36

Ein fürchterliches Spektakel draußen weckte Mrs. Murphy und Tucker. Mrs. Murphy lief ans Fenster.

»Das sind Simon und die Waschbären.«

Tucker bellte, um Harry zu wecken, denn bei dieser Kälte hielt Harry die Hintertür fest geschlossen, und sie konnten nicht hinaus auf die vergitterte Veranda. Deren Tür ließ sich leicht öffnen; wenn Harry nur die Hintertür aufmachte, konnten sie nach draußen.

»Laß mich in Ruhe, Tucker«, stöhnte Harry.

»Aufwachen, Mom. Komm schon.«

»Verdammter Mist.« Harrys Füße berührten den kalten Bo­den. Sie dachte, der Hund bellte ein Tier an oder müßte mal austreten. Sie polterte die Treppe hinunter und öffnete die Hin­tertür, und beide Tiere sausten hinaus. »Geht nur und friert euch die Ärsche ab. Ich laß euch nicht wieder rein.«

Katze und Hund hatten keine Zeit, ihr zu antworten. Sie flitz­ten zu Simon, der von zwei maskierten Waschbären gegen die Stallwand gedrückt wurde.

»Das gibt's doch wohl nicht.« bellte Tucker.

Mrs. Murphy, das Fell gesträubt bis zum äußersten, die Ohren flach angelegt, fauchte und heulte:»Ich kratz euch die Augen aus!«

Die Waschbären hatten keine Lust zu kämpfen und trollten sich.

»Danke«, keuchte Simon mit bebenden Flanken.

»Was war denn los?« fragte Mrs. Murphy.

»Blair hat Marshmallows rausgestellt. Die mag ich so gern. Diese Ekelpakete leider auch. Sie haben mich gejagt.« Ein Blutstropfen sickerte aus Simons Nase. Am linken Ohr blutete er auch.

»Bist ja ganz schon lädiert. Wollen wir auf den Heuboden ge­hen?« schlug Mrs. Murphy vor.

»Ich hab noch Hunger. Hat Harry Reste rausgestellt?«

»Nein. Sie hatte einen schlimmen Tag«, antwortete Tucker. »Die Menschen haben heute wieder eine Leiche gefunden.« »In Fetzen?« Simon war neugierig.

»Das nicht, aber die Geier waren dran.« Mrs. Murphy zitter­te, als ein Windstoß kam. Es fühlte sich an wie achtzehn Grad unter Null.

»Ich hab mich immer gefragt, was Vögel an den Augen finden. Da gehen sie als erstes dran an die Augen und den Kopf.« Si­mon rieb sich das Ohr, das zu brennen begonnen hatte.

»Laßt uns reingehen. Kommt. Es ist scheußlich hier draußen.«

Sie zwängten sich unter dem großen Scheunentor hindurch. Simon blieb stehen, um ein paar Körner aufzulesen, die Toma­hawk und Gin Fizz hatten fallen lassen. Da die Pferde schlam­pige Esser waren, konnte Simon sich über die Nachlese herma­chen.

»Das dürfte bis morgen vorhalten. « Das graue Opossum setz­te sich hin und drapierte seinen rosa Schwanz um sich herum. »Kommt rauf, oben im Heu ist es warm.«

»Ich kann die Leiter nicht raufklettern«, winselte Tucker.

»Ach ja, das hatte ich vergessen.« Simon rieb sich die Nase.

»Gehen wir in die Sattelkammer. Da ist die alte schwere Pfer­dedecke drin, die Gin Fizz zerrissen hat. Sie hat ein Wollfutter, da können wir uns reinkuscheln.«

»Sie hängt auf dem Sattelgestell«, rief Tucker.

»Ja? Dann schubs ich sie runter.« Schon hakte Mrs. Murphy ihre Krallen unter die Unterseite der Tür. Diese, alt und verzo­gen, gab etwas nach, und die Katze klemmte ihre Pfote dahin­ter. Tucker hielt unterdessen die Nase am Boden, um zu sehen, ob sie helfen konnte. Nach einer Minute ging die Tür quiet­schend auf. Die Katze sprang auf das Sattelgestell, grub ihre Krallen in die Pferdedecke und beugte sich damit nach vorn. Sie kam mit der Decke herunter. Die drei kuschelten sich nebenein­ander hinein.

