Kapitel 34

Deck fährt mich in seinem Kombi zum Busbahnhof. Es ist früher Sonntagmorgen. Das Wetter ist klar und schön, die Luft riecht schon ein ganz klein wenig nach Herbst. Glücklicherweise haben wir die erstickende Schwüle für ein paar Monate hinter uns. Im Oktober ist Memphis ein sehr angenehmer Ort.

Ein Flugticket nach Cleveland und zurück kostet knapp siebenhundert Dollar. Wir haben geschätzt, daß ein Zimmer in einem preiswerten und trotzdem sicheren Motel vierzig Dollar pro Nacht kosten wird; die Verpflegungskosten werden minimal sein, weil ich mit sehr wenig auskommen kann. Die billigste Protokollantin in Cleveland, mit der ich am Telefon gesprochen habe, verlangt hundert Dollar pro Tag fürs Erscheinen und zwei Dollar pro Seite fürs Festhalten und Übertragen der Aussage. Es kommt nicht selten vor, daß derartige Vernehmungen hundert Seiten oder mehr umfassen. Wir würden sie auch gern auf Video festhalten, aber das ist unmöglich.

Und das gleiche gilt offenbar auch fürs Fliegen. Die Kanzlei Rudy Baylor kann sich einen Flug nach Cleveland einfach nicht leisten. Und eine lange Strecke mit dem Toyota zu fahren ist zu riskant. Wenn er streiken sollte, säße ich irgendwo fest, und die Vernehmungen müßten verschoben werden. Deck hat mir mehr oder weniger seinen Kombi angeboten, aber auch dem traue ich keine Fahrt über tausend Meilen zu.

Der Greyhound ist verläßlich, aber auch fürchterlich langsam. Irgendwann kommen die Busse ans Ziel. Sie sind nicht gerade meine erste Wahl, aber was soll's? Ich habe es nicht sonderlich eilig. Ich kann ein bißchen von der Landschaft sehen. Wir sparen Geld. Ich habe mir eine Menge Gründe einfallen lassen.

Deck fährt und sagt wenig. Ich glaube, er ist etwas verlegen, weil wir uns nichts Besseres leisten können. Und er weiß, daß er eigentlich auch mitkommen sollte. Ich bin im Begriff, feindselige Zeugen zu vernehmen, und es wird Unmengen von fri-sehen Dokumenten geben, die sofort begutachtet werden müssen. Es wäre schon gut, einen zweiten Mann dabeizuhaben.

Wir verabschieden uns auf dem Parkplatz neben dem Busbahnhof. Er verspricht, sich um die Kanzlei zu kümmern und ein paar Fälle an Land zu ziehen. Ich bezweifle nicht, daß er es versuchen wird. Er fährt davon, in Richtung St. Peter's.

Ich bin noch nie zuvor mit einem Greyhound gefahren. Der Bahnhof ist klein, aber sauber, und es wimmelt von Sonntagsreisenden, von denen die meisten alt und schwarz sind. Ich finde den richtigen Schalter und hole meine vorbestellte Fahrkarte ab. Sie kostet meine Kanzlei einhundertneununddreißig Dollar.

Der Bus fährt pünktlich um acht Uhr ab, zuerst westwärts nach Arkansas und dann nordwärts nach St. Louis. Erfreulicherweise bleibe ich davon verschont, daß sich jemand neben mich setzt.

Der Bus ist fast voll, nur drei oder vier Plätze sind frei. Dem Fahrplan zufolge sollen wir in sechs Stunden in St. Louis sein, um sieben Uhr abends in Indianapolis und um elf in Cleveland. Das sind fünfzehn Stunden in diesem Bus. Die Vernehmungen beginnen morgen früh um neun.

Ich bin sicher, daß meine Opponenten bei Trent & Brent noch schlafen, nach dem Aufstehen ausgiebig frühstücken und dann in Gesellschaft ihrer Frauen auf der Terrasse die Sonntagszeitung lesen werden. Einige von ihnen gehen vielleicht zur Kirche, dann ein guter Lunch und eine Runde Golf. So gegen fünf werden ihre Frauen sie zum Flughafen fahren und ihnen einen Abschiedskuß geben, und dann werden sie gemeinsam in der ersten Klasse abfliegen. Eine Stunde später werden sie in Cleveland landen, wo sie zweifellos von einem Chauffeur von Great Benefit abgeholt werden, der sie ins beste Hotel der Stadt bringt. Nach einem köstlichen Dinner mit Drinks und Wein werden sie sich in einem eleganten Konferenzzimmer versammeln und bis spät in die Nacht hinein Pläne gegen mich schmieden. Ungefähr um die Zeit, zu der ich in einem Motel eintreffe, werden sie sich schlafen legen, ausgeruht, wohlpräpariert, kampfbereit.

