Kapitel 11

Unter dem Vorwand, ich hätte ein paar Vorstellungsgespräche bei verschiedenen Anwaltskanzleien, gehe ich nicht zur Abschlußfeier. Vielversprechende Gespräche, versichere ich Booker, aber ihm kann ich nichts vormachen. Booker weiß, daß ich nur von Tür zu Tür gehe und meine Bewerbungsunterlagen über die Stadt verteile wie Konfetti.

Booker ist der einzige Mensch, dem etwas daran liegt, daß ich mich in Talar und Barett werfe und an den Lustbarkeiten teilnehme. Er ist enttäuscht, daß ich nicht dabei bin. Meine Mutter und Hank kampieren irgendwo in Maine und schauen zu, wie die Bäume grün werden. Ich habe vor ungefähr einem Monat mit ihr telefoniert, und sie hat keine Ahnung, wann ich mit dem Studium fertig sein werde.

Ich habe gehört, daß die Zeremonie ziemlich öde ist. Unmengen von Reden von langatmigen alten Richtern, die die Abgänger beschwören, die Juristerei zu lieben, sie als ehrenhafte Profession zu betreiben, die man achten muß wie eine eifersüchtige Geliebte, und das Ansehen wiederherzustellen, dem unsere Vorgänger mit ihren Missetaten so sehr geschadet haben. Ad nauseam. Da sitze ich lieber im Yogi's und sehe zu, wie Prince auf Ziegenrennen wettet.

Booker wird dabeisein, mit seiner ganzen Familie: Charlene und die Kinder, seine Eltern, ihre Eltern, mehrere Großeltern, Tanten, Onkel, Cousins. Der Kane-Clan wird eine Menge Platz einnehmen. Es wird massenhaft Tränen und Fotos geben. Er war in seiner Familie der erste, der das College besuchte, und die Tatsache, daß er jetzt sein Jurastudium abschließt, macht sie ungeheuer stolz. Ich bin versucht, mich im Publikum zu verstecken, nur um seine Eltern zu beobachten, wenn er sein Diplom erhält. Ich würde wahrscheinlich mit ihnen weinen.

Ich weiß nicht, ob Sara Plankmores Angehörige an den Festivitäten teilnehmen werden, aber dieses Risiko gehe ich nicht ein. Ich kann den Gedanken nicht ertragen, sie sehen zu müssen, wie sie in die Kameras lächelt, während ihr Verlobter, S. Todd Wilcox, sie in die Arme nimmt. Sie wird einen weiten Talar tragen, so daß man nicht feststellen kann, ob es schon zu sehen ist. Aber ich würde trotzdem darauf starren. Selbst wenn ich mir alle Mühe gäbe, würde ich es nicht schaffen, meinen Blick von ihrem Bauch abzuwenden.

Es ist das beste, wenn ich der Zeremonie fernbleibe. Madeline Skinner hat mir vor zwei Tagen gestanden, daß sämtliche anderen Studienabgänger einen Job gefunden haben. Viele mußten sich mit weniger begnügen, als sie eigentlich wollten. Mindestens fünfzehn haben sich selbständig gemacht, kleine Büros eröffnet und sich einsatzbereit erklärt. Sie haben sich Geld von Eltern und Onkeln geliehen und kleine Zimmer mit billigen Möbeln gemietet. Madeline hat die Statistik. Sie weiß von jedem, wo er abgeblieben ist. Nicht auszudenken, daß ich dasitze in meinem schwarzen Talar und Barett, mitten zwischen hundertzwanzig Kommilitonen, die allesamt wissen, daß ich, Rudy Baylor, als einziger bisher noch keinen Job gefunden habe. Ich könnte ebensogut einen rosa Talar mit Neonbeleuchtung am Barett tragen. Vergessen wir's.

Mein Diplom habe ich gestern abgeholt.

