Kapitel 12

Während ich mich durch die Fälle und Materialien hindurchwühlte, die Max Leuberg mir gegeben hat, war ich immer wieder verblüfft über die Anstrengungen, die reiche Versicherungsgesellschaften auf sich nehmen, um kleine Leute aufs Kreuz zu legen. Kein Dollar ist zu belanglos, um nicht verweigert, kein Plan zu kompliziert, um nicht in die Tat umgesetzt zu werden. Außerdem war ich verblüfft darüber, wie wenige Versicherungsnehmer tatsächlich vor Gericht ziehen. Die meisten konsultieren nicht einmal einen Anwalt. Man zeigt ihnen seitenweise juristisches Kauderwelsch in diesem Anhang hier und jenem Nachtrag da und redet ihnen ein, daß sie nur geglaubt hätten, sie wären versichert. Einer Untersuchung zufolge kommen wahrscheinlich nicht einmal fünf Prozent aller böswilligen Leistungsverweigerungen je einem Anwalt unter die Augen. Die Leute, die diese Policen kaufen, sind nicht gerade gebildet. Oft haben sie vor Anwälten ebensoviel Angst wie vor den Versicherungsgesellschaften. Schon der Gedanke, in einen Gerichtssaal gehen und vor einem Richter aussagen zu müssen, reicht aus, sie zum Schweigen zu bringen.

Barry Lancaster und ich verbringen fast zwei Tage damit, uns durch die Black-Akte hindurchzuwühlen. Er hat im Laufe der Jahre mehrere Leistungsverweigerungsfälle bearbeitet, mit unterschiedlichem Erfolg. Er sagt mehrfach, die Jurys in Memphis wären so verdammt konservativ, daß es schwer sei, einen gerechten Urteilsspruch zu erlangen. Das höre ich jetzt schon seit drei Jahren. Für einen Ort im Süden ist Memphis eine harte Gewerkschaftsstadt. Gewerkschaftsstädte bringen meistens gute Urteile zugunsten von Klägern zustande. Aber aus irgendeinem unerfindlichen Grund passiert das hier nur selten. Jonathan Lake hat eine Handvoll Millionen-Dollar-Ur-teile erreicht, zieht es jetzt aber vor, seine Fälle in anderen Staaten zu verhandeln.

Ich habe Mr. Lake noch nicht kennengelernt. Er steckt mit-ten in einem großen Prozeß und hat andere Dinge im Kopf, als seinen neuesten Mitarbeiter kennenzulernen.

Mein provisorisches Büro befindet sich in einer kleinen Bibliothek auf einer Empore oberhalb des zweiten Stockwerks. Es enthält drei runde Tische, acht Stapel Bücher, alle über ärztliche Kunstfehler. An meinem ersten vollen Arbeitstag hat Barry mir ein hübsches Büro gezeigt, nur ein paar Schritte von seinem entfernt, und erklärt, das würde in ein paar Wochen mir gehören. Muß erst frisch gestrichen werden, und es gibt irgendwelche Probleme mit den elektrischen Leitungen. Was kann man von einem alten Lagerhaus schon erwarten? hat er mich mehr als einmal gefragt.

Sonst habe ich noch niemanden in der Kanzlei kennengelernt, und ich bin sicher, das liegt daran, daß ich ein bescheidener Anwaltsgehilfe bin, kein Anwalt. Ich bin nichts Neues oder Besonderes. Anwaltsgehilfen kommen und gehen.

Sie sind alle sehr beschäftigt, und es geht hier nicht besonders kameradschaftlich zu. Barry spricht kaum über die anderen Anwälte im Haus; außerdem habe ich den Eindruck, daß jedes Prozeßteam so ziemlich auf sich allein gestellt ist. Ich habe das Gefühl, daß das Vorbereiten und Führen von Prozessen unter der Oberaufsicht von Jonathan Lake ein ziemlich hartes Geschäft ist.

