Kapitel 6

Das Birdsong-Haus liegt am Rande der Innenstadt, in einer älteren, wohlsituierten Gegend, nur ein paar Meilen von der Juristischen Fakultät entfernt. Die Straße ist von sehr alten Eichen gesäumt und macht einen ruhigen Eindruck. Einige der Häuser sind recht ansehnlich, mit manikürten Rasenflächen und funkelnden Luxuskarossen in der Auffahrt. Andere dagegen wirken fast verlassen und lugen unheimlich durch dichtes Gestrüpp von unbeschnittenen Bäumen und wuchernden Sträuchern. Wieder andere liegen irgendwo dazwischen. Das Haus von Miss Birdie ist ein weißer Bau aus der Zeit um die Jahrhundertwende mit einer breiten, an einer Seite um die Ecke führenden Veranda. Es braucht einen Anstrich, ein neues Dach und eine Menge Arbeit im Garten. Die Fenster sind schmutzig und die Regenrinnen mit Blättern verstopft, aber es ist offensichtlich, daß hier jemand wohnt und versucht, es instand zu halten. Die Auffahrt säumen unbeschnittene Hecken. Ich stelle meinen Wagen hinter einen schmutzigen Cadillac, der vermutlich zehn Jahre alt ist.

Ich gehe über knarrende Verandaplanken zur Haustür und halte Ausschau nach einem großen Hund mit gebleckten Zähnen. Es ist schon spät, fast dunkel, und auf der Veranda brennt kein Licht. Die schwere Holztür steht weit offen, und durch das Fliegengitter kann ich eine kleine Diele erkennen. Ich finde keinen Klingelknopf, also klopfe ich leise an die Fliegentür. Sie klappert lose in den Angeln. Ich halte den Atem an — kein Hundegebell.

Kein Laut, keine Bewegung. Ich klopfe ein bißchen lauter.

«Wer ist da?«ruft eine vertraute Stimme.

«Miss Birdie?«

Eine Gestalt bewegt sich durch die Diele, ein Licht wird eingeschaltet, und da ist sie, in demselben Baumwollkleid, das sie auch gestern im Cypress Gardens Senior Citizens Building getragen hat. Sie blinzelt durch die Tür.

«Ich bin's, Rudy Baylor. Der Jurastudent, mit dem Sie gestern gesprochen haben.«

«Rudy!«Sie ist hoch erfreut, mich zu sehen. Einen Moment lang bin ich etwas verlegen, dann plötzlich traurig. Sie lebt allein in diesem monströsen Haus, und sie ist überzeugt, daß ihre Angehörigen sie im Stich gelassen haben. Der Höhepunkt ihres Tages besteht darin, daß sie sich um diese alten Leute kümmert, die zum Lunch und ein oder zwei Liedern zusammenkommen. Miss Birdie ist ein sehr einsamer Mensch.

Sie hakt schnell die Fliegentür auf.»Kommen Sie herein, kommen Sie herein«, sagt sie ohne auch nur einen Anflug von Neugierde. Sie ergreift meinen Ellenbogen und zieht mich durch die Diele und einen Flur entlang, wobei sie einen Lichtschalter nach dem anderen betätigt. An den Wänden hängen Dutzende von alten Familienporträts. Die Teppiche sind staubig und abgetreten. Es riecht schimmlig und muffig — ein altes Haus, das dringend geputzt und renoviert werden müßte.

«Wie nett von Ihnen, mich zu besuchen«, sagt sie zuckersüß, ohne meinen Ellenbogen loszulassen.»Hat Ihnen der Besuch bei uns gestern Spaß gemacht?«

«Ja, Madam.«

«Wollen Sie nicht bald einmal wiederkommen?«

«Ich kann es kaum abwarten.«

Sie deponiert mich am Küchentisch.»Kaffee oder Tee?«fragt sie, während sie auf Schränke zusteuert und auf Lichtschalter drückt.

«Kaffee«, sage ich, dann sehe ich mich um.

«Mögen Sie Pulverkaffee?«

«Natürlich. «Nach drei Jahren Jurastudium kann ich Pulverkaffee nicht mehr von echtem unterscheiden.