Die Zentrale von Great Benefit liegt in einem reichen Vorort von Cleveland, der durch die Flucht der Weißen aus anderen Stadtteilen entstanden ist. Ich erkläre meinem Taxifahrer, daß ich ein preiswertes Motel in der Nachbarschaft suche, und er weiß genau, wohin er fahren muß. Er hält vor dem Plaza Inn. Nebenan gibt es ein McDonald's, auf der anderen Straßenseite ein Blockbuster Video. Es ist eine reine Geschäftsstraße — kleine Läden, Fast food, grelle Reklametafeln, Einkaufszentren, billige Motels. Garantiert irgendwo eine Ladenpassage. Die Straße macht einen sicheren Eindruck.

Es sind massenhaft Zimmer frei, und ich bezahle zweiunddreißig Dollar, in bar, für eine Nacht. Ich bitte um eine Quittung, weil Deck eine haben will.

Zwei Minuten nach Mitternacht lege ich mich hin und starre an die Decke, und mir wird plötzlich klar, daß, von dem Portier des Motels abgesehen, keine Menschenseele auf der Welt weiß, wo ich mich befinde. Und es gibt niemanden, den ich anrufen könnte, um zu sagen, daß ich angekommen bin.

Natürlich kann ich nicht schlafen.

Seit ich angefangen habe, Great Benefit zu hassen, hatte ich ein Bild ihrer Zentrale vor Augen. Ich stellte mir ein hohes, modernes Gebäude vor mit Unmengen von funkelndem Glas, einem Springbrunnen neben dem Haupteingang, Fahnenstangen, Name und Emblem der Firma in Bronze. Reichtum und Anzeichen des Florierens allerorten.

Nicht ganz. Das Gebäude ist leicht genug zu finden, weil die Adresse in großen schwarzen Buchstaben neben einer Betoneinfahrt steht: 5550 Baker Gap Road. Aber der Name Great Benefit ist nirgends zu sehen. Von der Straße her ist das Gebäude durch nichts zu identifizieren. Keine Springbrunnen, keine Fahnenstangen, nur ein riesiges Konglomerat aus kantigen, blockartigen Gebäuden, zusammengekeilt und offenbar eins ans andere angebaut. Es ist alles sehr modern und unglaublich häßlich. Das Äußere ist weißer Beton mit schwarz getönten Fenstern.

Glücklicherweise ist der Haupteingang gekennzeichnet, und ich betrete ein kleines Foyer mit ein paar künstlichen

Topfpflanzen an der einen Wand und einer hübschen Empfangsdame an der anderen. Sie trägt einen schicken Kopfhörer mit einem dünnen Draht, der in einer Filzspitze nur Zentimeter von ihren Lippen entfernt endet. An der Wand hinter ihr stehen die Namen von drei nicht näher bezeichneten Firmen: PinnConn Group, Green Lake Marine und Great Benefit Life Insurance. Was gehört wem? Jede hat ein selbstbewußtes, in Bronze graviertes Emblem.

«Mein Name ist Rudy Baylor, und ich bin mit Mr. Paul Moyer verabredet«, sage ich höflich.

«Einen Moment bitte. «Sie drückt auf einen Knopf, wartet und sagt dann:»Mr. Moyer, ein Mr. Baylor für Sie. «Sie hört nie auf zu lächeln.

Sein Büro muß ganz in der Nähe sein, denn ich brauche nicht einmal eine Minute zu warten, bis er mit Händeschütteln und» Wie geht es Ihnen?«über mich herfällt. Ich folge ihm um eine Ecke herum, einen Korridor entlang zu einem Fahrstuhl. Er ist fast so jung wie ich und redet unaufhörlich über nichts. Wir steigen im vierten Stock aus, und ich weiß schon jetzt nicht mehr, an welcher Stelle dieses architektonischen Horrors ich mich befinde. Im vierten Stock gibt es Teppichboden, das Licht ist gedämpfter, an den Wänden hängen Bilder. Auf unserem Weg einen Korridor entlang redet Moyer ununterbrochen weiter, dann öffnet er eine schwere Tür und zeigt mir meinen Platz.

