Kapitel 38

Langsam sammeln sich in unserem Büro die Beweise kommerzieller Aktivitäten an, so bescheiden und wenig einträglich sie auch sein mögen. Hier und dort stapeln sich dünne Akten, immer offen daliegend, damit ein Mandant, der mich aufsucht, sie sehen kann. Ich habe fast ein Dutzend mir vom Gericht zugewiesene Kriminalfälle, sämtlich mindere Delikte und nicht besonders schwerwiegende Straftaten. Deck behauptet, er hätte dreißig Akten, aber diese Zahl kommt mir ein wenig zu hoch vor.

Auch das Telefon klingelt jetzt häufiger. Es gehört sehr viel Disziplin dazu, in einen Apparat zu sprechen, in dem eine Wanze sitzt, und ich muß mich jeden Tag neu überwinden. Ich sage mir immer wieder, daß vor dem Anzapfen unserer Telefone eine richterliche Verfügung unterschrieben worden sein muß, die ein derartiges Eindringen in unsere Privatsphäre gestattet. Ein Richter mußte es genehmigen, also muß es schon halbwegs legitim sein.

Im Vorderzimmer stehen immer noch die gemieteten Tische, auf denen sich die zum Black-Fall gehörenden Dokumente türmen, und ihr Vorhandensein erweckt den Anschein, als wäre hier ein wahrhaft großes Werk im Gange.

Auf jeden Fall wirkt das Büro beschäftigter. Nach mehreren Monaten im Geschäft betragen unsere Unkosten bescheidene siebzehnhundert Dollar pro Monat. Unser Bruttoeinkommen beläuft sich auf durchschnittlich dreitausendzweihundert, so daß Deck und ich uns — auf dem Papier — fünfzehnhundert Dollar teilen können, vor Steuern und anderen Abzügen.

Wir überleben. Unser bester Mandant ist Derrick Dogan, und wenn es uns gelingt, seinen Fall mit einem Vergleich über fünfundzwanzigtausend, dem Höchstbetrag der Police, abzuschließen, können wir leichter atmen. Wir hoffen, daß das noch vor Weihnachten passiert, obwohl ich nicht recht weiß, warum wir das tun. Weder Deck noch ich haben jemanden, für den wir gern Geld ausgeben würden.

Ich werde die Feiertage damit verbringen, an dem BlackFall zu arbeiten. Der Februar ist nicht mehr fern.

Die heutige Post ist Routine, mit zwei Ausnahmen. Sie enthält nicht das geringste von Trent & Brent. Das kommt so selten vor, daß es direkt eine Freude ist. Die zweite Überraschung versetzt mir einen solchen Schlag, daß ich eine Weile in meinem Büro herumwandern muß, um ihn zu verdauen.

Der Umschlag ist groß und quadratisch, mein Name und meine Adresse sind mit der Hand geschrieben. Drinnen steckt eine gedruckte Einladung zu einer vorweihnachtlichen Verkaufsausstellung von goldenen Ketten und Armbändern in einem Juweliergeschäft in einem hiesigen Einkaufszentrum. Es ist nur eine Werbung von der Sorte, die normalerweise gleich im Papierkorb gelandet wäre, wenn sie einen vorgedruckten Adressenaufkleber gehabt hätte.

Am unteren Rand der Karte, unterhalb der Öffnungszeiten des Ladens, steht in einer recht hübschen Handschrift der Name: Kelly Riker. Keine Nachricht. Nichts. Nur der Name.

Nach meiner Ankunft wandere ich eine Stunde lang in dem Einkaufszentrum herum. Ich beobachte Kinder beim Schlittschuhlaufen auf einer Eisbahn. Ich beobachte Teenager dabei, wie sie in Horden durch die Gänge streifen. Ich kaufe mir einen Teller mit aufgewärmtem chinesischen Essen und verzehre es auf der Promenade oberhalb der Eisbahn.

Der Juwelierladen ist eines von mehr als hundert Geschäften unter diesem Dach. Beim ersten Vorbeischlendern habe ich sie an einer Kasse stehen sehen.