Die Abschlußzeremonie beginnt um zwei Uhr, und genau zu dieser Zeit betrete ich die Kanzlei von Jonathan Lake. Das wird ein Wiederholungsauftritt, mein erster. Ich war bereits vor einem Monat hier und habe der Empfangsdame bescheiden meine Mappe ausgehändigt. Dieser Besuch wird anders verlaufen. Jetzt habe ich einen Plan.

Ich habe ein paar Recherchen angestellt über die Kanzlei Lake, wie sie allgemein genannt wird. Da Mr. Lake nichts davon hält, sein Geld mit anderen Leuten zu teilen, hat er keine Partner. Er beschäftigt zwölf Anwälte, von denen sieben Prozeßanwälte sind und die anderen fünf jüngere Feld-Wald-und-Wiesen-Anwälte. Die sieben Prozeßanwälte sind Advokaten mit reicher Gerichtserfahrung. Jeder von ihnen hat eine Sekretärin und einen Anwaltsgehilfen, und sogar der Anwaltsgehilfe hat eine Sekretärin. Das wird als Prozeßteam bezeichnet. Jedes Prozeßteam arbeitet unabhängig von den anderen, und Jonathan Lake erscheint nur gelegentlich auf der Bildfläche und gibt seinen Senf dazu. Er nimmt sich die Fälle, die er haben will, in der Regel die mit der vielversprechendsten Aussicht auf aufsehenerregende Urteile. Er klagt besonders gern gegen Gynäkologen wegen Entbindungsfehlern und hat erst kürzlich bei einem Asbest-Prozeß ein Vermögen verdient.

Jeder Prozeßanwalt ist für seine Mitarbeiter zuständig, kann einstellen und entlassen und muß außerdem zusehen, daß er ständig neue Fälle an Land zieht. Ich habe gehört, daß fast achtzig Prozent der Arbeit der Kanzlei auf Hinweisen von anderen Anwälten, Journalisten und Grundstücksmaklern basiert, die gelegentlich über einen verletzten Kunden stolpern. Das Einkommen der Prozeßanwälte in dieser Firma hängt unter anderem davon ab, wie viele neue Fälle sie anschleppen.

Barry X. Lancaster ist ein aufgehender junger Stern in der Kanzlei, ein frisch gesalbter Prozeßanwalt, der vorige Weihnachten einem Arzt in Arkansas zwei Millionen abgeknöpft hat. Er ist vierunddreißig, geschieden, lebt in seinem Büro, hat an der Memphis State Jura studiert. Ich habe meine Hausaufgaben gemacht. Außerdem sucht er einen Anwaltsgehilfen. Ich habe die Anzeige in The Daily Record gesehen. Wenn ich schon nicht als Anwalt anfangen kann — was spricht dagegen, daß ich es erst mal als Anwaltsgehilfe versuche? Später einmal, wenn ich erst ein erfolgreicher Mann bin und selber eine große Kanzlei besitze, wird das eine prächtige Story abgeben: Der junge Rudy konnte keinen anständigen Job bekommen, also hat er im Postzimmer von Jonathan Lake angefangen. Und seht ihn euch jetzt an.

Ich habe um zwei Uhr einen Termin bei Barry X. Die Empfangsdame mustert mich argwöhnisch, dann schluckt sie es. Ich bezweifle, daß sie mich von meinem ersten Besuch hier wiedererkennt. Seither sind tausend Leute gekommen und gegangen. Ich verstecke mich hinter einer Zeitschrift auf einem Ledersofa und bewundere die Perserteppiche, den Dielenfußboden und die freiliegenden dicken Balken über meinem Kopf. Lakes Kanzlei befindet sich in einem alten Lagerhaus in der Nähe des Ärzte- und Krankenhausviertels von Memphis.

Angeblich hat er drei Millionen Dollar ausgegeben für die Restaurierung und Ausschmückung dieses Denkmals für sich selbst. Ich habe Fotos davon in zwei verschiedenen Zeitschriften gesehen.