Willkommen bei einer der laut Fortune fünfhundert reichsten Firmen des Landes. Es ist ein Sitzungssaal, lang und breit, mit einem glänzenden Tisch in der Mitte und mindestens fünfzig Stühlen darum herum. Lederbezogene Stühle. Ein funkelnder Kronleuchter hängt kaum mehr als anderthalb Meter über der Mitte des Tisches. In der Ecke links von mir steht eine Bar, rechts ein Büffet mit Kafee, Keksen und Bagels. Davor hat sich eine Horde von Verschwörern versammelt, mindestens acht, alle in dunklem Anzug, weißem Hemd, gestreifter Krawatte, schwarzen Schuhen. Acht gegen einen. Das nervöse Zittern in meinen inneren Organen verwandelt sich in ein heftiges Beben. Wo ist Tyrone Kipler, wenn ich ihn brauche? Im Augenblick wäre sogar Decks Gegenwart tröstlich.

Vier von ihnen sind meine alten Freunde von Trent & Brent. Von den anderen ist mir ein Gesicht von den Anhörungen in Memphis her vertraut, die anderen drei sind Fremde, und alle verstummen auf der Stelle, sobald sie begriffen haben, daß ich eingetroffen bin. Eine Sekunde lang hören sie auf zu trinken, zu kauen und zu reden und starren mich an. Ich habe eine überaus ernsthafte Unterhaltung gestört.

T. Pierce Morehouse erholt sich als erster.»Rudy, kommen Sie herein«, sagt er, aber nur, weil er muß. Ich nicke B. Dewey Clay Hill dem Dritten zu, M. Alec Plunk Junior und Brandon Fuller Grone, dann reiche ich den vier neuen Bekanntschaften die Hand, während Morehouse ihre Namen herunterrattert, Namen, die ich sofort wieder vergesse. Das vertraute Gesicht von den Scharmützeln in Richter Kiplers Gerichtssaal ist Jack Underhall, einer der Hausanwälte von Great Benefit und der designierte Wortführer der Gesellschaft.

Meine Opponenten wirken klaräugig und frisch, reichlich Schlaf vergangene Nacht nach einem kurzen Flug und einem entspannenden Dinner. Sie sind alle gestärkt und frisch gebügelt, gerade so, als kämen ihre Sachen direkt aus dem Kleiderschrank und nicht aus einer Reisetasche. Meine Augen sind müde und gerötet, mein Hemd verknittert. Aber ich habe wichtigere Dinge im Kopf.

Die Protokollantin trifft ein, und T. Pierce dirigiert uns zum Ende des Tisches. Er zeigt hierhin und dorthin, reserviert den Sitz am Kopf für die Zeugen, überlegt genau, wo er jeden einzelnen plazieren soll. Ich begebe mich gehorsam zu meinem Stuhl und versuche, ihn näher an den Tisch heranzuschieben. Das ist Schwerarbeit, weil das verdammte Ding mindestens eine Tonne wiegt. Mir gegenüber, bestimmt mehr als drei Meter entfernt, öffnen die vier Burschen von Trent & Brent ihre Aktenkoffer mit soviel Lärm, wie sie nur hervorbringen können — Verschlüsse klicken, Reißverschlüsse schnurren auf, Akten werden herausgezerrt, Papier knistert. Binnen Sekunden ist der Tisch mit Papierstapeln übersät.

Die vier Typen von Great Beneft stehen hinter der Protokollantin, wissen nicht recht, wie es weitergehen soll, und warten auf T. Pierce. Sobald er seine Papiere und Notizblöcke zurechtgelegt hat, sagt er:»Also, Rudy, wir haben gedacht, wir fangen mit der Vernehmung von Jack Underhall an, dem designierten Sprecher für die Gesellschaft.«

Das habe ich vorhergesehen und mich bereits dagegen entschieden.»Nein, ich denke nicht«, sage ich ein wenig nervös. Ich bemühe mich verzweifelt, einen gelassenen Eindruck zu erwecken, obwohl ich mich auf fremdem Boden befinde und von Feinden umgeben bin. Es gibt mehrere Gründe dafür, weshalb ich nicht mit dem Anwalt anfangen will, und nicht der unwichtigste davon ist, daß es das ist, was sie wollen. Das sind meine Vernehmungen, sage ich mir immer wieder.