Barry erscheint jeden Morgen kurz vor acht, und ich bin entschlossen, ihn an der Eingangstür zu erwarten, bis ich einen eigenen Schlüssel zu dem Gebäude bekommen habe. Offensichtlich ist Mr. Lake, was den Zugang zu seinem Bau betrifft, sehr eigen. Es gibt eine lange Geschichte, daß vor etlichen Jahren, als er in einem tückischen Prozeß mit einer Versicherung steckte, seine Telefone angezapft wurden. Barry hat mir die Geschichte erzählt, als ich das Thema eigener Schlüssel zum erstenmal zur Sprache brachte. Ein paar Wochen würde ich wohl noch so über mich ergehen lassen müssen, hat er gesagt. Und einen Lügendetektortest.

Er brachte mich auf der Empore unter, erteilte seine Anweisungen und verzog sich in sein Büro. Während der ersten beiden Tage hat er ungefähr alle zwei Stunden bei mir hereingeschaut. Ich kopierte die gesamte Black-Akte. Ohne sein Wissen fertigte ich auch eine vollständige Kopie der Akte für meine eigenen Unterlagen an. Am Ende des zweiten Tages nahm ich diese Kopie mit nach Hause, sicher in meinem hübschen neuen Aktenkoffer verstaut, einem Geschenk von Prince.

Barrys Hinweisen folgend, setzte ich einen ziemlich harten Brief an Great Benefit auf, in dem ich alle relevanten Fakten und ihre einschlägigen Missetaten darlegte. Als seine Sekretärin mit dem Tippen fertig war, umfaßte er vier Seiten. Er strich ihn radikal zusammen und schickte mich zurück in meine Ecke. Er arbeitet sehr intensiv und ist überaus stolz auf seine Konzentrationsfähigkeit.

In einer kurzen Pause an meinem dritten Tag nahm ich schließlich meinen Mut zusammen und fragte die Sekretärin nach dem meine Einstellung betreffenden Papierkram. Sie war beschäftigt, sagte aber, sie würde sich darum kümmern.

Am Ende des dritten Tages verließen Barry und ich kurz nach neun sein Büro. Wir hatten den Brief an Great Benefit fertiggestellt, ein dreiseitiges Meisterwerk, das per Einschreiben mit Rückschein rausgehen sollte. Barry spricht nie über das Leben außerhalb des Büros. Ich schlug vor, wir könnten zusammen ein Sandwich essen und ein Bier trinken, aber er ließ mich schnell abblitzen.

Ich fuhr zu Yogi's auf einen späten Imbiß. Der Laden war bis auf den letzten Platz voll mit betrunkenen Verbindungsstudenten, und Prince stand selber hinter der Bar. Worüber er keineswegs glücklich schien. Ich übernahm und sagte ihm, er solle gehen und Rausschmeißer spielen. Er war hoch erfreut.

Er ging statt dessen zu seinem Lieblingstisch, an dem sein Anwalt Bruiser Stone eine Camel nach der anderen rauchte und Wetten auf einen Boxkampf entgegennahm. Bruiser hatte an diesem Morgen wieder in der Zeitung gestanden und hatte natürlich von nichts etwas gewußt. Wie immer. Vor zwei Jahren hatten die Bullen in einem Müllcontainer hinter einer Oben-ohne-Bar eine Leiche gefunden. Der Verblichene war ein einheimischer Ganove, der einen Teil des Pornogeschäfts in der Stadt beherrschte und offensichtlich vorgehabt hatte, auch in der blühenden Busenbranche miteinzusteigen. Er traf sich in der falschen Gegend mit den falschen Leuten und wurde kaltgemacht; Bruiser würde so etwas nie tun, aber die Bullen sind ziemlich sicher, daß er sehr genau weiß, wer es war.

Er war in letzter Zeit sehr oft hier, hat eine Menge getrunken und mit Prince geflüstert.

Gott sei gedankt, daß ich einen richtigen Job habe. Ich hatte mich schon fast mit dem Gedanken abgefunden, Bruiser um Arbeit bitten zu müssen.