Ich betrete den Laden hinter einem jungen Paar und gehe langsam auf den langen Glastresen zu, an dem Kelly eine Kundin bedient. Sie schaut auf, sieht mich und lächelt. Ich weiche ein paar Schritte zurück, lehne mich mit einem Ellenbogen auf einen Tresen und betrachte die funkelnde Auslage von Goldketten, die fast so dick sind wie Schiffstaue. Der Laden ist voll.

Ein halbes Dutzend Verkäuferinnen redet und holt Stücke aus den Schaukästen.

«Kann ich Ihnen helfen, Sir?«sagt sie, als sie mir gegenübersteht, nur einen halben Meter entfernt. Ich sehe sie an und schmelze dahin.

Wir lächeln uns so lange an, wie wir es wagen.»Ich sehe mich nur um«, sage ich. Niemand beobachtet uns, das hoffe ich jedenfalls.»Wie geht es Ihnen?«

«Gut, und Ihnen?«

«Prächtig.«

«Darf ich Ihnen etwas zeigen? Das sind Sonderangebote.«

Sie streckt einen Finger aus, und wir betrachten eine Kette, die zu einem Zuhälter passen würde.»Hübsch«, sage ich, gerade laut genug, daß sie es hören kann.»Können wir miteinander reden?«

«Nicht hier«, sagt sie und beugt sich noch weiter vor. Ich erhasche einen Hauch von ihrem Parfüm. Sie schließt den Schaukasten auf, schiebt die Tür beiseite und holt eine fünfundzwanzig Zentimeter lange Goldkette heraus.»Gleich neben dem Einkaufszentrum ist ein Kino. Nehmen Sie eine Karte für den Eddie-Murphy-Film. Mittelabschnitt, letzte Reihe. Ich komme in einer halben Stunde nach.«

«Eddie Murphy?«sage ich, halte die Kette in der Hand und bewundere sie.

«Hübsch, nicht wahr?«

«Ja, wirklich hübsch. Sie gefällt mir. Aber ich möchte mich erst noch ein wenig umsehen. «Sie nimmt mir die Kette ab und sagt, ganz die perfekte Verkäuferin:»Beehren Sie uns bald wieder.«

Meine Knie sind weich, und ich schwebe durch das Einkaufszentrum. Sie hat gewußt, daß ich kommen würde, und sie hat alles geplant — das Kino, den Film, den Platz und den Abschnitt. Ich trinke neben einem überarbeiteten Weihnachtsmann einen Kaffee und versuche mir vorzustellen, was sie sagen wird, was ihr im Kopf herumgeht. Um mir einen gräßlichen Film zu ersparen, warte ich mit dem Kauf der Eintrittskarte bis zur letzten Minute.

Im Kino sitzen kaum fünfzig Zuschauer. Ein paar Kids, zu

jung für einen nicht jugendfreien Film, sitzen ziemlich weit vorn und kichern über jede Obszönität. Ein paar weitere traurige Seelen sind in der Dunkelheit verstreut. Die hinterste Reihe ist leer.

Sie kommt ein paar Minuten zu spät und setzt sich neben mich. Sie schlägt die Beine übereinander, ihr Rock rutscht bis über die Knie hoch. Ich kann nicht anders, ich muß hinschauen.

«Kommen Sie oft hierher?«sagt sie, und ich lache. Sie wirkt überhaupt nicht nervös, aber ich bin es.

«Sind wir hier sicher?«frage ich.

«Sicher wovor?«

«Vor Ihrem Mann.«

«Ja, er ist heute abend mit seinen Freunden unterwegs.«

«Trinkt er wieder?«

«Ja«

Das kann Schlimmes bedeuten.

«Aber nicht viel«, setzt sie dann hinzu.

«Also hat er Sie nicht…«

«Nein. Lassen Sie uns über etwas anderes reden.«

«Tut mir leid. Ich mache mir Ihretwegen Sorgen, das ist alles.«

«Weshalb machen Sie sich meinetwegen Sorgen?«

«Weil ich ständig an Sie denke. Denken Sie jemals an mich?«

Wir starren auf die Leinwand, sehen aber nichts.

«Immerzu«, sagt sie, und mein Herz steht still.