«Wie bitte?«sagt T. Pierce.

«Sie haben gehört, was ich gesagt habe. Ich möchte mit Jak-kie Lemancyzk anfangen, der zuständigen Sachbearbeiterin in der Schadensabteilung. Aber vorher möchte ich die Akte.«

Das Herzstück jedes Versicherungsfalles ist die Schadensakte, die Kollektion von Briefen und Dokumenten, die der Schadenssachbearbeiter in der Zentrale anlegt. In einem guten Fall ist die Schadensakte ein verblüffender historischer Bericht über eine Schluderei nach der anderen. Ich habe Anspruch auf sie und hätte sie schon vor zehn Tagen bekommen müssen. Drummond behauptet, er wäre unschuldig, sein Mandant schleppe die Sache hin. Kipler hat unmißverständlich angeordnet, daß die Akte heute morgen für mich auf dem Tisch zu liegen hat.

«Wir denken, es wäre besser, mit Mr. Underhall anzufangen«, sagt T. Pierce schwach.

«Mir ist egal, was Sie denken«, sage ich, und es hört sich bemerkenswert irritiert und entrüstet an. Ich kann damit durchkommen, weil der Richter auf meiner Seite steht.»Wollen wir den Richter anrufen?«frage ich spöttisch und ziemlich großspurig.

Obwohl Kipler nicht hier ist, hat seine Persönlichkeit Gewicht. Seine Anweisung besagt klipp und klar, daß die sechs Zeugen, die ich verlangt habe, um neun Uhr heute morgen zur Verfügung zu stehen haben und daß es einzig und allein meine Entscheidung ist, in welcher Reihenfolge sie vernommen werden. Sie müssen verfügbar bleiben, bis ich sie entlassen habe. Die Anweisung des Richters läßt außerdem die Tür offen für zusätzliche Vernehmungen, sobald ich mit den Befragungen angefangen und tiefere Regionen erreicht habe. Ich konnte es kaum abwarten, ihnen mit einem Anruf bei Seinen Ehren zu drohen.

«Äh, ja, also, mit Jackie Lemancyzk haben wir ein Problem«, sagt T. Pierce mit einem nervösen Blick auf die vier Typen, die sich rückwärts näher an die Tür herangeschoben haben. Alle vier betrachten ihre Füße, zappeln und zucken. T. Pierce sitzt mir am Tisch genau gegenüber, und er kämpft um Haltung.

«Was für ein Problem?«frage ich.

«Sie arbeitet nicht mehr hier.«

Ich kann gerade noch verhindern, daß mein Mund aufklappt. Einen Augenblick lang bin ich so verblüfft, daß mir nichts einfällt. Ich starre ihn an und versuche, meine Gedanken zu ordnen.»Wann ist sie gegangen?«frage ich.

«Ende voriger Woche.«

«Wann genau? Am Donnerstag waren wir vor Gericht. Haben Sie es da schon gewußt?«

«Nein. Sie hat am Samstag aufgehört.«

«Ist sie fristlos entlassen worden?«

«Sie hat gekündigt.«

«Wo ist sie jetzt?«

«Sie arbeitet nicht mehr hier, okay? Sie steht als Zeugin nicht zur Verfügung.«

Ich werfe einen Blick auf meine Notizen, suche nach weiteren Namen.»Okay, wie ist es mit Tony Krick, dem zweiten Sachbearbeiter?«

Noch mehr Zucken und Zappeln.

«Der ist auch weg«, sagt T. Pierce.»Er ist im Rahmen eines Personalabbaus entlassen worden.«

Ich stecke einen zweiten Schlag auf die Nase ein. Ich bin so benommen, daß ich nicht weiß, was ich als nächstes tun soll.

Great Benefit hat tatsächlich Leute entlassen, damit sie nicht mit mir reden können.

«Was für ein Zufall«, sage ich sarkastisch. Plunk, Hill und

Grone schauen nicht von ihren Blöcken auf. Ich kann mir nicht vorstellen, was sie zu schreiben haben.