Heute ist Freitag, mein vierter Tag als Angestellter der Kanzlei Lake. Ich habe einer Handvoll Leuten erzählt, daß ich für die Kanzlei Lake arbeite, und das geht mir angenehm glatt von den Lippen. Hört sich ungeheuer befriedigend an. Die Kanzlei Lake. Niemand braucht nachzufragen. Man erwähnt nur den Namen, und die Leute sehen das prachtvolle alte Lagerhaus und wissen, daß hier der große Jonathan Lake mit seiner Truppe aus beinharten Anwälten residiert.

Booker hat fast geweint. Er kaufte Steaks und eine Flasche alkoholfreien Wein. Charlene hat gekocht, und wir haben bis Mitternacht gefeiert.

Ich hatte nicht vorgehabt, heute morgen vor sieben aufzustehen, aber dann hämmert es laut an meiner Wohnungstür. Es ist Miss Birdie, sie rüttelt am Türknauf und ruft:»Rudy! Rudy!«

Ich entriegele die Tür, und sie stürmt herein.»Rudy. Sind Sie wach?«Sie mustert mich in der kleinen Küche. Ich habe eine Turnhose an und ein T-Shirt, nichts Anstößiges. Ich blinzle zwischen halb geöffneten Lidern hervor, mein Haar ist völlig zerwühlt. Ich bin wach, aber nur gerade so eben.

Die Sonne ist kaum aufgegangen, aber sie hat bereits Erde auf der Schürze und Schlamm an den Schuhen.»Guten Morgen«, sage ich und bemühe mich angestrengt, nicht sauer zu klingen.

Sie lächelt, gelb und grau.»Habe ich Sie geweckt?«fötet sie.

«Nein. Ich wollte gerade aufstehen.«

«Gut. Wir haben viel Arbeit vor uns.«

«Arbeit? Aber…«

«Ja, Rudy. Sie haben den Mulch lange genug stehengelassen, jetzt wird es Zeit, daß wir damit anfangen. Er verrottet, wenn wir uns nicht beeilen.«

Ich blinzle immer noch und versuche, mich zu konzentrieren.»Heute ist Freitag«, murmele ich einigermaßen unsicher.

«Nein. Heute ist Samstag«, erklärt sie.

Wir starren uns ein paar Sekunden lang an, dann schaue ich auf die Uhr, eine Gewohnheit, die ich nach nur drei Arbeitstagen angenommen habe.»Es ist Freitag, Miss Birdie. Freitag. Heute muß ich arbeiten.«

«Es ist Samstag«, wiederholt sie dickköpfig.

Wir starren uns noch ein wenig länger an. Sie wirft einen Blick auf meine Turnhose. Ich betrachte ihre schmutzigen Schuhe.

«Hören Sie, Miss Birdie«, sage ich freundlich,»ich weiß, daß heute Freitag ist, und ich muß in anderthalb Stunden im Büro sein. Wir verteilen den Mulch am Wochenende.«

Natürlich versuche ich nur, sie zu besänftigen. Ich hatte eigentlich vorgehabt, den morgigen Vormittag an meinem Schreibtisch zu verbringen.

«Er wird verrotten.«

«Bis morgen nicht. «Verrottet Mulch im Sack tatsächlich? Ich glaube nicht.

«Morgen wollte ich die Rosen beschneiden.«

«Weshalb beschneiden Sie die Rosen nicht heute, während ich im Büro bin? Und morgen verteilen wir dann den Mulch.«

Sie denkt einen Moment darüber nach und bietet plötzlich einen erbarmungswürdigen Anblick. Ihre Schultern sacken herunter, und auf ihrem Gesicht erscheint ein trauriger Ausdruck. Es ist schwer zu sagen, ob sie betreten ist.

«Versprechen Sie es?«fragt sie demütig.

«Ich verspreche es.«

«Sie haben gesagt, Sie würden im Garten helfen, wenn ich die Miete heruntersetze.«

«Ja, ich weiß. «Wie könnte ich das vergessen? Sie hat mich bereits ein Dutzendmal daran erinnert.

