Kapitel 22

Der Juristische Prüfungsausschuß verschickt die Ergebnisse des Anwaltsexamens per Einschreiben. In der Fakultät kursieren Geschichten von Leuten, die sich keinen Schritt von ihrem Briefkasten weggerührt haben und dann zusammengebrochen sind. Andere sollen wie die Blöden ihren Brief über dem Kopf schwenkend durch die Straßen getobt sein. Früher hat man über solche Geschichten gelacht, jetzt kann ich nichts Komisches mehr daran finden.

Dreißig Tage ist es jetzt her, und immer noch kein Brief. Ich habe meine Privatadresse angegeben, weil ich ganz sicher sein wollte, daß niemand in Bruisers Kanzlei den Brief öffnet.

Der einunddreißigste Tag ist ein Samstag, und ich darf tatsächlich bis neun schlafen, bevor meine Sklaventreiberin mit einem Malerpinsel an meine Tür klopft. Sie hat ganz plötzlich beschlossen, daß die Garage unter meiner Wohnung gestrichen werden muß, obwohl ich finde, daß sie noch recht gut aussieht. Sie lockt mich mit der Neuigkeit aus dem Bett, daß sie bereits Eier und Speck zubereitet hat, und die werden nun kalt, also beeilen Sie sich.

Die Arbeit läuft gut. Beim Streichen sieht man sofort recht erfreuliche Ergebnisse. Man merkt, daß man vorankommt. Die Sonne hat sich hinter dichtgetürmten Wolken verkrochen, und ich arbeite bestenfalls gemächlich.

Um sechs verkündet Miss Birdie, daß es Zeit zum Aufhören sei, ich hätte genug gearbeitet und könnte mich auf eine ganz besondere Überraschung zum Abendessen freuen — sie wird uns eine vegetarische Pizza machen!

Ich habe vorige Nacht bis eins bei Yogi's gearbeitet und verspüre vorerst keine Lust, dorthin zurückzukehren. Also habe ich an diesem Samstagabend nichts zu tun. Und was noch schlimmer ist — ich habe nicht einmal daran gedacht, irgend etwas zu unternehmen. Traurig, aber wahr: Die Vorstellung, mit einer Achtzigjährigen eine vegetarische Pizza zu essen, ist für mich ziemlich verlockend.

Ich dusche und ziehe eine leichte Hose und Turnschuhe an. Als ich das Haus betrete, kommt ein merkwürdiger Geruch aus der Küche. Miss Birdie fuhrwerkt darin herum. Sie hat noch nie eine Pizza gemacht, erklärt sie mir, als sollte es mich freuen, das zu hören.

Sie ist nicht schlecht. Die Zucchini und der gelbe Paprika sind nicht ganz gar, aber sie hat eine Menge Ziegenkäse und Pilze drauf gepackt. Und ich bin halb verhungert. Wir essen im Wohnzimmer und sehen uns dabei einen Film mit Cary Grant und Audrey Hepburn an. Sie weint fast während des ganzen Films.

Der zweite Film ist mit Bogart und Bacall, und mein Muskelkater setzt ein. Ich bin dem Einschlafen nahe. Miss Birdie dagegen sitzt auf der Sofakante und lauscht atemlos jedem Wort eines Films, den sie seit fünfzig Jahren kennt.

Plötzlich springt sie auf.»Ich hab was vergessen!«ruft sie und eilt in die Küche, wo ich sie mit Papieren rascheln höre. Sie kommt mit einem Blatt ins Wohnzimmer zurück, bleibt vor mir stehen und verkündet dramatisch:»Rudy! Sie haben das Examen bestanden!«

Sie hält ein einzelnes Blatt weißes Papier hoch, und ich reiße es ihr fast aus der Hand. Es kommt vom Juristischen Prüfungsausschuß von Tennessee, ist natürlich an mich adressiert, und auf der Mitte der Seite stehen die majestätischen Worte:»Herzlichen Glückwunsch. Sie haben das Anwaltsexamen bestanden.«

Ich wirbele herum und sehe Miss Birdie an, und für den Bruchteil einer Sekunde hätte ich ihr für dieses unverschämte Eindringen in meine Privatsphäre am liebsten einen Schlag ins Gesicht versetzt. Sie hätte es mir schon früher sagen müssen, und natürlich war sie nicht befugt, meinen Brief zu öffnen. Aber ihre sämtlichen grauen und gelben Zähne sind zu sehen. Sie hat Tränen in den Augen und die Hände vor dem Gesicht, sie ist fast so selig, wie ich es bin. Mein Zorn weicht rasch einem totalen Glücksgefühl.