Auf der Leinwand reißen sich ein Mann und eine Frau plötzlich die Kleider vom Leibe. Sie fallen auf ein Bett, Kissen und Unterwäsche fliegen durch die Luft, dann umarmen sie sich hitzig, und das Bett beginnt zu beben. Während die beiden sich lieben, schiebt Kelly ihren Arm unter meinen und rückt näher an mich heran. Wir reden nicht, bis eine andere Szene kommt. Danach fange ich wieder an zu atmen.

«Wann hast du angefangen zu arbeiten?«frage ich.

«Vor zwei Wochen. Wir brauchen ein bißchen Extrageld für Weihnachten.«

Wahrscheinlich verdient sie zwischen jetzt und Weihnachten mehr als ich.»Er erlaubt dir, zu arbeiten?«»Ich möchte nicht über ihn reden.«

«Worüber möchtest du denn reden?«

«Was macht das Anwaltsgeschäft?«

«Es geht so. Im Februar habe ich einen großen Prozeß.«

«Also kommst du zurecht?«

«Es ist schwierig, aber allmählich geht es voran. Anwälte hungern, und wenn sie Glück haben, scheffeln sie irgendwann Geld.«

«Und wenn sie kein Glück haben?«

«Dann hungern sie weiter. Ich möchte nicht über Anwälte reden.«

«Okay. Cliff will, daß ich ein Baby bekomme.«

«Was würde das ändern?«

«Ich weiß es nicht.«

«Tu es nicht, Kelly«, sage ich mit einer Leidenschaft, die mich selbst überrascht. Wir sehen uns an und drücken uns die Hände.

Weshalb sitze ich hier in einem dunklen Kino und halte die Hand einer verheirateten Frau? Das ist die Frage des Tages. Was wäre, wenn Cliff plötzlich hier auftauchen und mich dabei erwischen würde, wie ich mit seiner Frau schmuse? Wen würde er zuerst umbringen?

«Er hat gesagt, ich soll aufhören, die Pille zu nehmen.«

«Hast du es getan?«

«Nein. Aber ich mache mir Sorgen, was passieren könnte, wenn ich nicht schwanger werde. In der Vergangenheit war es nicht sonderlich schwierig, wie du dich vielleicht erinnerst.«

«Es ist dein Körper.«

«Ja, und er will ihn ständig. Er ist neuerdings von Sex geradezu besessen.«

«Ich — äh — würde lieber über etwas anderes reden.«

«Okay. Aber allmählich geht uns der Gesprächsstoff aus.«

«Ja, das stimmt.«

Wir lösen unsere Hände voneinander und schauen uns ein paar Augenblicke den Film an. Kelly dreht sich langsam um und stützt sich mit dem Ellenbogen auf. Unsere Gesichter sind nur ein paar Zentimeter voneinander entfernt.»Ich wollte dich nur sehen, Rudy«, sagt sie, fast flüsternd.

«Bist du glücklich?«frage ich und berühre mit dem Handrücken ihre Wange. Wie könnte sie glücklich sein?

Sie schüttelt den Kopf.»Nein, eigentlich nicht.«

«Was kann ich tun?«

«Nichts. «Sie beißt sich auf die Lippe, und ich glaube, ich sehe feuchte Augen.

«Du mußt dich entscheiden«, sage ich.

«Ja?«

«Entweder mich vergessen oder die Scheidung einreichen.«

«Ich dachte, du wärst mein Freund.«

«Das dachte ich auch. Aber ich bin es nicht. Es ist mehr als Freundschaft, und wir wissen es beide.«

Wir schauen einen Moment auf die Leinwand.

«Ich muß gehen«, sagt sie.»Meine Pause ist gleich um. Tut mir leid, daß ich dir Scherereien gemacht habe.«

«Du hast mir keine Scherereien gemacht, Kelly. Ich bin froh, daß ich dich sehen konnte. Aber diese heimliche Tour mache ich nicht mit. Entweder reichst du die Scheidung ein, oder du vergißt mich.«

«Ich kann dich nicht vergessen.«

«Dann laß uns die Scheidung einreichen. Wir können es gleich morgen tun. Ich helfe dir, diesen Mistkerl loszuwerden, und dann können wir ein bißchen Spaß miteinander haben.«

Sie beugt sich vor, haucht mir einen Kuß auf die Wange und ist verschwunden.