«Also gut«, sagt sie, als hätte sie genau das bekommen, was sie erreichen wollte. Dann stapft sie zur Tür hinaus und die Treppe hinunter, wobei sie ununterbrochen etwas vor sich hin murmelt. Ich mache leise meine Tür zu und frage mich, wann sie morgen früh kommen wird, um mich zu holen.

Ich ziehe mich an und fahre zum Büro, wo auf dem Parkplatz bereits ein halbes Dutzend Wagen steht und das Lagerhaus teilweise erleuchtet ist. Es ist noch nicht sieben Uhr. Ich warte in meinem Wagen, bis ein anderer auf den Parkplatz fährt, und richte es so ein, daß ich mit einem Mann in mittleren Jahren an der Eingangstür zusammentreffe. Er hat einen Aktenkoffer und balanciert einen hohen Pappbecher mit Kaffee, während er nach seinem Schlüssel sucht.

Bei meinem Anblick wirkt er erschrocken. Dies ist keine sehr unsichere Gegend, aber trotzdem das Stadtgebiet von Memphis, und die Leute sind nervös.

«Guten Morgen«, sage ich freundlich.

«Morgen«, grunzt er.»Kann ich etwas für Sie tun?«

«Ja, Sir. Ich bin Barry Lancasters neuer Anwaltsgehilfe und möchte mich an die Arbeit machen.«

«Name?«

«Rudy Baylor.«

Seine Hände erstarren für einen Moment, und er runzelt die Stirn. Seine Unterlippe verzieht sich und schiebt sich vor, dann schüttelt er den Kopf.»Sagt mir nichts. Ich bin der kaufmännische Direktor. Niemand hat mir etwas von Ihnen gesagt.«

«Er hat mich vor vier Tagen eingestellt, ich schwöre es.«

Er schiebt den Schlüssel ins Schloß und wirft dabei einen ängstlichen Blick über die Schulter. Der Kerl denkt, ich wäre ein Dieb oder ein Killer. Dabei trage ich Anzug und Krawatte und sehe recht anständig aus.

«Tut mir leid. Aber Mr. Lake hat strenge Sicherheitsvorschriften erlassen. Vor Arbeitsbeginn kommt hier niemand herein, der nicht auf der Gehaltsliste steht. «Er springt fast durch die Tür.»Sagen Sie Barry, er soll mich heute vormittag anrufen«, sagt er, dann schlägt er mir die Tür vor der Nase zu.

Ich denke nicht daran, wie ein Hausierer vor dem Eingang herumzulungern und auf die nächste auf der Gehaltsliste stehende Person zu warten. Ich fahre ein paar Blocks zu einem Imbiß, wo ich eine Zeitung, Brötchen und Kaffee kaufe. Ich schlage eine Stunde tot, atme Zigarettenrauch ein und höre mir den Klatsch an, dann kehre ich auf den Parkplatz zurück, auf dem jetzt noch mehr Wagen stehen. Hübsche Wagen. Elegante deutsche Wagen und andere funkelnde Importe. Ich entscheide mich für einen Platz neben einem Chevrolet.

Die Empfangsdame hat mich mehrere Male kommen und gehen gesehen, tut aber so, als wäre ich ein völlig Fremder. Ich denke nicht daran, ihr mitzuteilen, daß ich hier angestellt bin, genau wie sie. Sie ruft Barry an, der grünes Licht gibt für mein Eindringen in das Labyrinth.

Er muß um neun im Gericht sein, Anträge in einem Produkthaftungsprozeß, deshalb ist er in Eile. Ich bin entschlossen, mit ihm über das Eintragen meines Namens in die Gehaltsliste zu reden, aber der Zeitpunkt ist ungünstig. Das hat noch ein oder zwei Tage Zeit. Er stopft Akten in einen großen Aktenkoffer, und einen Moment fasziniert mich der Gedanke, ihm heute morgen bei Gericht assistieren zu dürfen.

Er hat andere Pläne.»Ich möchte, daß Sie zu den Blacks fahren und mit einem unterschriebenen Vertrag zurückkommen. Das muß gleich geschehen. «Er betont das Wort» gleich«, also weiß ich genau, was ich zu tun habe.

