonde nach der Kugel gesucht wurde, hatte Cynthia bei Susan und Miranda angerufen, um ihnen zu berichten, was vorgefallen war, und sie aufzufordern, zu Harry zu kommen und etwas zum Essen mitzubringen. Dann schickte sie einen Beamten zu Florence Hall, er sollte ihr die Komplizenschaft ihres Mannes so schonend wie möglich beibringen. Die Leute von der Bundespolizei würden Cabell vielleicht heute nacht nicht finden, aber wenn der Sturm vorbei wäre, würden sie ihn aus seinem Bau scheuchen.
Harry war dem Krankenwagen in Blairs Explorer gefolgt. Orlando war auf der Farm geblieben und hatte Nudeln gekocht, während die Freunde nach und nach eintrafen Morgen würde er Zeit haben, sich mit Boom Boom zu treffen.
Rick organisierte Wächter für Norton, während die Ärzte ihn zusammenflickten. Rick und Cynthia erzählten sodann den Reportern und Fernsehteams genüßlich, wie sie diesen gefährlichen Verbrecher dingfest gemacht hatten. Anschließend entließ Rick Cynthia zu ihren Freunden.
Während die Frauen das Essen richteten, erklärte sich Reverend Jones zum männlichen Chauvinisten und ging nach draußen, um den Zaun zu reparieren. Sein Verständnis von männlichem Chauvinismus äußerte sich darin, daß er die Arbeiten übernahm, die er für schwer und schmutzig hielt, was dazu führte, daß die Frauen ihn hinter seinem Rücken »Chauvinistenmieze« nannten. Market ging ihm zur Hand, und in einer Dreiviertelstunde hatten sie die Latten erneuert und die Verwüstung beseitigt. Dann nahmen sie sich der Pferde an. Glücklicherweise hatten die Decken mögliche Verletzungen abgefangen. Tomahawk und Gin Fizz waren unversehrt und warteten bei geöffneten Türen geduldig in ihren Boxen - in der Eile, Blair und Tommy ins Krankenhaus zu schaffen, hatte niemand daran gedacht, die Pferde in ihre Boxen zu bringen und die Türen zu schließen.
Auf dem Fußboden sitzend, die Teller auf dem Schoß, versuchte die Schar der Freunde zu ergründen, wie so etwas hatte geschehen können. Mrs. Murphy, Pewter und Tucker umkreisten wie Haie die sitzenden Menschen; vielleicht würde ja mal ein Krümel von einem Teller fallen.
Blair spießte eine Gabel scharfen Hühnersalat auf. »Was war mit den Spuren hinter meinem Haus?«
Cynthia sagte. »Wir haben in Fitz' - ich meine Tommy Nortons - Range Rover Schneeschuhe gefunden. Er hat den Ohrring dort hinten verloren. Ein Mißgeschick, für das er nichts konnte, und wegen des Ohrrings ist er erst richtig nervös geworden, nachdem der echte Fitz ihm zuvor schon einen Schock versetzt hatte. Jedenfalls, er wollte ausprobieren, wie schnell er im Schnee wieder herkommen könnte, wenn er müßte, falls Sie oder Orlando Schwierigkeiten machten, womit zu rechnen war. Ich denke, er hat einen Probelauf gemacht, oder er hoffte, Sie abzufangen, bevor Orlando herkam. Er muß ganz schön zappelig geworden sein, als er hörte, daß Orlando zu Besuch kommen würde. Das zu verhindern hätte jedes Risiko gelohnt.«
»Was glaubte er denn, was ich tun würde?« fragte Orlando.
»Das wußte er nicht genau. Bedenken Sie, sein ganzes Leben, der Plan vieler Jahre, war gefährdet, als der echte Fitz auftauchte. Ben Seifert nutzte das aus, um mehr Geld von ihm zu erpressen. Er wurde langsam nervös. Wenn Sie nun etwas gemerkt hätten? So unwahrscheinlich Ihnen das vorkommen mag, für ihn war es durchaus nicht unwahrscheinlich. Das Unmögliche war möglich geworden«, erklärte Cynthia. »Wie sich zeigte, haben Sie dann ja auch wirklich Schwierigkeiten gemacht. Sie haben das Gesicht auf dem Foto erkannt. Das Gesicht, für das ein plastischer Chirurg ein Vermögen kassieren konnte.«
Carol war neugierig. »Und der Ohrring?«
»Das werden wir nie genau wissen«, antwortete Harry. »Aber Little Marilyn hat gesagt, er muß Abgegangen sein, als sie ihren Pullover im Auto auszog, in dem Range Rover Tommy hatte die Leiche in einem Plastiksack vorne auf den Boden gelegt, und der Stift hat sich vermutlich in dem Sack verhakt oder ist in eine Falte des Sackes geraten. In seiner Hast hat Fitz es nicht gemerkt. Wir wissen nur, daß Little Marilyns Ohrring dann in einem Opossumnest aufgetaucht ist kilometerweit von der Stelle entfernt, wo sie meinte, ihn zuletzt getragen zu haben. Das Tier konnte unmöglich die sechs Kilometer bis zu ihrem Haus gewandert sein.«
»Weiß Little Marilyn es schon?« Mrs. Hogendobber hatte Mitleid mit der Frau.