«Milch? Zucker?«fragt sie und greift in den Kühlschrank.

«Schwarz, ohne alles.«

Sie setzt das Wasser auf und stellt die Tassen bereit, dann läßt sie sich mir gegenüber am Tisch nieder. Sie strahlt übers ganze Gesicht. Ich habe ihren Tag gerettet.

«Ich freue mich ja so, Sie zu sehen«, sagt sie zum dritten oder vierten Mal.

«Sie haben ein wunderschönes Haus, Miss Birdie«, sage ich, die muffige Luft einatmend.

«Oh, danke. Thomas und ich haben es vor fünfzig Jahren gekauft.«

Töpfe und Pfannen, Ausguß und Wasserhähne, Herd und Toaster — alles ist mindestens vierzig Jahre alt. Der Kühlschrank stammt offensichtlich aus den frühen sechziger Jahren.

«Thomas ist vor elf Jahren gestorben. Wir haben unsere beiden Söhne in diesem Haus großgezogen, aber über die möchte ich lieber nicht reden. «Ihr fröhliches Gesicht ist einen Moment lang ernst, aber das Lächeln kehrt rasch zurück.

«Klar. Natürlich nicht.«

«Lassen Sie uns von Ihnen reden«, sagt sie. Das ist ein Thema, das ich nun lieber vermeiden würde.

«Klar. Weshalb nicht?«Ich wappne mich für ihre Fragen.

«Wo kommen Sie her?«

«Ich bin hier geboren, aber in Knoxville aufgewachsen.«

«Wie nett. Und wo haben Sie das College besucht?«

«Austin Peay.«

«Austin was?«

«Austin Peay. Das ist ein kleines College in Clarksville. Staatlich gefördert.«

«Wie nett. Weshalb sind Sie zum Jurastudium an die Memphis State gekommen?«

«Es ist eine gute Universität, außerdem gefällt mir Memphis. «In Wirklichkeit gab es noch zwei weitere Gründe. Memphis State hat mich angenommen, und ich konnte sie mir leisten.

«Wie nett. Wann graduieren Sie?«

«In ein paar Wochen.«

«Und dann sind Sie ein richtiger Anwalt, wie nett. Wo werden Sie arbeiten?«

«Das weiß ich noch nicht genau. In der letzten Zeit habe ich öfters daran gedacht, mein eigenes Schild aufzuhängen, Sie wissen schon, eine eigene Kanzlei zu eröffnen. Ich bin eher der Einzelgängertyp, und ich weiß nicht, ob ich für andere Leute arbeiten könnte. Ich würde gern auf meine Art Jura praktizieren.«

Sie schaut mich nur an. Das Lächeln ist verschwunden. Ihr Blick ist erstarrt und läßt mich nicht los. Sie ist verblüfft.»Das ist ja wundervoll«, sagt sie schließlich, dann springt sie auf, um den Kaffee aufzugießen.

Wenn diese reizende alte Dame wirklich Millionärin ist, dann hat sie ein wahres Wunder vollbracht, es zu verheimlichen. Ich sehe mir die Küche genauer an. Der Tisch unter meinen Ellenbogen hat Aluminiumbeine und eine abgenutzte Resopalplatte. Sämtliche Geräte, Utensilien und Möbelstücke wurden vor Jahrzehnten erworben. Sie wohnt in einem reichlich vernachlässigten Haus und fährt einen alten Wagen. Offenbar gibt es weder ein Dienstmädchen noch anderes Personal. Nicht einmal ein Schoßhündchen.

«Wie nett«, sagt sie abermals und stellt die beiden Tassen auf den Tisch. Es steigt kein Dampf aus ihnen auf. Meine Tasse ist nur lauwarm. Der Kaffee schmeckt schwach, schal und fade.

«Guter Kaffee«, sage ich und schmatze anerkennend mit den Lippen.