Nur Minuten später werde ich von einer Sekretärin durch ein Labyrinth von Fluren und Treppen in ein Büro in einem der oberen Stockwerke geführt. Darunter liegt eine offene Bibliothek ohne Wände oder andere Abgrenzungen, nur Reihen um Reihen von Büchern. Ein einsamer Gelehrter sitzt an einem langen Tisch, umgeben von Stapeln von Abhandlungen, versunken in eine Flut einander widersprechender Theorien.

Das Büro von Barry X. ist lang und schmal, mit Ziegelsteinwänden und knarrendem Fußboden. Es ist mit Antiquitäten und anderen dekorativen Gegenständen geschmückt. Wir reichen uns die Hand und setzen uns. Er ist schlank und fit, und ich erinnere mich, daß ich in dem Zeitschriftenartikel auch Fotos von der Turnhalle gesehen habe, die Mr. Lake für seine Mitarbeiter eingerichtet hat. Außerdem gibt es hier eine Sauna und ein Dampfbad.

Barry ist sehr beschäftigt, zweifellos muß er gleich zu einer Strategiebesprechung mit seinem Prozeßteam, zur Vorbereitung einer wichtigen Verhandlung. Sein Telefon steht so, daß ich das hektische Blinken der Leuchtanzeigen sehen kann. Seine Hände sind ganz ruhig, aber er bringt es nicht fertig, nicht auf die Uhr zu sehen.

«Erzählen Sie mir von Ihrem Fall«, sagt er nach ein paar einleitenden Worten.»Etwas über einen abgelehnten Versicherungsanspruch. «Er ist schon jetzt argwöhnisch, weil ich Jakkett und Krawatte trage und nicht aussehe wie der Durchschnittsmandant.

«Nun, in Wirklichkeit bin ich wegen eines Jobs hier«, sage ich kühn. Alles, was er tun kann, ist, mich zum Gehen aufzufordern. Was habe ich schon zu verlieren?

Er verzieht das Gesicht und greift nach einem Blatt Papier. Die verdammte Sekretärin hat wieder Mist gebaut.

«Ich habe Ihre Anzeige wegen eines Anwaltsgehilfen im Daily Record gesehen.«

«Sie sind also Anwaltsgehilfe?«fährt er mich an.

«Ich könnte einer sein.«

«Was zum Teufel soll das bedeuten?«

«Ich habe drei Jahre Jura studiert.«

Er mustert mich ungefähr fünf Sekunden, dann schüttelt er den Kopf, schaut auf die Uhr.»Ich bin wirklich sehr beschäftigt. Meine Sekretärin wird Ihre Bewerbung entgegennehmen.«

Ich springe plötzlich auf und beuge mich über seinen Schreibtisch.»Hören Sie, ich mache Ihnen ein Angebot«, sage ich dramatisch, als er verblüfft aufschaut. Dann stürme ich durch meine Standardroutine, wie intelligent und motiviert ich bin und im oberen Drittel meines Jahrgangs, und wie ich einen Job bei Broadnax and Speer hatte und einfach auf die Straße gesetzt wurde. Ich schieße aus allen Rohren. Tinley Britt, mein Haß auf große Firmen. Meine Arbeit ist billig zu haben. Ich tue alles, um nur ins Geschäft zu kommen. Brauche wirklich einen Job, Mister. Ich rede ununterbrochen ungefähr ein oder zwei Minuten lang, dann setze ich mich wieder hin.

Er brütet ein wenig vor sich hin, kaut an einem Fingernagel. Ich kann wirklich nicht sagen, ob er wütend ist oder begeistert.

«Wissen Sie, was mich ankotzt?«sagt er schließlich, offensichtlich alles andere als begeistert.