Ohne mir vorher Bescheid zu sagen, schmuggelt Deck sein Telefon aus der Kanzlei und bringt es zu Butch, dann gehen sie damit zusammen zu einem Bekannten, der angeblich früher einmal für irgendeine Abteilung beim Militär gearbeitet hat. Nach Meinung des Bekannten hat das immer noch in unserem Telefon steckende Abhörgerät nicht die geringste Ähnlichkeit mit den Wanzen, die das FBI und andere Strafverfolgungsbehörden gewöhnlich benutzen. Es ist in der ehemaligen Tschechoslowakei hergestellt, von mittlerer Stärke und Qualität, und speist einen irgendwo nahebei aufgestellten Sender. Er ist ziemlich sicher, daß es nicht von der Polizei oder dem FBI angebracht worden ist.

Ich bekomme diesen Bericht eine Woche vor Thanksgiving bei einer Tasse Kaffee.

«Jemand anders hört uns ab«, sagt Deck nervös.

Ich bin zu verblüfft, um reagieren zu können.

«Wer könnte das sein?«fragt Butch.

«Woher zum Teufel soll ich das wissen?«fahre ich ihn wütend an. Dieser Bursche hat nicht das Recht, solche Fragen zu stellen. Sobald er gegangen ist, werde ich Deck die Hölle heiß machen, daß er ihn so rief in unsere Angelegenheiten hineingezogen hat. Ich funkele meinen Partner an, der den Blick abwendet, auf dem Stuhl herumrutscht und darauf wartet, daß Fremde ihn attackieren.

«Nun, die Feds sind es jedenfalls nicht«, sagt Butch nachdrücklich.

«Danke.«

Wir bezahlen den Kaffee und kehren in unsere Kanzlei zurück. Butch überprüft noch einmal die Telefone, nur so zur Sicherheit. In allen stecken immer noch die gleichen runden Dinger.

Die Frage ist nun: Wer hört mit?

Ich gehe in mein Büro, schließe die Tür ab und schlage die Zeit tot, während ich darauf warte, daß Butch verschwindet, und dabei kommt mir eine geniale Idee. Schließlich klopft Deck an meine Tür, gerade so laut, daß ich es hören kann.

Wir diskutieren meinen kleinen Plan. Deck fährt in die Innenstadt zum Gericht. Eine halbe Stunde später ruft er mich an und informiert mich über den neuesten Stand von mehreren fiktiven Fällen. Er wollte sich nur melden, sagt er, ob ich irgend etwas aus der Innenstadt brauchte?

Wir unterhalten uns ein paar Minuten über dieses und jenes, dann sage ich:»Raten Sie mal, wer jetzt zu einem Vergleich bereit ist.«

«Wer?«

«Dot Black.«

«Dot Black?«fragt er, ungläubig und geheuchelt. Deck hat keinerlei schauspielerische Qualitäten.

«Ja, ich habe sie heute morgen besucht, ihr einen Obstkuchen gebracht. Sie hat gesagt, sie hätte einfach nicht die

Kraft, den Prozeß durchzustehen. Sie will sofort einen Vergleich.«

«Wieviel?«

«Sie sagte, sie würde hundertsechzig akzeptieren. Sie hat darüber nachgedacht, und weil ihr höchstes Angebot hundertfünfzig ist, glaubt sie, sie hätte einen kleinen Sieg errungen, wenn sie mehr zahlen, als sie eigentlich wollten. Sie hält sich für eine tolle Verhandlerin. Ich habe versucht, ihr die Lage zu erklären, aber Sie wissen ja, wie dickköpfig sie ist.«

«Tun Sie es nicht, Rudy. Dieser Fall ist ein Vermögen wert.«

«Ich weiß. Kipler glaubt, daß wir eine riesige Geldstrafe erreichen werden, aber sie wissen ja, ich bin aus ethischen Gründen verpflichtet, mich mit Drummond in Verbindung zu setzen und zu versuchen, einen Vergleich auszuhandeln. Meine Mandantin will es so.«

«Tun Sie es nicht. Hundertsechzig sind kaum mehr als ein Trinkgeld. «Deck bringt das halbwegs überzeugend vor, aber ich muß doch grinsen. Er ist bereits damit beschäftigt, sich seinen Anteil an hundertsechzigtausend Dollar auszurechnen.»Glauben Sie, daß sie hundertsechzig zahlen werden?«fragt er.