«Wann ist er gekommen?«frage ich.

«Heute, während Sie beim Streichen waren. Der Postbote hat bei mir angeklopft und nach Ihnen gefragt, aber ich habe gesagt, Sie wären beschäftigt, und deshalb habe ich für Sie unterschrieben.«

Dafür unterschreiben ist eine Sache, den Brief öffnen eine ganz andere.

«Sie hätten ihn nicht öffnen dürfen«, sage ich, aber nicht wirklich böse. Es ist unmöglich, in einem solchen Moment wütend zu sein.

«Tut mir leid. Ich dachte, Sie hätten nichts dagegen. Aber ist es nicht aufregend?«

Das ist es in der Tat. Ich schwebe in die Küche, grinse wie ein Schwachkopf, atme in großen Zügen die von der Last befreite Luft ein. Alles ist wunderbar. Was für eine großartige Welt!

«Das muß gefeiert werden«, sagt sie mit einem verschmitzten kleinen Lächeln.

Sie greift in den hintersten Winkel eines Schrankes, tastet herum, lächelt und holt schließlich langsam eine merkwürdig geformte Flasche heraus.»Die habe ich für besondere Anlässe aufgehoben.«

«Was ist das?«frage ich und nehme die Flasche. So etwas habe ich bei Yogi's noch nie gesehen.

«Melonenlikör. Ziemlich starkes Zeug. «Sie gibt ein Kichern von sich. In diesem Augenblick würde ich alles trinken. Sie findet zwei zusammen passende Kaffeetassen — in diesem Haus wird sonst nie Alkoholisches ausgeschenkt — und gießt sie halb voll. Die Flüssigkeit ist dick und klebrig. Der Geruch erinnert mich an irgendwas beim Zahnarzt.

Wir bringen einen Toast auf mein Glück aus, stoßen mit unseren Bank-of-Tennessee-Tassen an und nehmen einen Schluck. Das Zeug schmeckt wie Hustensirup für Kinder und brennt wie hochprozentiger Wodka. Sie leckt sich schmatzend die Lippen und sagt dann:»Wir sollten uns lieber hinsetzen.«

Nach ein paar Schlucken schnarcht Miss Birdie auf dem Sofa. Ich stelle den Fernseher leise und gieße mir eine weitere Tasse ein. Es ist immerhin ein ziemlich starkes Gesöff, und nach dem ersten Schock haben sich die Geschmacksnerven einigermaßen daran gewöhnt. Noch immer lächelnd, setze ich mich damit auf die mondbeschienene Terrasse und schaue voller Dankbarkeit über diese herrliche Nachricht zum Himmel empor.

Die Nachwirkungen des Melonenlikörs sind bis lange nach Sonnenaufgang zu spüren. Ich dusche und schleiche mich aus der Wohnung zu meinem Wagen. Dann fahre ich im Rückwärtsgang die Auffahrt hinunter, bis ich die Straße erreicht habe.

Ich bin auf dem Weg in ein Yuppie-Cafe, wo es Bagels gibt und jeden Tag eine andere Kaffeemischung empfohlen wird. Ich kaufe mir eine dicke Sonntagszeitung und setze mich damit an einen Tisch im Hintergrund. Einige Themen interessieren mich besonders.

Zum viertenmal hintereinander ist die Titelseite voll von Belichten über das Raddampferunglück. Einundvierzig Teenager sind dabei ums Leben gekommen. Die Anwälte haben bereits begonnen, Klagen einzureichen.

Das zweite, diesmal im Lokalteil, ist die neueste Folge von kritischen Berichten über Korruption bei der Polizei im allgemeinen und die Beziehungen zwischen der Oben-ohne-Bran-che und den Gesetzeshütern im besonderen. Bruisers Name kommt auch ein paarmal vor, als Anwalt von Willie McSwane, einem der Bosse des organisierten Verbrechens, und ebenfalls als Anwalt von Bennie Thomas, auch Prince genannt, einem Gaststättenbesitzer hier in der Stadt, gegen den die Bundesbehörden nicht zum erstenmal ermitteln. An anderer Stelle wird Bruiser selber als Verdächtiger genannt.