«Unser Mandant baut gegenwärtig eine ganze Reihe von Stellen ab«, sagt T. Pierce, ohne eine Miene zu verziehen.

«Was ist mit Richard Pellrod, leitender Sachbearbeiter der Schadensabteilung? Lassen Sie mich raten — er ist auch abgebaut worden.«

«Nein, er ist hier.«

«Und Russell Krokit?«

«Mr. Krokit ist zu einer anderen Firma übergewechselt.«

«Also wurde er nicht abgebaut?«

«Nein.«

«Er hat gekündigt, wie Jackie Lemancyzk?«

«So ist es.«

Russell Krokit war Leiter der Schadensabteilung, als er den Blöde-Brief schrieb. So nervös und verängstigt ich dieser Reise auch entgegengesehen habe, auf seine Vernehmung habe ich mich irgendwie gefreut.

«Und Everett Lufkin, der für die Schadensabteilung zuständige Vizepräsident? Abgebaut?«

«Nein. Er ist hier.«

Es folgt eine unglaublich lange Periode des Schweigens, in der sich alle mit rein gar nichts beschäftigen, während der Staub sich legt. Mein Prozeß hat einen Aderlaß ausgelöst. Ich mache mir eingehende Notizen, liste auf, wie ich weiter vorgehen will.

«Wo ist die Akte?«frage ich.

T. Pierce langt hinter sich, greift einen Stapel Papiere und schiebt sie über den Tisch. Sie sind säuberlich kopiert und werden von dicken Gummibändern zusammengehalten.

«Ist sie chronologisch geordnet?«frage ich. Kiplers Anweisung verlangt das.

«Ich denke schon«, sagt T. Pierce und wirft einen Blick auf die vier Great-Benefit-Typen, als würde er sie am liebsten erwürgen.

Die Akte ist gut zehn Zentimeter dick. Ohne die Gummibänder abzustreifen, sage ich.»Geben Sie mir eine Stunde. Dann machen wir weiter.«

«In Ordnung«, sagt T. Pierce.»Nebenan ist ein kleiner Konferenzraum. «Er steht auf und deutet auf die Wand hinter mir.

Ich folge ihm und Jack Underhall in den angrenzenden Raum, wo sie mich rasch verlassen. Ich setze mich an den Tisch und fange sofort an, mich durch die Dokumente hindurchzuwühlen.

Eine Stunde später kehre ich in den Sitzungssaal zurück. Sie trinken Kaffee und unterhalten sich lustlos über irgendwelche belanglosen Dinge.»Wir müssen den Richter anrufen«, sage ich, und T. Pierce ist plötzlich hellwach.»Hier drinnen«, sage ich und deute auf den kleinen Raum.

Mit ihm an einem Apparat und mir am anderen wähle ich die Nummer von Kiplers Büro. Er meldet sich beim zweiten Läuten. Wir nennen unsere Namen und sagen guten Morgen.»Wir haben hier ein kleines Problem, Euer Ehren«, sage ich, bemüht, das Gespräch im richtigen Ton zu beginnen.

«Was für ein Problem?«will er wissen. T. Pierce hört zu und starrt mit leerer Miene auf den Fußboden.

«Nun, von den sechs Zeugen, die ich angefordert und die Sie in Ihrer Anweisung benannt hatten, sind drei plötzlich verschwunden. Sie haben gekündigt, wurden im Rahmen eines Personalabbaus entlassen oder haben ein anderes Schicksal ähnlicher Art erlitten. Sie sind nicht da. Ist Ende voriger Woche passiert.«

«Wer?«

Ich bin sicher, er hat die Akte vor sich und betrachtet die Namen.

«Jackie Lemancyzk, Tony Krick und Russell Krokit arbeiten nicht mehr hier. Pellrod, Lufkin und Underhall, der Anwalt, haben das Blutbad erstaunlicherweise überlebt.«

«Was ist mit der Akte?«

«Die habe ich bekommen und gerade eben durchgesehen.«

«Und?«

«Es fehlt mindestens ein Dokument«, sage ich und beobachte dabei T. Pierce genau. Er runzelt die Stirn, als könnte er das nicht glauben.