«Danke. Sie wollen also Ihre eigene kleine Kanzlei aufmachen?«

«Ich denke noch darüber nach. Es wird hart sein, jedenfalls in der ersten Zeit. Aber wenn ich hart arbeite und die Leute anständig behandle, dann bekomme ich bestimmt auch bald genügend Mandanten.«

Sie lächelt aufrichtig und schüttelt langsam den Kopf.»Das ist ja wundervoll, Rudy. Wie mutig. Ich glaube, die Branche braucht mehr junge Leute wie Sie.«

Ich bin so ziemlich das letzte, was die Branche braucht — ein junger Geier mehr, der durch die Straßen streift und dafür zu sorgen versucht, daß irgend etwas passiert, damit er aus Leuten, die selbst nichts haben, ein paar Dollar herausquetschen kann.

«Sie fragen sich vielleicht, weshalb ich gekommen bin«, sage ich und trinke einen Schluck Kafee.

«Ich freue mich so, daß Sie gekommen sind.«

«Ja, also, es ist wirklich schön, Sie wiederzusehen. Aber ich wollte mit Ihnen über Ihr Testament sprechen. Ich konnte letzte Nacht kaum schlafen, weil ich immer an Ihren Nachlaß denken mußte.«

Ihre Augen werden feucht. Sie ist gerührt.

«Ein paar Dinge sind besonders problematisch«, erkläre ich mit meinem besten Anwaltsstirnrunzeln. Ich hole einen Stift aus der Tasche und halte ihn hoch, als wollte ich mich ins Gefecht stürzen.»Erstens, und bitte verzeihen Sie, daß ich das sage, aber es macht mir wirklich zu schaffen, wenn ich erleben muß, wie Sie oder irgendein anderer Mandant zu so drastischen Maßnahmen gegen seine Angehörigen greift. Ich finde, das ist etwas, worüber wir ausführlich reden sollten. «Ihre Lippen verspannen sich, aber sie sagt nichts.»Zweitens, und auch hier müssen Sie mir verzeihen, aber ich könnte nicht mit mir selbst als Anwalt leben, wenn ich das nicht erwähnen würde, habe ich große Probleme damit, ein Testament oder eine andere Verfügung aufzusetzen, die den größten Teil eines Nachlasses einem Fernsehstar zukommen läßt.«

«Er ist ein Mann Gottes«, sagt sie mit Nachdruck, sofort bereit, die Ehre des Reverend Kenneth Chandler zu verteidigen.

«Ich weiß. Gut. Aber weshalb wollen Sie ihm alles geben, Miss Birdie? Weshalb nicht fünfundzwanzig Prozent, einen vernünftigen Anteil?«

«Er hat eine Menge Unkosten. Und sein Jet ist schon ziemlich alt. Das hat er mir alles erzählt.«

«Okay, aber der Herr erwartet doch sicher nicht von Ihnen, daß Sie für die Unkosten des Reverend aufkommen, oder etwa doch?«

«Was der Herr von mir erwartet, ist meine Sache und geht Sie nichts an.«

«Natürlich nicht. Ich will ja nur darauf hinaus, und ich bin sicher, das wissen Sie auch, Miss Birdie, daß schon eine Menge von diesen Burschen ziemlich tief gefallen sind. Sie wurden mit Frauen erwischt, die nicht ihre Ehefrauen waren, oder man ist ihnen drauf gekommen, daß sie Millionen für ein schönes Leben verschwendet haben — Häuser, Autos, Urlaubsreisen, schicke Anzüge. Viele von diesen Leuten sind Ganoven.«

«Er ist kein Ganove.«

«Das habe ich auch nicht behauptet.«

«Was wollen Sie dann damit andeuten?«

«Nichts«, sage ich und trinke nun doch einen großen Schluck. Sie ist nicht wütend, aber es fehlt nicht viel daran.»Ich bin hier als Ihr Anwalt, Miss Birdie, das ist alles. Sie haben mich gebeten, ein Testament für Sie aufzusetzen, und es ist meine Pflicht, mich mit allen Punkten dieses Testaments eingehend zu beschäftigen. Diese Verantwortung nehme ich sehr ernst.«

Die zahllosen Fältchen um ihren Mund herum entspannen sich, und ihr Blick wird wieder weicher.»Wie nett«, sagt sie.