«Ja klar, Typen wie ich, die die Leute im Vorzimmer anlügen, damit sie hier hereinkommen und sich um einen Job bewerben können. Das genau ist es, was Sie ankotzt. Ich mache Ihnen keinen Vorwurf daraus. Mich würde es auch ankotzen, aber ich würde darüber hinwegkommen, ich würde sagen, sieh mal, dieser Kerl ist ein angehender Anwalt, aber anstatt ihm vierzigtausend zu zahlen, kann ich ihn anstellen und die Knochenarbeit machen lassen für, sagen wir, vierundzwanzig-tausend.«

«Einundzwanzigtausend.«

«Wäre mir auch recht«, sage ich.»Mit einundzwanzigtausend fange ich morgen noch an. Ich arbeite ein ganzes Jahr lang für einundzwanzigtausend und ich verspreche, zwölf Monate hierzubleiben, ob ich das Anwaltsexamen bestehe oder nicht. Ich werde zwölf Monate lang sechzig, siebzig Stun-den die Woche arbeiten. Kein Urlaub. Sie haben mein Wort. Wo soll ich unterschreiben?«

«Wir verlangen fünf Jahre Erfahrung, bevor wir uns einen Anwaltsgehilfen auch nur ansehen. Hier wird eine Menge verlangt.«

«Ich lerne schnell. Vorigen Sommer habe ich in einer Kanzlei in der Innenstadt gearbeitet, lauter Streitsachen.«

Im Grunde ist das, was ich da tue, nicht ganz fair, und er hat es sich gerade zusammengereimt. Ich bin mit geladenen Rohren hier hereinmarschiert und habe ihn einfach überfallen. Und offensichtlich tue ich so was nicht zum ersten Mal, denn ich habe auf alles, was er sagt, sofort eine Antwort parat.

Nicht, daß er mir leid täte. Wenn er will, kann er mich ja jederzeit rauswerfen.

«Ich werde mit Mr. Lake darüber sprechen«, sagt er scheinbar nachgiebig.»Er hat ziemlich strenge Grundsätze, was Neueinstellungen betrifft. Ich bin nicht befugt, einen Anwaltsgehilfen einzustellen, der unseren Anforderungen nicht entspricht.«

«Klar«, sage ich betrübt. Also wieder ein Tritt in den Hintern. Darin bin ich mittlerweile beinahe Experte. Ich weiß inzwischen, daß Anwälte, ganz gleich, wie beschäftigt sie gerade sein mögen, frisch Graduierten, die keine Arbeit finden können, immer eine gewisse Sympathie entgegenbringen. Eine sehr begrenzte Sympathie.

«Vielleicht sagt er ja, und wenn er das tut, dann haben Sie den Job. «Er sagt das nur, um meinen Sturz ein wenig abzufedern.

«Da ist noch etwas«, sage ich, wieder zum Angriff übergehend.»Ich habe nämlich einen Fall. Einen sehr guten.«

Das macht ihn in höchstem Grade mißtrauisch.»Was für eine Art von Fall?«fragt er.

«Versicherungssache. Böswillige Leistungsverweigerung.«

«Sie sind der Geschädigte?«

«Nein. Ich bin der Anwalt. Ich bin sozusagen darüber gestolpert.«

«Was ist er wert?«

Ich gebe ihm eine zweiseitige Zusammenfassung des Falles

Black, stark überarbeitet und auf sensationell getrimmt. Ich habe jetzt bereits geraume Zeit daran gearbeitet und jedesmal, wenn ein Anwalt sie gelesen und mich abgelehnt hat, neue Finessen hineingebracht.

Barry X. liest sie aufmerksam, mit mehr Konzentration, als ich bisher bei jemandem beobachtet habe. Er liest sie ein zweites Mal, während ich seine alten Ziegelsteinwände bewundere und von einem Büro wie diesem träume.