«Ich weiß es nicht. Ich hatte den Eindruck, daß sie nicht über hundertfünfzig hinausgehen wollten. Aber ich habe nie widersprochen. «Wenn Great Benefit bereit ist, hundertfünfzig zu zahlen, um diesen Fall abzuschließen, dann werden sie uns auch hundertsechzig in den Rachen werfen.

«Lassen Sie uns darüber sprechen, wenn ich zurück bin«, sagt er.

«Okay. «Wir legen auf, und eine halbe Stunde später sitzt Deck mir an meinem Schreibtisch gegenüber.

Fünf Minuten vor neun am folgenden Morgen läutet das Telefon. Deck nimmt den Anruf in seinem Büro entgegen und kommt in mein Zimmer gerannt.»Es ist Drummond«, sagt er. Unsere kleine Kanzlei ist über ihren eigenen Schatten gesprungen und hat von Radio Shack einen Vierzig-Dollar-Re-corder gekauft. Er ist an mein Telefon angeschlossen. Wir hoffen nur, daß er sich nicht auf das Abhörgerät auswirkt. Butch hat gesagt, er wäre ziemlich sicher, daß es da kein Problem geben würde.

«Hallo«, sage ich und versuche, mir meine Nervosität nicht anmerken zu lassen.

«Rudy? Leo Drummond hier«, sagt er herzlich.»Wie geht es Ihnen?«

Die Ethik würde gebieten, daß ich ihm zu diesem Zeitpunkt mitteile, daß ein Recorder läuft, und ihm die Chance gebe, darauf zu reagieren. Aus naheliegenden Gründen haben Deck und ich uns dagegen entschieden. Es hätte keinen Sinn. Was heißt schon Ethik unter Partnern?

«Gut, Mr. Drummond. Und Ihnen?«

«Es geht so. Hören Sie, wir müssen uns auf einen Termin für Dr. Kords Vernehmung verständigen. Ich habe mit seiner Sekretärin gesprochen. Was halten Sie vom 12. Dezember? In seiner Praxis natürlich — um 10 Uhr.«

Kords Vernehmung wird die letzte sein, es sei denn, Drummond fällt sonst noch jemand ein, der auch nur entfernt an dem Fall interessiert ist. Seltsam ist nur, daß er sich die Mühe macht, anzurufen und sich zu erkundigen, ob mir der Termin paßt.

«Ist mir recht«, sage ich. Deck steht neben meinem Schreibtisch, er ist die Anspannung selbst.

«Gut. Es sollte nicht lange dauern. Das hoffe ich jedenfalls, bei fünfhundert Dollar die Stunde. Halsabschneiderisch, finden Sie nicht auch?«

Sind wir jetzt nicht Verbündete? Wir Anwälte gegen die Ärzte?

«Das kann man wohl sagen.«

«Ja, also, übrigens, Rudy, Sie wissen doch, was mein Mandant in Wirklichkeit will?«

«Was?«

«Also, was diese Leute nicht wollen, ist eine Woche in Memphis verbringen und den Prozeß über sich ergehen lassen. Das sind Führungskräfte, Männer mit viel Geld, großen Egos und Karrieren, die sie nicht aufs Spiel setzen wollen. Sie wollen sich vergleichen, Rudy, und ich bin beauftragt, Sie das wissen zu lassen. Wir reden hier nur über einen Vergleich. Eine Schuld wird damit nicht anerkannt, verstehen Sie?«

«Ja. «Ich zwinkere Deck zu.