Er gibt mir eine dünne Akte.»Hier ist der Vertrag. Ich habe ihn gestern abend vorbereitet. Sehen Sie ihn sich an. Er muß von allen drei Blacks unterschrieben werden — Dot, Buddy und Donny Ray, weil er volljährig ist.«

Ich nicke zuversichtlich, aber ich würde mich lieber schlagen lassen, als den Vormittag mit den Blacks zu verbringen. Ich werde Donny Ray kennenlernen, eine Begegnung, von der ich geglaubt habe, ich könnte sie bis in alle Ewigkeit aufschieben.»Und danach?«frage ich.

«Ich bin den ganzen Tag bei Gericht. Sie finden mich in Richter Andersens Gerichtssaal. «Sein Telefon läutet, und er winkt mich hinaus, als wäre meine Zeit abgelaufen.

Der Gedanke, daß ich alle Blacks um den Küchentisch versammeln und unterschreiben lassen muß, ist nicht erfreulich. Ich werde gezwungen sein, dazusitzen und zuzusehen, wie Dot durch den Hintergarten zu dem alten Fairlane hinausgeht, bei jedem Schritt schimpfend, um auf Buddy einzureden und ihn von seinen Katzen und seinem Gin wegzuholen. Wahrscheinlich wird sie ihn beim Ohr aus seinem Wagen zerren. Das könnte unerfreulich werden. Und ich werde nervös dasitzen, wenn sie im Hintergrund des Hauses verschwindet, um Donny Ray vorzubereiten, und dann den Atem anhalten, wenn er hereinkommt, um mich, seinen Anwalt, kennenzulernen.

Um soviel wie möglich von alledem zu vermeiden, halte ich bei einer Telefonzelle neben einer Gulf-Tankstelle und rufe Dot an. Es ist wirklich eine Schande. Die Kanzlei Lake verfügt über die allerneuesten elektronischen Geräte, und ich bin gezwungen, eine Telefonzelle zu benutzen. Gott sei Dank meldet sich Dot. Ein Telefongespräch mit Buddy kann ich mir beim besten Willen nicht vorstellen. Ich glaube nicht, daß er in seinem Fairlane ein Autotelefon hat.

Wie immer ist sie argwöhnisch, erklärt sich aber bereit, mir ein paar Minuten zu widmen. Ich erteile ihr nicht direkt die Anweisung, den Clan zu versammeln, betone aber, daß ich ihrer aller Unterschrift brauche. Und auf typische Anwaltsmanier sage ich, daß ich in großer Eile bin. Muß zum Gericht, Sie wissen schon. Richter warten.

Als ich vor dem Haus der Blacks vorfahre, knurren mich wieder die Hunde hinter dem Maschendrahtzaun des Nachbargrundstücks an. Dot steht auf der schmalen Veranda, den Filter einer Zigarette nur Zentimeter von den Lippen entfernt, und ein bläulicher Nebel driftet träge von ihrem Kopf über den Rasen des Vorgartens. Sie hat schon seit geraumer Zeit gewartet und geraucht.

Ich zwinge mich zu einem breiten, falschen Lächeln und begrüße sie auf jede nur erdenkliche Art. Die Falten um ihren Mund herum geraten kaum in Bewegung. Ich folge ihr durch das vollgestopfte, schwüle Wohnzimmer, an dem zerrissenen Sofa unter einer Kollektion von alten Porträts von den Blacks als glücklicher Familie vorbei, über den abgetretenen Teppich mit kleinen Brücken, die die Löcher verdecken sollen, in die Küche, wo niemand wartet.

«Kaffee?«fragt sie, auf meinen Platz am Küchentisch deutend.

«Nein, danke. Nur ein Glas Wasser.«

Sie füllt ein Plastikglas mit Leitungswasser, kein Eis, und stellt es vor mich. Langsam schauen wir beide zum Fenster hinaus.