«Nicht schlecht«, sagt er, als er fertig ist. In seinen Augen funkelt es, und ich glaube, er ist aufgeregter, als er sich anmerken läßt.»Lassen Sie mich raten. Sie wollen einen Job und einen Anteil am Verfahren.«

«Nein. Nur den Job. Der Fall gehört Ihnen. Ich würde gern daran arbeiten, und die Verhandlungen mit den Mandanten sind meine Sache. Aber das Honorar gehört Ihnen.«

«Ein Teil des Honorars. Den größten Teil davon bekommt Mr. Lake«, sagt er mit einem Grinsen.

Na wenn schon. Mir ist es egal, wie sie das Geld aufteilen. Ich will lediglich einen Job. Mir wird beinahe schwindlig bei dem Gedanken, für Jonathan Lake zu arbeiten und in dieser prachtvollen Umgebung.

Ich habe beschlossen, Miss Birdie für mich zu behalten. Sie ist keine besonders attraktive Mandantin, weil sie keinen Pfennig für Anwälte ausgibt. Wahrscheinlich wird sie hundertzwanzig Jahre alt werden, es hat also keinen Sinn, sie als Trumpfkarte auszuspielen. Ich bin sicher, daß es immens tüchtige Anwälte gibt, die ihr alle möglichen Zahlungen entlocken würden, aber das gilt nicht für die Kanzlei Lake. Diese Leute führen Prozesse. Sie sind nicht daran interessiert, Testamente aufzusetzen und Nachlässe zu verwalten.

Ich stehe wieder auf. Ich habe genug von Barrys Zeit in Anspruch genommen.»Hören Sie«, sage ich so treuherzig wie möglich.»Ich weiß, daß Sie viel zu tun haben. Ich mache Ihnen nichts vor. Sie können sich bei der Juristischen Fakultät erkundigen. Rufen Sie Madeline Skinner an, wenn Sie wollen.«

«Die verrückte Madeline. Ist die immer noch da?«

«Ja, und zur Zeit ist sie meine beste Freundin. Sie wird für mich bürgen.«

«Gut. Ich setze mich so bald wie möglich wieder mit Ihnen in Verbindung.«

Wer's glaubt.

Auf dem Weg zum Ausgang verlaufe ich mich zweimal. Niemand beachtet mich, also lasse ich mir Zeit und bewundere die großen, über das ganze Gebäude verstreuten Büros. Einmal bleibe ich am Rand der Bibliothek stehen und schaue zu den Bücherwänden auf, die sich mit schmalen, rundherumführenden Galerien über drei Stockwerke ziehen. Keine zwei Büros haben auch nur eine entfernte Ähnlichkeit miteinander. Dazwischen immer wieder mal ein Konferenzraum. Sekretärinnen, Schreibkräfte und andere Unterlinge bewegen sich geschäftig über die polierten Kiefernfußböden.

Hier würde ich auch für weniger als einundzwanzigtausend im Jahr arbeiten.

Ich parke leise hinter dem langen Cadillac und schiebe mich lautlos aus meinem Wagen. Ich bin nicht in der Stimmung zum Umtopfen von Chrysanthemen. Vorsichtig umrunde ich das Haus und werde von einem riesigen Stapel aus weißen Plastiksäcken begrüßt. Dutzenden von Plastiksäcken. Mulch aus geschroteter Kiefernborke, tonnenweise. Jeder Sack wiegt einen Zentner. Jetzt erinnere ich mich, daß Miss Birdie vor ein paar Tagen etwas über das Mulchen sämtlicher Blumenbeete gesagt hat. Aber so habe ich mir das nicht vorgestellt.

Ich schieße auf die zu meiner Wohnung führende Treppe zu, und als ich fast oben angekommen bin, höre ich sie rufen:»Rudy, mein Lieber, lassen Sie uns einen Kaffee trinken. «Sie steht neben dem Monument aus Kiefernborke und lächelt mich mit ihren graugelben Zähnen breit an. Sie ist restlos glücklich, daß ich zu Hause bin. Es dämmert bereits, und sie liebt es, auf der Terrasse zu sitzen und Kaffee zu trinken, während die Sonne untergeht.