«Ihr Experte sagt, die Kosten der Knochenmarkstransplantation hätten hundertfünfzig bis zweihunderttausend Dollar betragen, und wir bestreiten diese Zahlen nicht. Nehmen wir mal an, und das ist tatsächlich nur eine Annahme, daß mein Mandant für diese Transplantation hätte aufkommen müssen. Sagen wir, sie hätten es getan, nur angenommen, okay? Dann hätte mein Mandant so an die hundertfünfundsiebzigtausend zahlen müssen.«

«Wenn Sie es sagen.«

«Also bieten wir Ihnen diese Summe als sofortigen Vergleich. Hundertfünfundsiebzigtausend! Keine weiteren Vernehmungen. Sie würden binnen sieben Tagen einen Scheck erhalten.«

«Das glaube ich nicht.«

«Hören Sie, Rudy. Auch eine Million wird diesen Jungen nicht wieder lebendig machen. Sie müssen Ihre Mandantin zur Vernunft bringen. Ich bin ziemlich sicher, daß sie einem Vergleich zustimmen wird. Irgendwann kommt die Zeit, zu der der Anwalt als Anwalt handeln und die Führung übernehmen muß. Dieses arme alte Mädchen hat keine Ahnung, was beim Prozeß passieren wird.«

«Ich rede mit ihr.«

«Rufen Sie sie gleich an. Ich werde hier noch eine Stunde warten, dann muß ich fort. Rufen Sie sie an. «Wahrscheinlich ist die Wanze in meinem Apparat direkt mit dem Telefon dieses niederträchtigen Mistkerls verbunden. Er möchte zu gern, daß ich anrufe, damit er mithören kann.

«Ich melde mich wieder bei Ihnen, Mr. Drummond. Guten Tag.«

Ich lege den Hörer auf, spule das Band im Recorder zurück und spiele es laut ab.

Deck weicht zurück und sinkt auf einen Stuhl. Sein Mund steht weit offen, seine großen Zähne funkeln.»Sie haben unser Telefon angezapft«, sagt er völlig fassungslos, als das Band abgelaufen ist. Wir starren den Recorder an, als könnte einzig und allein er es erklären. Mehrere Minuten lang bin ich von dem Schock buchstäblich gelähmt. Nichts bewegt sich. Nichts funktioniert. Das Telefon läutet, aber keiner von uns greift nach dem Hörer. Im Moment haben wir regelrecht Angst vor ihm.

«Ich denke, wir sollten Kipler informieren«, sage ich schließlich. Die Worte kommen schwer und langsam heraus.

«Das finde ich nicht«, sagt Deck, nimmt seine dicke Brille ab und wischt sich die Augen.

«Warum nicht?«

«Lassen Sie uns überlegen. Wir wissen oder glauben zu wissen, daß Drummond oder sein Mandant unsere Telefone angezapft hat. Drummond weiß auf jeden Fall über die Wanzen Bescheid. Aber wir haben keine Möglichkeit, das zu beweisen, keine Möglichkeit, ihn auf frischer Tat zu ertappen.«

«Er wird es bestreiten, bis er tot ist.«

«Richtig. Also was kann Kipler unternehmen? Ihn ohne handfeste Beweise anklagen? Ihm noch ein bißchen mehr die Hölle heiß machen?«

«Darin hat er inzwischen Übung.«

«Und beim Prozeß wird es nicht die geringste Rolle spielen. Wir können den Geschworenen nicht sagen, daß Mr. Drummond und sein Mandant während der Beweisaufnahme schmutzige Spielchen getrieben haben.«

Wir starren den Recorder noch eine Weile länger an, versuchen beide, das zu verdauen und uns unseren Weg durch den Nebel zu ertasten. In einem Ethikseminar im vorigen Jahr war die Rede von einem Anwalt, der eine strenge Verwarnung erhielt, weil er ein Telefongespräch mit einem anderen Anwalt heimlich aufgezeichnet hatte. Ich bin schuldig, aber meine kleine Sünde verblaßt, wenn man sie mit Drummonds verachtungswürdigem Tun vergleicht. Das Problem ist, daß ich dran bin, wenn ich dieses Band vorlege. Drummond wird nie verurteilt werden, weil niemand es ihm nachweisen kann. Wie tief steckt er mit drin? War es seine Idee, unsere Telefone anzuzapfen? Oder benutzt er einfach gestohlene Informationen, die sein Mandant ihm zukommen läßt?