Geplagt von ihrem schlechten Gewissen, weil sie ihre Lieb­linge draußen gelassen hatte, eilte Harry am nächsten Morgen in die Scheune. Sie wußte, daß sie sie dort finden würde, aber sie war doch sehr überrascht, sie mit einem Opossum zusammen­gekuschelt in der Sattelkammer anzutreffen. Simon war eben­falls überrascht, so sehr, daß er sich totstellte.

Tucker leckte Harrys behandschuhte Hände, Mrs. Murphy rieb sich an ihren Beinen.

Harry bemerkte Simons eingerissenes Ohr und die aufge­schrammte Nase. »Der kleine Kerl war wohl in einen Boxkampf verwickelt.«

»Simon, wach auf. Wir wissen, daß du nicht tot bist.« Mrs. Murphy klopfte ihm aufs Hinterteil.

Harry nahm eine Tube Heilsalbe, und während Simon die Au­gen noch fester zukniff, rieb sie seine Wunden ein. Er hielt es nicht aus. Er machte ein Auge auf.

Mrs. Murphy klopfte wieder auf sein Hinterteil.»Siehst du, sie ist gar nicht so übel. Sie ist ein guter Mensch.«

Simon, der Menschen nicht traute, verhielt sich still, aber Tu­cker redete ihm zu.»Mach ein dankbares Gesicht, Simon, dann gibt sie dir vielleicht was zu fressen. Laß dich von ihr hoch­nehmen. Das gefällt ihr.«

Harry streichelte Simons putziges Köpfchen. »Das wird schon wieder, mein Kleiner. Du kannst hierbleiben, wenn du willst, und ich mach derweil meine Arbeit.« Sie ließ die Tiere allein und kletterte auf den Heuboden.

Simon geriet für einen Moment in Panik.»Sie wird doch mei­ne Schätze nicht stehlen, oder? Ich gehe lieber mal nachsehen. « Simon verließ die Sattelkammer und umfaßte die unterste Lei­tersprosse. Er bewegte sich flink. Mrs. Murphy folgte ihm. Tu­cker blieb, wo sie war, und sah nach oben. Sie konnte hören, wie das Heu bewegt wurde, als Harry daranging, es durch die Bodenluken in die Pferdeboxen zu werfen.

Harry drehte sich um und sah Simon und Mrs. Murphy nach hinten eilen. Sie warf ihren Heuballen hin und folgte ihnen. »Ihr zwei seid ja richtig dicke Freunde.«

Harry mußte über das T-Shirt lachen. Simons Nest war seit Mrs. Murphys letztem Besuch gewaltig verschönert worden.

»Ruhe da unten«, rief die Eule.

»Selber Ruhe, Plattgesicht«, fauchte Mrs. Murphy.

Harry kniete sich hin, und Simon huschte in seine Kuhle. Er hatte einen Rest von der Kordel hinaufgebracht, die Harry To­mahawk zur Jagderöffnung in die Mähne geflochten hatte. Au­ßerdem hatte er den Futtersack zerfetzt und ihn streifenweise nach oben gebracht. Simons Nest war jetzt sehr gemütlich, und das T-Shirt war liebevoll über seine selbstgemachte Isolierung gebreitet. Ein Kugelschreiber, zwei Pennymünzen und das zer­franste Ende einer alten Longe waren adrett in einer Ecke ar­rangiert.

»Hübsche Wohnung«, bewunderte Harry das Werk des Opos­sums.

Ein flimmriges Glitzern fiel Mrs. Murphy in ihr scharfes Au­ge.»Was ist das?«

»Hab ich drüben in Foxden gefunden.«

Harry lächelte über die Schaustücke. »Ich wußte gar nicht, daß Opossums Hamster sind.«

»Ich arbeite nach dem Prinzip, lieber etwas haben und nicht brauchen als etwas brauchen und nicht haben. Und im übrigen bin ich kein Hamster«, stellte Simon würdevoll klar.

»Wo in Foxden hast du das hier gefunden?« fragte Mrs. Mur­phy und griff nach dem glitzernden Gegenstand. Als sie ihn zu sich heranzog, sah sie, daß es ein verbogener Ohrring war.

»Ich mag hübsche Dinge. « Ängstlich beobachtete Simon Har­ry, die ihrer Katze den Ohrring abnahm.»Ich hab 's auf dem alten Forstweg im Wald gefunden - mitten in der Wildnis.«

»Gold.« Harry legte den Ohrring auf ihren Handteller. Er kam ihr irgendwie bekannt vor. Es war eindeutig ein teures Stück. Sie konnte den Stempel nicht erkennen, denn der Ohrring war offenbar überfahren oder zertreten worden. Aber die Buchsta­ben T-I-F von Tiffany waren lesbar. Sie drehte den Ohrring hin und her.