«Natürlich«, sage ich, hänge mein Jackett über das Geländer und nehme meine Krawatte ab.

«Wie geht es Ihnen, mein Lieber?«fragt sie herauf. Mit diesem» mein Lieber «hat sie vor ungefähr einer Woche angefangen. Mein Lieber dies und mein Lieber das.

«Danke, gut. Nur müde. Mein Rücken macht mir zu schaffen. «Seit mehreren Tagen habe ich immer wieder Anspielungen auf meinen Rücken gemacht, aber bisher hat sie den Köder noch nicht geschluckt.

Ich lasse mich auf meinem gewohnten Stuhl nieder, während sie in der Küche ihr fürchterliches Gebräu anmischt. Es ist früher Abend, lange Schatten fallen über den Rasen hinter dem Haus. Ich zähle die Mulchsäcke. Acht in einer Reihe, vier Reihen hintereinander, acht Schichten übereinander. Das macht 256 Säcke. Bei einem Zentner pro Sack sind das 256 Zentner. Gefüllt mit Mulch. Der verteilt werden muß. Von mir.

Wir trinken unseren Kaffee, wobei ich nur sehr kleine Schlucke nehme, und sie will alles wissen, was ich heute getan habe. Ich lüge und erzähle ihr, ich hätte mit einigen anderen Anwälten über Prozesse gesprochen und dann für das Anwaltsexamen gelernt. Morgen das gleiche. Vollauf beschäftigt, Sie wissen schon, mit Anwaltskram. Keinesfalls Zeit, eine Tonne Mulch anzuheben und herumzuschleppen.

Wir beide stoßen mehr oder weniger mit der Nase an die weißen Säcke, aber hinsehen will keiner von uns. Ich vermeide Blickkontakt.

«Wann fangen Sie an, als Anwalt zu arbeiten?«fragt sie.

«Das weiß ich noch nicht genau«, sage ich, dann erkläre ich ihr zum zehnten Mal, daß ich in den nächsten paar Wochen angestrengt lernen und mich in den Büchern in der Fakultät vergraben muß, damit ich das Anwaltsexamen bestehe. Bevor ich das Examen nicht bestanden habe, kann ich nicht praktizieren.

«Wie nett«, sagt sie und driftet einen Moment ab.»Wir müssen unbedingt mit dem Mulch anfangen«, sagt sie, deutet mit einem Kopfnicken hin und verdreht die Augen.

Mir fällt im Augenblick keine Antwort darauf ein, und dann sage ich:»Eine ziemliche Menge.«

«Ach, so schlimm ist das nicht. Ich werde helfen.«

Das bedeutet, sie zeigt mit dem Spaten hierhin und dorthin und redet ununterbrochen.

«Nun ja, vielleicht morgen. Es ist spät, und ich habe einen anstrengenden Tag hinter mir.«

Sie denkt eine Sekunde darüber nach.»Ich hatte gehofft, wir könnten gleich heute anfangen«, sagt sie.»Ich helfe mit.«

«Ich habe noch nicht einmal gegessen«, sage ich.

«Ich mache Ihnen ein Sandwich«, bietet sie rasch an. Für Miss Birdie ist ein Sandwich eine durchscheinende Lage Dosentruthahn zwischen zwei dünnen Scheiben Diätweißbrot. Kein Tropfen Senf oder Mayonnaise. Kein Gedanke an Salat oder Käse. Es wären vier davon nötig, um den Hunger auch nur annähernd zu stillen.

Sie steht auf und will in die Küche, als das Telefon läutet. Ich habe bisher noch keinen eigenen Anschluß in meiner Wohnung, obwohl sie ihn mir seit zwei Wochen versprochen hat. Im Augenblick muß ich ihren Apparat mitbenutzen, was bedeutet, daß sie alles mit anhören kann. Sie hat mich gebeten, dafür zu sorgen, daß ich möglichst wenig angerufen werde, weil sie ständig erreichbar sein muß. Das Telefon läutet nur selten.