Ich nehme an, viele reiche alte Leute wie Miss Birdie, besonders diejenigen, die die Wirtschaftskrise durchlitten und ihr Geld selbst verdient haben, würden ihr Vermögen mit Hilfe von Buchhaltern, Anwälten und unfreundlichen Bankern wie ihren Augapfel bewachen. Aber nicht Miss Birdie. Sie ist naiv und vertrauensselig wie eine arme Witwe, die von einer Rente lebt.»Er braucht das Geld«, sagt sie, trinkt einen Schluck und mustert mich ziemlich argwöhnisch.

«Können wir über das Geld reden?«

«Warum wollt ihr Anwälte immer über Geld reden?«

«Aus einem sehr guten Grund, Miss Birdie. Wenn Sie nicht vorsichtig sind, dann bekommt die Regierung einen großen Batzen davon. Es gibt gewisse Möglichkeiten, das Geld anzulegen und den Nachlaß so zu planen, daß Sie eine Menge Steuern sparen können.«

Das ärgert sie.»Ich verstehe nichts von diesem juristischen Kram.«

«Deshalb bin ich ja hier, Miss Birdie.«

«Ich nehme an, Sie wollen, daß in dem Testament irgendwo Ihr Name steht«, sagt sie, immer noch mit dem juristischen Problem beschäftigt.

«Natürlich nicht«, sage ich, bemüht, einen schockierten Eindruck zu machen und gleichzeitig meine Überraschung zu verbergen, daß ich ertappt worden bin.

«Die Anwälte versuchen immer, ihren Namen in meine Testamente zu bekommen.«

«Das tut mir leid, Miss Birdie. Es gibt eine Menge unehrliche Anwälte.«

«Genau das hat Reverend Chandler auch gesagt.«

«Das bezweifle ich nicht. Hören Sie, ich will nicht sämtliche Einzelheiten wissen, aber könnten Sie mir sagen, ob das Geld in Grundbesitz angelegt ist, in Aktien oder anderen Wertpapieren oder ob es sich um Barvermögen handelt? Für die Nachlaßplanung ist es äußerst wichtig, zu wissen, wie das Geld angelegt ist.«

«Es befindet sich alles an einem Ort.«

«Okay. Wo?«

«In Atlanta.«

«Atlanta?«

«Ja. Das ist eine lange Geschichte, Rudy.«

«Weshalb erzählen Sie sie mir nicht?«

Anders als bei unserem gestrigen Gespräch in Cypress Gardens steht Miss Birdie jetzt nicht unter Zeitdruck. Sie hat nichts anderes zu tun. Kein Bosco weit und breit. Sie hat kein Abräumen nach dem Lunch zu beaufsichtigen, braucht nicht bei Brettspielen den Schiedsrichter zu spielen.

Also dreht sie langsam ihre Kaffeetasse in den Händen, starrt vor sich auf den Tisch und denkt nach.»Niemand weiß etwas davon«, sagt sie sehr leise, wobei ihr Gebiß ein- oder zweimal klickt.»Jedenfalls niemand in Memphis.«

«Weshalb nicht?«frage ich, vielleicht eine Spur zu eifrig.

«Meine Kinder wissen nichts davon.«

«Sie wissen nichts von dem Geld?«frage ich ungläubig.

«Oh, sie wissen über einen Teil davon Bescheid. Thomas hat schwer gearbeitet und eine Menge gespart. Als er vor elf Jahren starb, hat er mir fast hunderttausend an Ersparnissen hinterlassen. Meine Söhne, und vor allem ihre Frauen, sind überzeugt, daß es jetzt ungefähr fünfmal soviel ist. Aber sie wissen nichts von Atlanta. Soll ich Ihnen noch einen Kaffee machen?«Sie ist bereits auf den Beinen.

«Gern. «Sie trägt meine Tasse zum Tresen, gibt kaum mehr als einen halben Teelöffel voll Kaffee hinein und lauwarmes Wasser nach, dann kehrt sie an den Tisch zurück. Ich rühre darin herum, als erwartete ich den phantastischen Duft eines Cappuccinos.

Unsere Blicke begegnen sich, und ich bin ganz Mitgefühl.