Ich kann den Zug geradezu kommen hören. Die Geschworenenkammer tagt nun schon seit einem Monat ununterbrochen. Fast täglich stehen Berichte darüber in der Zeitung. Deck wird immer nervöser.

Das dritte ist eine totale Überraschung. Auf der letzten Seite des Wirtschaftsteils findet sich ein kleiner Artikel mit der Überschrift: ANWALTSEXAMEN — 161 ERFOLGREICH BESTANDEN. Es folgt eine drei Absätze lange Verlautbarung des Prüfungsausschusses, dann — in sehr kleinem Druck — eine alphabetische Liste all derer, die das Examen bestanden haben.

Ich halte mir die Zeitung dichter vor die Augen und lese aufgeregt. Da bin ich! Es stimmt. Es ist nicht nur ein Irrtum irgendeiner Sekretärin. Ich habe das Anwaltsexamen bestanden! Ich überfliege die Namen, von denen ich viele drei Jahre lang gut gekannt habe.

Ich suche nach Booker Kane, aber sein Name steht nicht da. Ich schaue ein zweites und dann noch ein drittes Mal hin, und meine Schultern sacken herunter. Ich lege die Zeitung auf den Tisch und lese laut sämtliche Namen. Kein Booker Kane.

Gestern abend hätte ich ihn fast angerufen, nachdem Miss Birdies Gedächtnis wieder zum Leben erwacht war und sie mir die wundervolle Neuigkeit mitgeteilt hatte, aber ich habe es einfach nicht fertiggebracht. Da ich bestanden hatte, beschloß ich, abzuwarten, bis Booker mich anruft. Ich dachte mir, wenn er sich in den nächsten Tagen nicht melden würde, wäre ja klar, daß er durchgefallen war.

Jetzt weiß ich nicht, was ich tun soll. Ich kann ihn vor mir sehen, jetzt, in diesem Moment, wie er Charlene hilft, die Kinder für die Kirche anzuziehen, sich ein Lächeln abquält und um Haltung ringt und sie beide davon zu überzeugen versucht, daß es nur ein vorübergehender Rückschlag ist, beim nächsten Anlauf würde er das Examen bestimmt bestehen.

Aber ich weiß, daß er todunglücklich ist. Er ist verletzt und wütend auf sich selbst. Er macht sich Sorgen, was Marvin Shankle wohl dazu sagen wird, und ihm graust davor, morgen ins Büro zu gehen.

Booker ist ein ungeheuer stolzer Mann, der immer geglaubt hat, er könnte alles erreichen. Ich würde nur zu gern zu ihm fahren und gemeinsam mit ihm trauern, aber es würde nicht funktionieren.

Er wird morgen anrufen und mir gratulieren. Nach außen hin wird er so tun, als ließe er sich davon nicht unterkriegen, und nur geloben, es beim nächsten Mal besser zu machen.

Ich lese die Liste noch einmal durch, und plötzlich fällt mir auf, daß Sara Plankmores Name fehlt. Eine Sara Plankmore

Wilcox kommt auch nicht vor. Mr. S. Todd Wilcox hat das Examen bestanden, aber die ihm frisch Angetraute nicht.

Ich lache laut auf. Es ist gemein und niederträchtig, gehässig, kindisch, rachsüchtig, sogar abscheulich. Aber ich kann einfach nicht anders. Sie hat dafür gesorgt, daß sie schwanger wurde, damit sie geheiratet wird, und ich wette, der Druck war zu groß. Sie hatte in den letzten drei Monaten andere Dinge im Kopf, mußte ihre Hochzeit arrangieren und die Einrichtung fürs Kinderzimmer aussuchen. Da hat sie wohl ihre Studien vernachlässigt.

Ha, ha, ha. Nun bin ich doch derjenige, der zuletzt lacht.