»Ja«, sagte Cynthia. »Sie kann es noch nicht glauben. Mim glaubt es natürlich, aber sie denkt ja über jeden nur Schlechtes.«
Darüber mußten alle lachen.
»Hat irgend jemand von Ihnen auch nur im entferntesten daran gedacht, daß es Fitz sein könnte?« fragte Mrs. Hogendobber. »Tommy. Ich kann mich nicht daran gewöhnen, ihn Tommy zu nennen. Ich hatte jedenfalls nicht die leiseste Ahnung.«
Die anderen auch nicht.
»Er war auf seine Weise genial.« Orlando schnitt ein leckeres Biskuit auf und bestrich es mit Butter. »Er hat sehr früh gemerkt, daß die Menschen auf Äußerlichkeiten achten, genau, wie er gesagt hat. Sobald er merkte, daß Fitz den Verstand verlor, heckte er den teuflisch schlauen, aber simplen Plan aus, Fitz zu werden. Als er sein Studium in Princeton begann,war er Fitz-Gilbert Hamilton. Er war mehr Fitz-Gilbert Hamilton als der echte Fitz-Gilbert Hamilton. Als ich nach Yale ging, sagte mein Bruder, jetzt könne ich ein neuer Mensch werden, wenn ich wollte. Es war ein Neubeginn. Tommy hat das wortwörtlich genommen.«
Blair sann darüber nach, dann sagte er: »Ich glaube nicht, daß ihm je der Gedanke kam, jemanden umbringen zu müssen, ich glaube es einfach nicht.«
»Damals nicht«, sagte Cynthia.
»Geld verändert die Menschen.« Carol sprach aus, was offensichtlich war, nur daß viele das Offensichtliche nicht wahrnehmen wollten. »Er hatte sich an die Macht gewöhnt, an materielle Vergnügungen, und er hat Little Marilyn geliebt.«
»Liebe oder Geld«, flüsterte Harry vor sich hin.
»Was?« Mrs. Hogendobber wollte alles wissen.
»Liebe oder Geld. Dafür töten die Menschen.« Harrys Stimme verlor sich.
»Ja, das Thema hatten wir schon mal.« Mrs. Hogendobber nahm sich noch eine Portion Makkaroni mit Käse. Es schmeckte sündhaft gut. »Vielleicht ist der Weg zur Hölle mit Dollarscheinen gepflastert.«
»Sofern wir sie zum Mittelpunkt unseres Lebens machen«, setzte Blair hinzu. »Wissen Sie, ich habe viele Geschichtswerke gelesen. Es ist ein schöner, tröstlicher Gedanke, daß andere Menschen vor mir hier gelebt haben. Jedenfalls, Marie Antoinette und Ludwig XVI sind zu besseren Menschen geworden, nachdem sie ihre Macht und ihr Geld verloren hatten. Vielleicht wird der eine oder die andere tatsächlich ein besserer Mensch, wenn er oder sie einmal Geld gehabt hat, ich weiß es nicht.«
Der Reverend dachte darüber nach. »Ich nehme an, einige reiche Leute werden Philanthropen, aber meistens erst am Ende ihres Lebens, wenn der Himmel als nächste Adresse noch nicht gesichert ist.«
Während die Gruppe diskutierte und über diese oder jene Einzelheit oder über das wenige rätselte, was sie von dem Mann wußten, den sie als Fitz kannten, stand Harry auf und zog ihren Parka an. »Bin gleich wieder da. Ich hab vergessen, das Opossum zu füttern.«
»In einem früheren Leben waren Sie Noah«, gluckste Herbie.
Mrs. Hogendobber warf dem lutheranischen Pastor einen vorwurfsvollen Blick zu. »Aber Reverend, Sie glauben doch nicht an Reinkarnation, oder?«
Bevor sich das Thema entzünden konnte, war Harry zur Hintertür hinaus. Mrs. Murphy und Tucker zockelten mit. Pewter zog es vor, in der Küche zu bleiben.