«Hören Sie, Miss Birdie. Wenn das alles für Sie zu schmerzlich ist, können wir ja auf die Einzelheiten verzichten und uns auf die wichtigsten Punkte konzentrieren.«

«Es ist ein Vermögen. Was sollte daran schmerzlich sein?«

Nun, das ist genau das, was ich denke.»Gut. Dann sagen Sie mir, ganz allgemein, wie das Geld angelegt ist. Wichtig ist vor allem etwaiger Grundbesitz. «Das stimmt. Erbschaftssteuern werden in der Regel immer erst mal aus Barvermögen und leicht flüssigzumachenden Investitionen beglichen. An den Grundbesitz gehen die Leute nur, wenn es sich gar nicht mehr anders machen läßt. Hinter meinen Fragen steckt also mehr als bloße Neugierde.

«Ich habe nie jemandem etwas über das Geld erzählt«, sagt sie, immer noch mit sehr leiser Stimme.

«Aber gestern haben Sie gesagt, Sie hätten mit dem Reverend Chandler darüber gesprochen.«

Es folgt eine lange Pause, während deren sie ihre Tasse auf der Resopalplatte hin und her dreht.»Ja, das stimmt. Aber ich glaube nicht, daß ich ihm alles gesagt habe. Vielleicht habe ich ein bißchen gelogen. Und ich habe ihm ganz bestimmt nicht gesagt, von wem es stammt.«

«Okay. Und von wem stammt es?«

«Von meinem zweiten Mann.«

«Ihrem zweiten Mann?«

«Ja. Tony.«

«Thomas und Tony.«

«Ja. Ungefähr zwei Jahre nachdem Thomas gestorben war, habe ich Tony geheiratet. Er kam aus Atlanta und war sozusagen auf der Durchreise in Memphis, als wir uns kennenlernten. Wir haben fünf Jahre lang mehr oder weniger zusammengelebt und uns ständig gestritten, dann hat er sich davongemacht und ist nach Hause zurückgekehrt. Er war ein Faulenzer, der es nur auf mein Geld abgesehen hatte.«

«Das verstehe ich jetzt aber nicht. Sie hatten doch gesagt, das Geld käme von Tony.«

«Das stimmt auch. Nur hat er nichts davon gewußt. Das ist eine lange Geschichte. Es gab da ein paar Erbschaften und solches Zeug, von denen Tony nichts wußte und ich auch nicht. Er hatte einen reichen Bruder, der verrückt war, eigentlich war die ganze Familie verrückt, und kurz bevor Tony starb, erbte er von seinem verrückten Bruder ein Vermögen. Ich meine, zwei Tage, bevor Tony den Löffel abgab, ist sein Bruder in Florida gestorben. Tony hat kein Testament hinterlassen, nur eine Ehefrau. Mich. Und deshalb hat man sich von Atlanta aus mit mir in Verbindung gesetzt, eine große Anwaltskanzlei war das, und mir mitgeteilt, daß ich nach den Gesetzen des Staates Georgia jetzt eine Menge Geld besäße.«

«Wieviel Geld?«

«Wesentlich mehr, als Thomas mir hinterlassen hat. Jedenfalls habe ich nie jemandem etwas davon erzählt. Bis jetzt. Sie werden es doch nicht verraten, oder, Rudy?«

«Miss Birdie, als Ihr Anwalt unterliege ich der Schweigepflicht. Kein Anwalt darf über das reden, was ein Mandant ihm anvertraut hat.«

«Wie nett.«

«Weshalb haben Sie Ihrem vorigen Anwalt nichts von dem Geld erzählt?«frage ich.

«Ach, der. Dem habe ich nicht vertraut. Ich nannte ihm nur die Summen für die Legate, aber wieviel es genau war, habe ich ihm nicht gesagt. Sobald er begriffen hatte, daß ich im Geld schwimme, wollte er, daß ich ihn auch mit bedenke.«

«Aber Sie haben ihm nie alles erzählt?«

«Nie.«

«Sie haben ihm nicht gesagt, wieviel Sie besitzen?«

«Nein.«

Wenn ich richtig gerechnet habe, enthielt ihr altes Testament Legate in einer Gesamthöhe von mindestens zwanzig Millionen Dollar. Soviel zumindest muß dem Anwalt auch bekannt gewesen sein, schließlich hat er das Testament aufgesetzt. Fragt sich nur, wieviel genau besitzt die kostbare kleine Frau hier denn nun wirklich?