»Sie gibt ihn mir doch zurück?« fragte Simon ängstlich.»Ich meine, sie ist keine Diebin, oder?«

»Nein, eine Diebin ist sie nicht, aber wenn du ihn in Foxden gefunden hast, sollte sie ihn mitnehmen. Es könnte ein Hinweis sein.«

»Na und? Die Menschen bringen sich andauernd gegenseitig um. Kaum, daß sie einen erwischt haben, fangt der nächste zu morden an.«

»So schlimm ist es nun auch wieder nicht.«

Die Eule rief wieder»Ihr sollt leise sein!«

Harry liebte Eulengeschrei, aber sie bemerkte den griesgrämi­gen Unterton. Sie legte den Ohrring in Simons Nest zurück. »Na, mein Kleiner, mir scheint, du gehörst zur Familie. Ich werd dir Essensreste rausstellen.«

Simon steckte sichtlich erleichtert die Nase aus seinem Nest und musterte Harry mit seinen hellen Augen. Dann sagte er zu Mrs. Murphy:»Bin ich froh, daß sie mich nicht töten will.«

»Harry tötet keine Tiere.«

»Sie geht auf die Fuchsjagd«, gab er schlagfertig zurück.

Während Harry sich wieder daranmachte, den Pferden das Heu hinunterzuwerfen, diskutierten die Katze und das Opossum über dieses Thema.

»Simon, sie töten nur die alten Füchse oder die kranken. Die gesunden sind zu schlau, um sich fangen zu lassen.«

»Und der Fuchs, der voriges Jahr in Posy Dents Garage ge­laufen ist? Der war jung.«

»Und diese Ausnahme bestätigt die Regel. Er war dumm.« Mrs. Murphy lachte.»Ich denke über Füchse wie du über Waschbären. Ah, Harry geht wieder runter, da geh ich mit. Da sie jetzt weiß, wo du wohnst, wird sie sich vielleicht öfter mit dir unterhalten wollen. So ist sie eben, also versuch nett zu ihr zu sein. Sie ist prima. Sie hat deine Schrammen verarztet. «

Simon dachte darüber nach.»Ich will's versuchen.«

»Schön.« Mrs. Murphy turnte die Leiter hinunter.

Während sie mit Tucker zum Frühstück ins Haus zockelte, er­zählte die Katze dem Hund von dem Ohrring. Je mehr sie rede­ten, desto mehr Fragen kamen auf. Keines der Tiere war sicher, daß der Ohrring für die Aufklärung des Mordfalls von Bedeu­tung war, aber wenn Simon ihn an einer verdächtigen Stelle gefunden hatte, war sein Wert nicht zu unterschätzen. Sie hatten die ganze Zeit angenommen, der Mörder sei ein Mann, aber es könnte auch eine Frau sein. Die Leiche war zerstückelt und an verschiedenen Orten versteckt worden. Die einzelnen Teile waren nicht schwer. Ben Seifert in den Tunnel zu schleppen mochte ein hartes Stück Arbeit gewesen sein, aber vielleicht hingen die zwei Todesfälle ja nicht zusammen.

Mrs. Murphy blieb stehen.»Tucker, vielleicht sind wir auf dem Holzweg. Vielleicht ist der Mörder ein Mann, tötet aber für eine Frau.«

»Um sich Rivalen vom Hals zu schaffen?«

»Könnte sein. Oder vielleicht gibt sie ihm die Aufträge - viel­leicht ist sie das Hirn hinter den Muskeln. Ich wünschte, wir könnten Mom klarmachen, wie wichtig der Ohrring ist, aber sie weiß nicht, woher er kommt, und wir können es ihr nicht sa­gen.«

»Murphy, und wenn wir ihn uns von Simon geben lassen und dort hinlegen, wo er ihn gefunden hat?«

»Selbst wenn er sich davon trennt, wie kriegen wir Harry dorthin?«

Inzwischen waren sie im Haus angekommen und warteten auf ihr Frühstück.

Tucker hatte eine Idee.»Und wenn ein Mann für einet Frau tötet, um sie zu halten? Wenn er etwas weiß, was sie nicht weiß?«

Mrs. Murphy lehnte ihren Kopf einen Moment an Tuckers Schulter.»Hoffentlich kriegen wir es heraus, ich hab nämlich ein mulmiges Gefühl bei der Geschichte.«

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