«Welches?«

«Der Blöde-Brief. Er ist nicht in der Akte. Ich hatte noch nicht die Zeit, alles andere zu überprüfen.«

Die Anwälte von Great Benefit haben den Blöde-Brief vorige Woche zum ersten Mal gesehen. Auf der Kopie, die Dot während ihrer Vernehmung Drummond ausgehändigt hat, war dreimal das Wort KOPIE aufgestempelt. Das hatte ich mit Absicht getan, damit wir später, wenn der Brief auftauchte, wissen würden, wo er herkommt. Das Original ist sicher in meinen Unterlagen verstaut. Es wäre sogar für Drummond und Genossen zu riskant, ihre gekennzeichnete Kopie des Briefes Great Benefit zu übergeben, damit sie ihn nachträglich ihrer Schadensakte einverleiben können.

«Stimmt das, Pierce?«fragt Richter Kipler.

Pierce ist echt hilflos.»Tut mir leid, Euer Ehren, ich weiß es nicht. Ich habe die Akte zwar durchgesehen, aber es kann durchaus sein. Ich habe nicht alles überprüft.«

«Befinden Sie sich beide im selben Raum?«fragt Kipler.

«Ja, Sir«, erwidern wir einstimmig.

«Gut. Pierce, gehen Sie bitte hinaus. Rudy, Sie bleiben am Apparat.«

T. Pierce will etwas sagen, überlegt es sich dann aber anders. Verwirrt legt er seinen Hörer auf und verläßt den Raum.

«Okay, Richter, wir sind unter uns«, sage ich.

«Wie ist die Stimmung dort?«fragt er.

«Mächtig angespannt.«

«Das überrascht mich nicht. Ich werde folgendes tun. Durch das Beiseiteschaffen von Zeugen und das Vorenthalten von Dokumenten bin ich jetzt in der Position, anzuordnen, daß alle Vernehmungen hier durchgeführt werden. Es ist Ermessenssache, und sie haben eine Bestrafung verdient. Ich finde, Sie sollten Underhall vernehmen und niemanden sonst. Fragen Sie ihm meinetwegen ein Loch in den Bauch, aber versuchen Sie, ihn wegen der Entlassung der drei fehlenden Zeugen festzunageln. Werfen Sie ihm an den Kopf, was Sie können. Wenn Sie mit ihm fertig sind, kommen Sie zurück. Ich werde für später in dieser Woche eine Anhörung ansetzen und der Sache auf den Grund gehen. Lassen Sie sich auch die Akte der Haftungsabteilung geben.«

Ich mache mir Notizen, so schnell ich kann.

«Und jetzt lassen Sie mich mit Pierce sprechen«, sagt er,»und geben Sie ihm Saures.«

Jack Underhall ist ein kompakter kleiner Mann mit knappem Schnurrbart und knapper Redeweise. Er setzt mich über die Gesellschaft ins Bild. Great Beneft gehört PinnConn, einer Firma in Privatbesitz, deren Inhaber schwer festzustellen sind. Ich befrage ihn ausführlich über die Zusammenhänge und Verbindungen zwischen den drei Firmen, die in diesem Gebäude residieren, und sie sind völlig undurchschaubar. Wir reden eine Stunde über die Struktur der Gesellschaft, vom Generaldirektor abwärts. Wir reden über Produkte, Verkaufsziffern, Märkte, Abteilungen, Personal, alles bis zu einem gewissen Punkt interessant, aber zum größten Teil nutzlos. Er legt zwei Kündigungsschreiben der verschwundenen Zeugen vor und versichert mir, ihr Ausscheiden hätte absolut nichts mit diesem Fall zu tun.

Ich befrage ihn drei Stunden lang, dann mache ich Schluß. Ich hatte mich darauf eingestellt, mindestens drei Tage in Cleveland verbringen zu müssen, in einem Raum mit den Typen von Trent & Brent, mich mit einem feindseligen Zeugen nach dem anderen herumzuschlagen und mich abends durch Berge von Dokumenten hindurchzuwühlen.

Aber ich verlasse diesen Ort bereits kurz vor zwei auf Nimmerwiedersehen, beladen mit frischen Dokumenten, die Deck unter die Lupe nehmen wird, und in dem sicheren Wissen, daß nun drei Arschlöcher gezwungen sein werden, in meinem Revier zu erscheinen und ihre Aussagen in meinem Gerichtssaal zu machen, mit meinem Richter ganz in der Nähe.

Die Rückfahrt nach Memphis kommt mir viel kürzer vor.

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