«Wollen Sie mir sagen, wieviel es ist?«

«Vielleicht morgen, Rudy. Vielleicht morgen.«

Wir verlassen die Küche und begeben uns auf die Hinterveranda. Sie hat einen neuen Springbrunnen neben den Rosen-

sträuchern, den sie mir zeigen will. Ich bewundere ihn hingerissen.

Jetzt weiß ich Bescheid. Miss Birdie ist eine reiche alte Dame, aber sie will nicht, daß es irgend jemand erfährt, schon gar nicht ihre Angehörigen. Sie hat immer in guten Verhältnissen gelebt, und jetzt erregt sie keinerlei Verdacht — sie ist eine achtzigjährige Witwe, die von ihren mehr als ausreichenden Ersparnissen lebt.

Wir sitzen auf schmiedeeisernen Bänken und trinken im Dunkeln kalten Kaffee, bis ich endlich genügend Vorwände beisammen habe, um mit Anstand flüchten zu können.

Um meinen gehobenen Lebensstandard zu finanzieren, habe ich in den vergangenen drei Jahren als Barmann und Kellner im Yogi's gearbeitet, einer Studentenkneipe ganz in der Nähe des Campus. Sie ist berühmt für ihre saftigen Onionburger und ihr Märzenbier am Tag des heiligen Patrick. Es ist ein lauter Laden, wo die Zeit zwischen Lunch und Feierabend nur eine lange happy hour ist. Krüge mit wäßrigem Light-Bier kosten beim» Monday Night Football «einen Dollar, bei jedem anderen Ereignis zwei Dollar.

Die Kneipe gehört Prince Thomas, einem Rumtrinker mit massigem Körper und einem noch größeren Ego. Prince ist eine der bekannteren Persönlichkeiten in der Stadt, ein echter Unternehmer, dem es Spaß macht, sein Bild in den Zeitungen zu sehen und in den Spätnachrichten. Er organisiert Sauftouren und Wahlen zur Miss Nasses T-Shirt. Bei der Stadtverwaltung hat er einen Antrag gestellt, daß Kneipen wie seine die ganze Nacht geöffnet bleiben dürfen. Die Stadtverwaltung ihrerseits hat ihn verschiedener Sünden wegen verklagt. Er genießt das. Nennen Sie ihm ein Laster, und er wird ein paar Leute zusammentrommeln und versuchen, es zu legalisieren.

Prince läßt uns bei Yogi's ziemlich freie Hand. Wir, die Angestellten, bestimmen unsere Arbeitszeiten selbst, kassieren unsere Trinkgelder, halten ohne viel Einmischung von seiner Seite den Betrieb in Gang. Das ist nicht sonderlich schwierig. Man muß nur dafür sorgen, daß genügend Bier vorn und genügend Hackfleisch in der Küche ist, dann läuft der Laden mit erstaunlicher Präzision. Prince zieht es vor, die Honneurs zu machen. Er begrüßt die hübschen Studentinnen und geleitet sie zu ihren Plätzen. Er flirtet mit ihnen und macht sich dabei in der Regel zum Narren. Besonders gern sitzt er an einem Tisch in der Nähe des großen Fernsehers und nimmt Wetten auf die Spiele an. Er ist ein gewaltiger Mann mit kräftigen Armen und bricht schon mal eine Schlägerei vom Zaun.