«Ich kann ihn nicht dazu bringen, daß er hereinkommt«, sagt sie mit allergrößter Gleichgültigkeit. Ich nehme an, an manchen Tagen kommt Buddy herein, an anderen nicht.

«Weshalb nicht?«frage ich, als ob es für sein Verhalten rationale Gründe geben könnte.

Sie zuckt nur die Achseln.»Und Donny Ray brauchen Sie auch, oder?«

«Ja.«

Sie verschwindet aus der Küche und läßt mich mit meinem warmen Wasser und dem Blick auf Buddy zurück. In Wirklichkeit ist er kaum zu erkennen, weil die Windschutzscheibe seit Jahrzehnten nicht mehr gewaschen wurde und eine Horde räudiger Katzen auf der Haube herumturnt. Er hat irgendeine Mütze auf dem Kopf, vermutlich mit Ohrenklappen, und hebt langsam die Flasche an den Mund. Sie scheint in einer braunen Papiertüte zu stecken. Gemächlich trinkt er einen Schluck.

Ich höre Dot leise mit ihrem Sohn reden. Sie durchqueren das Wohnzimmer, dann sind sie in der Küche. Ich stehe auf, um Donny Ray Black zu begrüßen.

Er ist eindeutig dem Tode nahe, was immer der Grund dafür sein mag. Er ist entsetzlich mager und abgezehrt, hohlwangig, mit kreidebleicher Haut. Er war schon vor Ausbruch der Krankheit relativ klein, und jetzt geht er so gebeugt, daß er nicht größer ist als seine Mutter. Sein Haar und seine Brauen sind kohlschwarz, ein auffälliger Kontrast zu seiner bleichen Haut. Aber er lächelt und streckt mir eine knochige Hand entgegen, die ich so kräftig ergreife, wie ich es wage.

Dot hat ihn um die Taille gestützt, und jetzt schiebt sie ihn sanft auf einen Stuhl. Er trägt zu weite Jeans und ein weißes T-Shirt, das locker an seinem Skelett herunterhängt.

«Ich freue mich, Sie kennenzulernen«, sage ich und versuche, seinen eingesunkenen Augen auszuweichen.

«Mom hat nette Dinge über Sie gesagt«, erwidert er. Seine Stimme ist schwach und rauh, aber seine Worte sind deutlich zu verstehen. Mir ist nie der Gedanke gekommen, daß Dot nette Dinge über mich sagen könnte. Er stützt sein Kinn in beide Hände, als könnte sein Kopf nicht von selbst oben bleiben.»Sie sagt, Sie wollen diese Bande von Great Benefit verklagen, sie zum Zahlen zwingen. «Seine Worte klingen eher verzweifelt als wütend.

«Das stimmt«, sage ich. Ich schlage die Akte auf und hole eine Kopie des Briefes heraus, den Barry X. an Great Benefit geschrieben hat. Ich gebe sie Dot, die hinter Donny Ray steht.»Das hier haben wir eingereicht «erkläre ich, ganz der tüchtige Anwalt. Eingereicht im Gegensatz zu abgeschickt. Hört sich besser an, so, als wären wir jetzt tatsächlich am Werk.»Wir rechnen nicht damit, darauf eine befriedigende Antwort zu erhalten, also werden wir an einem der nächsten Tage klagen. Wahrscheinlich auf mindestens eine Million.«

Dot wirft einen Blick auf den Brief, dann legt sie ihn auf den Tisch. Ich hatte mit einer Salve von Fragen gerechnet, weshalb ich die Klage nicht schon längst eingereicht habe. Ich hatte Angst, es könnte unangenehm werden. Aber sie reibt nur sanft Donny Rays Schultern und schaut unglücklich zum Fenster hinaus. Sie wird sich genau überlegen, was sie sagt, weil sie ihn nicht aufregen will.

Donny Ray sitzt mit dem Gesicht zum Fenster.»Kommt Daddy nicht herein?«fragt er.

«Er will nicht«, antwortet sie.