«Es ist für Sie, Rudy«, ruft sie aus der Küche.»Irgendein Anwalt.«

Es ist Barry X. Er sagt, er hätte mit Jonathan Lake gesprochen, und es wäre okay, wenn wir uns noch einmal unterhielten. Er fragt, ob ich in sein Büro kommen könnte, jetzt gleich am besten, er hätte den ganzen Abend zu arbeiten. Und ich soll die Akte mitbringen. Er will sämtliche Unterlagen meiner Versicherungssache sehen.

Während wir miteinander sprechen, beobachte ich Miss Birdie, wie sie mit allergrößter Sorgfalt ein Truthahnsandwich zurechtmacht. Gerade als sie es durchschneidet, lege ich den Hörer auf.

«Ich muß los, Miss Birdie«, sage ich atemlos.»Es tut sich etwas. Ich muß mit diesem Anwalt über einen großen Fall sprechen.«

«Aber was ist mit…«

«Tut mir leid, ich fange morgen damit an. «Ich lasse sie stehen, ein halbes Sandwich in jeder Hand und mit einem betretenen Gesichtsausdruck, als könnte sie es einfach nicht fassen, daß ich nicht mit ihr essen werde.

Barry erwartet mich an der Eingangstür, die verschlossen ist, obwohl drinnen noch viele Leute arbeiten. Ich folge ihm in sein Büro, und jetzt sind meine Schritte ein wenig schneller, als sie es seit Tagen waren. Ich kann nicht anders, ich muß ganz einfach diese Teppiche, die Bücherregale und die Ausstattung bewundern und mir vorstellen, daß ich vielleicht schon bald hierhergehören, ein Mitarbeiter der Kanzlei Lake sein werde, der Firma mit den bedeutendsten Prozeßanwälten weit und breit.

Er bietet mir eine Frühlingsrolle an, die noch von seinem Abendessen übriggeblieben ist. Er nehme seine drei Mahlzeiten täglich an seinem Schreibtisch ein, erklärt er mir. Ich erinnere mich, daß er geschieden ist, und jetzt verstehe ich auch, weshalb. Ich bin nicht hungrig.

Er schaltet sein Diktiergerät ein und legt das Mikrofon vor mir auf den Schreibtisch.»Wir zeichnen das auf. Morgen lasse ich es dann von meiner Sekretärin tippen. Ist das okay?«

«Natürlich«, sage ich. Ich bin mit allem einverstanden.

«Ich stelle Sie für zwölf Monate als Anwaltsgehilfe ein. Ihr Gehalt beträgt einundzwanzigtausend pro Jahr, zahlbar in zwölf gleichen Raten am fünfzehnten jedes Monats. Bevor Sie nicht ein Jahr hier gewesen sind, kommen Sie nicht in den Genuß einer Krankenversicherung oder anderer Nebenleistungen. Nach Ablauf von zwölf Monaten werden wir diesen Vertrag überprüfen und gleichzeitig die Möglichkeit ins Auge fassen, Sie als Anwalt weiterzubeschäftigen statt als Anwaltsgehilfe.«

«Okay. Geht in Ordnung.«

«Sie bekommen ein Büro, wir sind schon dabei, eine Sekretärin einzustellen, die Ihnen assistieren wird. Die Arbeitszeit beträgt mindestens sechzig Stunden pro Woche. Sie beginnt um acht Uhr morgens und endet je nachdem. Kein Anwalt in dieser Kanzlei arbeitet weniger als sechzig Stunden.«

«Kein Problem. «Ich würde auch neunzig Stunden arbeiten. Bloß weg von Miss Birdie und ihrem Kiefernborkenmulch.