Auch das werden wir nie erfahren. Und aus irgendeinem Grund spielt es keine Rolle. Er ist informiert.

«Wir können es zu unserem Vorteil nutzen«, sage ich.

«Genau das habe ich auch gerade gedacht.«

«Aber wir müssen vorsichtig sein, sonst schöpfen sie Verdacht.«

«Ja, wir sollten es uns für den Prozeß aufsparen. Den perfekten Moment abwarten und diese Kerle dann an der Nase herumführen.«

Langsam fangen wir beide an zu grinsen.

Ich warte zwei Tage, dann rufe ich Drummond an und teile ihm die betrübliche Nachricht mit, daß meine Mandantin sein schmutziges Geld nicht haben will. Sie ist ein bißchen komisch, gestehe ich ihm. An einem Tag hat sie Angst vor dem Prozeß, am nächsten will sie ihren Auftritt vor Gericht. Im Augenblick will sie kämpfen.

Er ist nicht im mindesten mißtrauisch. Er kehrt zu der für ihn typischen harten Masche zurück, droht mir mit der Wahrscheinlichkeit, daß das Geld für immer vom Tisch verschwindet, daß es ein harter Prozeß bis zum bitteren Ende werden wird. Ich bin sicher, das hört sich gut an für die Lauscher in Cleveland. Ich frage mich, wie lange es dauert, bis sie dieses Gespräch zu hören bekommen.

Das Geld sollte genommen werden. Dot und Buddy würden mehr als hunderttausend bekommen, mehr Geld, als sie je ausgeben können. Ihr Anwalt würde mindestens sechzigtausend kassieren, ein hübsches Sümmchen. Aber Geld bedeutet nichts für die Blacks. Sie haben nie welches gehabt, und sie träumen nicht davon, jetzt reich zu werden. Das einzige, was Dot will, ist, daß irgendwo offiziell festgehalten wird, was Great Benefit ihrem Sohn angetan hat. Sie will ein endgültiges Urteil, das bestätigt, daß sie recht gehabt hat und daß Donny Ray gestorben ist, weil Great Benefit ihn umgebracht hat.

Was mich betrifft, so bin ich überrascht über meine Fähigkeit, das Geld zu ignorieren. Natürlich ist es eine Versuchung, aber sie verzehrt mich nicht. Ich bin nicht am Verhungern. Ich bin jung, und es wird andere Fälle geben.

Und von einem bin ich überzeugt: Wenn die Leute von Great Benefit so viel Angst haben, daß sie unsere Telefone anzapfen, dann haben sie ganz bestimmt dunkle Geheimnisse.

Trotz meiner Sorgen ertappe ich mich dabei, daß ich von diesem Prozeß träume.

Booker und Charlene laden mich zum Thanksgiving-Essen bei seiner Familie ein. Seine Großmutter lebt in einem kleinen Haus in Süd-Memphis und hat offensichtlich die ganze letzte Woche gekocht. Das Wetter ist kalt und naß, deshalb sind wir gezwungen, den ganzen Nachmittag drinnen zu verbringen. Es sind mindestens fünfzig Leute anwesend, zwischen sechs Monaten und achtzig Jahren alt, und meines ist das einzige weiße Gesicht. Wir essen stundenlang, die Männer scharen sich um den Fernseher im Wohnzimmer und schauen sich ein Spiel nach dem anderen an. Booker und ich verziehen uns mit unserer Pekanpastete und unserem Kaffee in die Garage, wo wir uns auf die Haube seines Wagens setzen und die letzten Neuigkeiten austauschen. Er ist neugierig auf mein Liebesle-ben, und ich versichere ihm, daß ich keines habe, jedenfalls momentan nicht. Das Geschäft läuft gut, erzähle ich ihm. Er arbeitet rund um die Uhr. Charlene will noch ein Kind, aber es dürfte sich ziemlich problematisch gestalten, schwanger zu werden. Er ist nie zu Hause. Das Leben eines vielbeschäftigten Anwalts.

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