Ich hole den Vertrag aus der Akte und gebe ihn Dot.»Der muß unterschrieben werden, bevor wir Klage einreichen können. Es ist ein Vertrag zwischen Ihnen, den Mandanten, und meiner Anwaltskanzlei. Ein Vertrag über juristische Vertretung.«

Sie hält ihn argwöhnisch in der Hand. Er umfaßt nur zwei Seiten.»Was steht da drin?«

«Oh, das Übliche. Ein Standardvertrag. Sie verpflichten uns als Ihre Anwälte, wir übernehmen den Fall, tragen die Unkosten, und wir bekommen ein Drittel von dem, was wir herausholen.«

«Und weshalb sind dafür zwei Seiten Kleingedrucktes nötig?«fragt sie und zieht eine Zigarette aus der Schachtel auf dem Tisch.

«Zünde die bloß nicht an«, fährt Donny Ray sie über die

Schulter hinweg an. Er sieht mich an und sagt:»Kein Wunder, daß ich sterbe.«

Ohne jedes Zögern steckt sie sich die Zigarette zwischen die Lippen und betrachtet das Dokument. Sie zündet sie nicht an.»Und das müssen wir alle drei unterschreiben?«

«So ist es.«

«Er hat gesagt, er kommt nicht herein«, sagt sie.

«Dann geh damit zu ihm hinaus«, sagt Donny Ray wütend.»Nimm einen Kugelschreiber und geh hinaus und bring ihn dazu, das verdammte Ding zu unterschreiben.«

«Darauf bin ich überhaupt nicht gekommen«, sagt sie.

«Ist doch nicht das erste Mal. «Donny Ray senkt den Kopf und kratzt sich am Schädel. Die scharfen Worte haben ihn angestrengt.

«Ich denke, das könnte ich wohl tun«, sagt sie, immer noch zögernd.

«Geh endlich, verdammt noch mal«, sagt er, und Dot wühlt in einer Schublade, bis sie einen Kugelschreiber gefunden hat. Donny Ray hebt den Kopf und stützt ihn auf die Hände. Seine Handgelenke sind so dünn wie Besenstiele.

«Bin gleich wieder da«, sagt Dot, als hätte sie etwas ein Stück die Straße hinunter zu erledigen und machte sich Sorgen um ihren Jungen. Sie geht langsam über die hintere Terrasse und in das Unkraut hinein. Eine Katze auf der Motorhaube sieht sie kommen und verzieht sich unter den Wagen.

«Vor ein paar Monaten«, sagt Donny Ray, dann macht er eine lange Pause. Sein Atem geht schwer, und sein Kopf schwankt leicht.»Vor ein paar Monaten mußten wir seine Unterschrift beglaubigen lassen, und er wollte nicht mitkommen. Sie hat eine Notarin gefunden, die sich bereit erklärte, für zwanzig Dollar einen Hausbesuch zu machen, aber als sie hier war, wollte er nicht hereinkommen. Also sind Mom und die Notarin zu seinem Wagen hinausgegangen. Sehen Sie die große orangefarbene Katze auf dem Wagendach?«

«Ja.«

«Wir nennen sie Claws. Sie ist gewissermaßen die Wachkatze hier. Jedenfalls, als die Notarin in den Wagen langte, um Buddy, der natürlich beduselt und kaum bei Bewußtsein war, die Papiere wieder abzunehmen, ist Claws vom Wagen gesprungen und hat die Notarin angegriffen. Hat uns sechzig Dollar für den Besuch des Arztes gekostet. Und eine neue Strumpfhose. Haben Sie schon einmal jemanden mit akuter Leukämie gesehen?«

«Nein. Bis jetzt nicht.«

«Ich wiege noch fünfundfünfzig Kilo. Vor elf Monaten waren es achtzig. Die Leukämie wurde so rechtzeitig entdeckt, daß sie noch behandelt werden konnte. Ich habe das Glück, einen Zwillingsbruder zu haben, und unser Knochenmark ist identisch. Eine Transplantation hätte mir das Leben gerettet, aber wir konnten sie uns nicht leisten. Obwohl wir versichert waren. Den Rest der Geschichte kennen Sie. Ich nehme an, Sie wissen das alles, stimmt's?«

«Ja. Ich bin mit Ihrem Fall vollauf vertraut, Donny Ray.«

«Gut«, sagt er erleichtert. Wir beobachten, wie Dot die Katzen wegscheucht. Claws, die auf dem Wagendach liegt, tut so, als schliefe sie. Claws will mit Dot Black nichts zu tun haben. Die Türen stehen offen, und Dot streckt den Vertrag hinein. Wir können ihre durchdringende Stimme hören.