Harry schob das Scheunentor nur so weit auf, daß sie sich hindurchquetschen und Licht machen konnte. Es war kaum zu glauben, daß sie erst vor ein paar Stunden in dieser Scheune beinahe den Tod gefunden hatte, in diesem Raum, wo sie immer glücklich gewesen war.
Sie schüttelte den Kopf, als wollte sie sich von Spinnenfaden befreien. Vor allem aber wollte sie sich vergewissern, daß sie lebte. Mrs. Murphy bildete die Vorhut, und Harry kletterte mit Tucker unterm Arm die Leiter hinauf und brachte Simon das Futter. Simon war überwältigt.
Mrs. Murphy rieb sich an dem kleinen Kerl»Gutgemacht, Simon.«
»Mrs. Murphy, das war das Schlimmste, was ich je gesehen habe. Mit den Menschen stimmt was nicht.«
»Zumindest mit einigen«, entgegnete die Katze.
Harry beobachtete die beiden Tiere und wunderte sich über ihre Fähigkeit, sich zu verständigen. Sie wunderte sich außerdem darüber, wie wenig wir eigentlich von der Welt der Tiere wissen. Wir verwenden soviel Zeit darauf, sie zu zähmen, abzurichten, ihnen Gehorsam beizubringen, wie können wir sie da wirklich kennen? Haben die Herren auf den Plantagen die Sklaven je gekannt, und kennt ein Mann seine Frau, wenn er sich für überlegen hält - oder umgekehrt? Harry setzte sich ins Heu, atmete den Duft ein, und eine Woge der Dankbarkeit durchströmte sie. Sie wußte nicht viel, aber sie war froh, am Leben zu sein.
Mrs. Murphy kletterte auf ihren Schoß und schnurrte.
Tucker lehnte sich feierlich an Harrys Seite.
Die Katze reckte den Hals nach oben und rief:»Danke!«
Die Eule schrie zurück:»Nicht der Rede wert.«
Tucker bemerkte:»Ich dachte, du kannst Menschen nicht leiden.«
»Kann ich auch nicht. Aber zufällig kann ich die Kletternatter noch weniger leiden als die Menschen. « Sie breitete triumphierend ihr Gefieder aus und lachte.
Die Katze lachte mit.»Du magst Harry - gib's zu.«
»Sag ich nicht. « Die Eule erhob sich von ihrem hohen Sitz in dem Kuppelgewölbe und schwebte hinunter, direkt vor Harry, die erschrak. Dann nahm sie Höhe auf und flog aus dem hohen Oberlicht am Scheunenende hinaus zum nächtlichen Jagen, zumindest so lange, bis der Sturm losbrach.
Harry kletterte rückwärts von der Leiter, Tucker unter dem Arm. In der Mitte des Ganges blieb Harry einen Moment stehen. »Ich weiß nicht, was in euch beide gefahren ist«, sagte sie zu den Pferden, »aber ich bin schrecklich froh. Danke.«
Sie sahen sie aus ihren sanften braunen Augen an. Tomahawk blieb in einer Ecke seiner Box, während Gin zutraulich den Kopf über die obere Hälfte der quergeteilten Boxtür steckte.
»Und Mrs. Murphy, ich weiß immer noch nicht, wie die Kletternatter vom Heuboden geflogen kam und du hinterher. Ich schätze, ich werde es nie erfahren. Ich schätze, ich werde vieles nie erfahren.«
»Bring sie zurück an ihren Platz«, riet Mrs. Murphy ihr, »sonst erfriert sie noch.«
»Sie weiß nicht, wovon du sprichst.« Tucker kratzte an der Tür von Tomahawks Box und winselte.»Hat sie sich hier drin versteckt?« fragte der Hund die Katze.
»Irgendwo unter der Streu. « Die Schnurrhaare der Tigerkatze schnellten nach vorn, als sie Tucker beim Türkratzen Gesellschaft leistete.
Harry wußte, daß die Schlange da war, trotzdem fuhr sie jedesmal zusammen, wenn sie eine sah. Neugierig öffnete sie die Tür. Jetzt wußte sie, warum Tomahawk sich in eine Ecke seiner Box drückte. Er konnte Schlangen nicht ausstehen und verbarg es nicht.
»Hier ist sie.« Tucker stellte sich über die Schlange.