Prince hat auch eine dunklere Seite. Gerüchten zufolge mischt er in der Pornoszene mit. Die Oben-ohne-Clubs sind eine prosperierende Industrie in dieser Stadt, und seine angeblichen Partner haben lange Vorstrafenregister. Stand alles in den Zeitungen. Zweimal mußte er vor Gericht, wegen Glücksspiel und wegen Buchmacherei, aber beide Jurys haben sich hoffnungslos festgefahren. Nachdem ich drei Jahre für ihn gearbeitet habe, bin ich von zweierlei überzeugt: Erstens, daß Prince von den Rechnungen bei Yogi's den größten Teil der Einnahmen abschöpft. Meiner Schätzung nach sind es mindestens zweitausend pro Woche, hunderttausend im Jahr. Zweitens benutzt Prince Yogi's als Fassade für sein eigenes, korruptes kleines Imperium. Er benutzt es als Geldwäscherei und weist jedes Jahr Verluste aus, die er dann schön von der Steuer absetzen kann. Sein Büro hat er im Keller, einen ziemlich geschützten, fensterlosen Raum, in dem er sich mit seinen Kumpanen trifft.

Mich kümmert das nicht im geringsten. Zu mir war er immer nett. Ich bekomme fünf Dollar die Stunde, und ich arbeite ungefähr zwanzig Stunden pro Woche. Unsere Gäste sind Studenten, deshalb fallen die Trinkgelder bescheiden aus. Wenn ich Prüfungen habe, kann ich mir meine Arbeitszeiten danach einteilen. Täglich fragen hier mindestens fünf Studenten nach Arbeit, deshalb schätze ich mich glücklich, daß ich diesen Job habe.

Und abgesehen davon, was es sonst noch alles sein mag, ist Yogi's eine super Studentenkneipe. Prince hat es schon vor Jahren in Blau und Grau, den Farben der Memphis State, dekorieren lassen, und überall an den Wänden hängen Mannschaftswimpel und gerahmte Fotos von Sportstars. Außerdem liegt es nur wenige Minuten vom Campus entfernt, und die

Kids kommen scharenweise, um stundenlang zu reden, zu lachen und zu flirten.

Heute abend sieht er sich ein Spiel an. Die Baseball-Saison hat gerade erst begonnen, aber Prince ist schon jetzt überzeugt, daß die Braves in die Endausscheidung kommen werden. Er wettet auf alles, aber sein Favorit sind die Braves. Es spielt keine Rolle, gegen wen sie spielen und wo, wer wirft und wer verletzt ist — Prince setzt auf die Braves.

Heute abend bin ich für die Bar zuständig, und meine Hauptaufgabe besteht darin, dafür zu sorgen, daß sein Glas mit Rum und Tonic nie leer wird. Er brüllt, als Dave Justice einen tollen Home Run hinlegt. Dann kassiert er ein bißchen Geld von einem Studenten. Die Wette bestand darin, wer den ersten Home Run schaffen würde — Dave Justice oder Barry Bonds. Ich habe schon erlebt, daß er darum wettete, ob der Fänger den Ball des zweiten Schlägers im dritten Inning erwischen würde oder nicht.

Ich bin froh, daß ich heute abend nicht an den Tischen bedienen muß. Mein Kopf tut immer noch weh, und ich versuche, ihn sowenig wie möglich zu bewegen. Außerdem kann ich mir hin und wieder ein Bier aus dem Kühlschrank holen, das gute Zeug in den grünen Flaschen, Heineken und Moose-head. Prince erwartet von seinen Barkeepern, daß sie ein bißchen trinken.

Der Job wird mir fehlen. Oder doch nicht?

Eine Nische im vorderen Teil füllt sich mit Jurastudenten, vertrauten Gesichtern, denen ich lieber aus dem Weg ginge. Es sind Kommilitonen von mir, Studenten im dritten Jahr, vermutlich alle mit Jobs.

Es ist okay, ein Barkeeper und Kellner zu sein, solange man ein bescheidener Student ist. Die Arbeit bei Yogi's ist sogar mit einigem Prestige verbunden. Aber das Prestige wird sich in Luft auflösen, wenn ich in ungefähr einem Monat graduiere. Dann bin ich etwas viel Schlimmeres als ein Student, der sich mit Jobs durchschlägt. Dann bin ich ein auf der Strecke Gebliebener, Teil einer Statistik, noch ein Jurastudent, für den sich in der eigenen Zunft keine Verwendung finden lassen wollte.

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