«Ich weiß, Sie glauben, daß sie verrückt sind«, sagt er, meine Gedanken lesend.»Aber sie sind gute Menschen, die eine Menge durchgemacht haben. Haben Sie Geduld mit ihnen.«

«Ich finde sie sehr nett.«

«Ich bin zu achtzig Prozent hinüber, okay. Achtzig Prozent. Wenn ich diese Transplantation bekommen hätte, vor sechs Monaten, dann hätte ich eine neunzigprozentige Chance auf Heilung gehabt. Neunzig Prozent. Merkwürdig, wie die Ärzte mit Zahlen umgehen, um uns zu sagen, ob wir leben oder sterben werden. Jetzt ist es zu spät. «Er keucht plötzlich nach Luft, ballt die Fäuste und zittert am ganzen Körper. Sein Gesicht färbt sich leicht rosa, während er verzweifelt Luft einsaugt, und eine Sekunde lang habe ich das Gefühl, ihm helfen zu müssen. Er trommelt mit beiden Fäusten auf seine Brust, und ich habe Angst, daß sein ganzer Körper einbrechen könnte.

Endlich kommt er wieder zu Atem und schnaubt hastig durch die Nase. Und genau in diesem Moment fange ich an, die Great Benefit Life Insurance Company zu hassen.

Jetzt widerstrebt es mir nicht mehr, ihn anzusehen. Er ist mein Mandant, und er zählt auf mich. Ich akzeptiere ihn, wie er ist.

Sein Atem ist wieder so normal wie möglich, und seine Augen sind rot und feucht. Ich weiß nicht, ob er weint oder sich nur von dem Anfall erholt.»Tut mir leid«, flüstert er.

Claws faucht so laut, daß wir es hören können, und wir schauen gerade noch rechtzeitig hin, um zu sehen, wie sie durch die Luft fliegt und im Unkraut landet. Offenbar hat sich die Wachkatze ein wenig zu sehr für meinen Vertrag interessiert, und Dot hat ihr einen Hieb verpaßt. Dot sagt etwas Gemeines zu ihrem Mann, der noch tiefer hinter seinem Lenkrad zusammengesunken ist. Sie greift hinein, entreißt ihm den Papierkram, dann stürmt sie auf uns zu, während die Katzen in alle Richtungen flüchten.

«Zu achtzig Prozent hinüber, okay?«sagt Donny Ray heiser.»Ich werde also nicht mehr lange dasein. Was immer Sie aus diesem Fall herausholen, sorgen Sie bitte dafür, daß sie es bekommen. Sie haben ein schweres Leben gehabt.«

Das rührt mich so, daß ich nicht imstande bin, etwas zu erwidern.

Dot öffnet die Tür und schiebt den Vertrag über den Tisch. Die erste Seite ist unten leicht eingerissen, und auf der zweiten prangt ein Schmutzfleck. Ich hoffe, es ist kein Katzendreck.»So«, sagt sie. Auftrag erledigt. Buddy hat tatsächlich unterschrieben, seine Unterschrift ist völlig unleserlich.

Ich zeige hierhin und dorthin. Donny Ray und seine Mutter unterschreiben, und der Handel ist abgeschlossen. Wir unterhalten uns noch ein paar Minuten, dann fange ich an, auf die Uhr zu sehen.

Als ich gehe, sitzt Dot neben Donny Ray, streichelt ihm sanft den Arm und sagt ihm, daß alles gut werden wird.

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