Er konsultiert seine Notizen.»Und wir übernehmen die Vertretung für — wie hieß Ihr Fall doch gleich?«

«Black. Black gegen Greet Benefit.«

«Okay. Wir werden die Blacks gegen die Great Benefit Life Insurance Company vertreten. Sie werden an dem Fall arbeiten, haben aber keinerlei Anspruch auf irgendwelche Honorare, sollte es soweit kommen.«

«Richtig.«

«Fällt Ihnen sonst noch etwas ein?«sagt er, in Richtung Mikrofon sprechend.

«Wann fange ich an?«

«Jetzt gleich. Ich möchte noch heute abend den Fall mit Ihnen durchsprechen, wenn Sie Zeit dazu haben.«

«Okay.«

«Sonst noch etwas?«

Ich schlucke schwer.»Ich habe Anfang dieses Monats einen Offenbarungseid geleistet. Eine lange Geschichte.«

«Ist das nicht immer so? Sieben oder Dreizehn?«

«Glatte Sieben.«

«Dann kann Ihr Gehalt nicht gepfändet werden. Außerdem lernen Sie für das Anwaltsexamen in Ihrer Freizeit.«

«Gut.«

Er stellt das Diktiergerät ab und bietet mir abermals eine Frühlingsrolle an. Ich danke. Dann folge ich ihm eine Wendeltreppe hinunter in eine kleine Bibliothek.

«Hier kann man sich leicht verlaufen«, sagt er.

«Es ist unglaublich«, sage ich und staune über das Labyrinth aus Zimmern und Fluren.

Wir setzen uns an einen lisch und nehmen uns die Akte Black vor. Er zeigt sich beeindruckt von meiner Organisation. Er fragt nach dieser oder jener Unterlage. Ich habe sie schon bei der Hand. Er will Namen und Daten. Ich habe sie alle parat. Dann mache ich Kopien von allem — eine Kopie für seine Akte, eine für meine.

Ich habe alles außer einem von den Blacks unterschriebenen Vertrag über die juristische Vertretung. Das scheint ihn zu überraschen, und ich erkläre, wie ich an den Fall geraten bin.

Wir müssen zusehen, daß wir einen Vertrag bekommen, sagt er mehr als einmal.

Als ich gehe, ist es nach zehn. Bei der Fahrt durch die Stadt ertappe ich mich dabei, wie ich in den Rückspiegel lächle. Gleich morgen früh werde ich Booker anrufen und ihm die gute Nachricht mitteilen. Dann werde ich Madeline Skinner ein paar Blumen bringen und mich bei ihr bedanken.

Es mag ein sehr bescheidener Job sein, aber der Weg kann nur nach oben führen. Gebt mir ein Jahr, und ich werde mehr Geld verdienen als Sara Plankmore und S. Todd und N. Elizabeth und F. Franklin und hundert andere Arschlöcher, denen ich in den letzten Monaten ängstlich aus dem Wege gegangen bin. Laßt mir nur ein bißchen Zeit.

Ich mache bei Yogi's Station und trinke ein Glas mit Prince. Ich erzähle ihm die wundervolle Neuigkeit, und er umarmt mich wie ein betrunkener Bär. Er meint, es täte ihm leid, mich zu verlieren. Ich sage ihm, ich würde trotzdem gern noch einen Monat oder so weiter für ihn arbeiten, vielleicht an den Wochenenden, bis ich das Examen hinter mir habe. Prince ist alles recht.

Ich sitze allein in einer Nische im Hintergrund, trinke ein Kühles und mustere die wenigen Gäste. Ich schäme mich nicht mehr. Zum ersten Mal seit Wochen schleppe ich nicht mehr dieses Gefühl der Demütigung mit mir herum. Jetzt bin ich bereit, in Aktion zu treten, meine Karriere in Angriff zu nehmen. Ich träume davon, Loyd Beck eines Tages in einem Gerichtssaal gegenüberzustehen.

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