Harry sah die teils von Streu bedeckte Schlange. »Lebt sie?« Sie kniete sich hin und faßte mit der Hand hinter den Hals des Reptils. Vorsichtig hob sie es hoch, und erst jetzt merkte sie, wie groß die Schlange war. Harry hatte keine besonders große Angst vor Schlangen, aber sie konnte auch nicht behaupten, daß sie sie gern anfaßte. Trotzdem, sie fühlte sich irgendwie für diese Kletternatter verantwortlich. Das Tier bewegte sich ein bißchen. Tomahawk beschwerte sich, und so verzogen sie sich aus der Box.
Mrs. Murphy kletterte die Leiter hoch.»Ich zeig's dir.«
Harry überlegte fieberhaft, wo ein warmes Fleckchen für die Schlange war. Außer den Rohren unter ihrem Küchenspülstein fiel ihr nur der Heuboden ein, also kletterte sie wieder hinauf.
Die Katze lief zu ihr hin und wieder weg. Harry sah ihr amüsiert zu. Mrs. Murphy mußte diese Vorstellung viermal wiederholen, ehe Harry so vernünftig war, ihr zu folgen.
Simon brummte, als sie an ihm vorbeikamen:»Steck die alte Hexe bloß nicht in meine Nähe.«
»Stell dich nicht so an«, schimpfte die Katze. Sie führte Harry zum Nest der Schlange.
»Sieh mal einer an!« rief Harry. Vorsichtig legte sie die Schlange in ihr Winterschlafquartier und deckte sie mit losem Heu zu. »Der Herr ist wunderbar in seinen Werken«, sagte sie laut. Das hatte ihre Mutter immer zu ihr gesagt. Heute hatte Gott seine oder ihre wunderbaren Werke mit Hilfe einer Schlange, einer Katze, eines Hundes und zweier Pferde gewirkt. Harry ahnte nicht, daß sie noch viel öfter Hilfe von Tieren gehabt hatte, aber sie wußte, daß sie dank der Gnade Gottes hier war. Tommy Norton hätte sie durchlöchert wie einen Schweizer Käse.
Als sie die Scheune zuschloß und durch ein paar Schneeflocken zum Haus zurückging, wurde ihr klar, daß sie es nicht bereute, den Mann in die Kniescheibe geschossen zu haben. Sie hätte ihn notfalls auch getötet. In dieser Hinsicht gehörte sie zur Welt der Tiere. Menschliche Moral und Natur scheinen oft im Widerspruch zu stehen.
Fair Haristeens Lieferwagen schlitterte knatternd in die Zufahrt. Fair stieg rasch aus und riß Harry in seine Arme. »Ich hab's gerade gehört. Alles in Ordnung mit dir?«
»Ja.« Sie nickte, plötzlich erschöpft.
»Gott sei Dank, Harry. Ich wußte nicht, was du mir bedeutest, bis ich, bis ich.« Er konnte seinen Satz nicht beenden. Er drückte sie an sich.
Sie drückte ihn fest, dann ließ sie ihn los. »Komm mit. Unsere Freunde sind drinnen. Sie werden sich freuen, dich zu sehen. Blair hat einen Schuß abgekriegt.« Sie sprach weiter und spürte eine tiefe Liebe zu Fair, wenn es auch keine romantische Liebe mehr war. Sie nahm ihn nicht zurück, aber er bat sie ja auch nicht zurückzukommen. Sie würden sich mit der Zeit arrangieren.
Als sie in die Küche traten, blickte ihr auf dem Hackklotz eine schuldbewußte, dicke graue Katze mit vollem Maul entgegen. Sie hatte ein ganzes Schinkenbiskuit vertilgt; die verräterischen Krümel hingen noch an ihren langen Schnurrhaaren.
»Pewter«, sagte Harry.
»Ich esse, wenn ich angespannt oder unglücklich hin.« Und wirklich war sie betrübt, weil sie das ganze Theater verpaßt hatte.»Natürlich esse ich auch, wenn ich entspannt und glücklich bin. «
Harry streichelte sie, setzte sie herunter, und dann besann sie sich, daß ihre Freundinnen heute etwas Besseres verdient hatten als Dosenfutter. Sie legte ein paar Schinkenbiskuits auf den Fußboden. Pewter stellte sich auf die Hinterbeine und kratzte an Harrys Hose.
»Noch was?«
»Noch was«, bettelte die graue Katze.
Harry nahm noch ein Biskuit sowie etwas von dem Putenfleisch, das Miranda mitgebracht hatte, und legte es auf den Boden.
»Ich seh nicht ein, wieso du was Leckeres kriegst. Du hast nichts geleistet«, brummte Mrs. Murphy, während sie ihr Essen mampfte.
Die graue Katze kicherte.»Wer sagt, daß das Leben gerecht ist?«