Der Betrunkene, der Dan Van Landel angefahren hat, hatte eine Haftpflichtversicherung mit einem Limit von hunderttausend Dollar. Deck hat die Versicherung des Betrunkenen überzeugt, daß Van Landel mit seiner Klage Anrecht auf eine sehr viel höhere Entschädigung hat, und das sieht er ganz richtig. Also hat sich die Versicherung bereit erklärt, mit der gesamten Summe herauszurücken. Bruiser wurde nur in der letzten Minute gebraucht, um mit Klage zu drohen und dergleichen. Deck hat achtzig Prozent der Arbeit erledigt, ich höchstens fünfzehn Prozent. Den Rest billigen wir stillschweigend Bruiser zu. Aber nach dem Vergütungsschema in Bruisers Kanzlei werden weder Deck noch ich am Profit beteiligt sein. Bruiser hat nämlich klare Vorstellungen, was das Hereinholen von Profiten betrifft. Van Landel ist sein Fall, weil er zuerst davon gehört hat. Deck und ich sind zwar ins Krankenhaus gefahren, um seine Unterschrift zu besorgen, aber das ist sowieso unsere Aufgabe als Bruisers Angestellte. Wenn wir den Fall als erste aufgetan und uns den Vertrag gesichert hätten, ja dann stünde uns ein Teil des Honorars zu.

Bruiser ruft uns beide in sein Büro und macht die Tür zu. Er gratuliert mir zum bestandenen Anwaltsexamen. Er selber hat auch gleich beim ersten Anlauf bestanden; ich bin sicher, daß sich Deck dabei noch dämlicher vorkommt. Aber Deck läßt sich nichts anmerken, hält den Kopf ununterbrochen zur Seite geneigt und leckt sich über die Zähne. Bruiser plaudert einen Moment über den Van-Landel-Vergleich. Er hat heute morgen den Scheck über hunderttausend Dollar bekommen, und die Van Landels werden am Nachmittag zur Auszahlung erscheinen. Na ja, und da hat er sich gedacht, daß, vielleicht, auch wir etwas von dem Geschäft haben sollten.

Deck und ich tauschen nervöse Blicke.

Bruiser meint, das sei für ihn bisher ohnehin ein gutes Jahr gewesen, er hätte schon jetzt mehr Geld eingenommen als im ganzen Vorjahr zusammen, und er möchte doch, daß seine Leute glücklich sind. Außerdem sei es ein sehr schneller Vergleich gewesen. Er selbst habe weniger als sechs Stunden daran gearbeitet.

Deck und ich fragen uns, was er in diesen sechs Stunden gemacht hat.

Und deshalb, aus reiner Herzensgüte, will er uns beteiligen. Sein Anteil ist ein Drittel, also dreiunddreißigtausend Dollar, aber er wird nicht die gesamte Summe für sich behalten. Er wird sie mit uns teilen.»Ich gebe euch ein Drittel von meinem Anteil, von dem jeder die Hälfte bekommt.«

Deck und ich rechnen stumm. Ein Drittel von dreiunddreißigtausend Dollar sind elftausend, und die Hälfte davon sind fünftausendfünfhundert.

Ich schaffe es, keine Miene zu verziehen, und sage:»Danke, Bruiser. Das ist sehr großzügig.«

«Keine Ursache«, sagt er, als wären derartige Gunstbezeigungen für ihn die alltäglichste Sache der Welt.»Nehmen Sie es als Geschenk zum bestandenen Examen.«

«Danke.«

«Ja, danke«, sagt Deck. Wir sind beide verblüfft, aber wir denken auch beide, daß Bruiser immerhin zweiundzwanzig-tausend Dollar für sich behält, für sechs Stunden Arbeit. Das macht so an die dreitausendfünfhundert Dollar pro Stunde.

Aber ich habe mit keinem roten Heller gerechnet und komme mir plötzlich reich vor.

«Gute Arbeit, Leute. Und jetzt seht zu, daß ihr noch ein paar Mandanten ranschafft.«

Wir nicken gleichzeitig, Ich zähle mein Geld und überlege mir, wie ich es ausgeben werde. Deck tut zweifellos dasselbe.

«Sind wir bereit für morgen?«fragt Bruiser mich. Um neun

Uhr findet vor dem Ehrenwerten Richter Harvey Hale die Anhörung über den Antrag auf Klageabweisung von Great Benefit statt. Bruiser hat mit dem Richter ein sehr unerfreuliches Gespräch über diesen Antrag geführt, und wir sehen der Anhörung mit gemischten Gefühlen entgegen.

«Ich denke schon«, erwidere ich mit einem Anfug von Nervosität. Ich habe ihnen eine von mir selbst verfaßte, dreißig Seiten lange Erwiderung zukommen lassen, worauf Drummond und Genossen umgehend mit einer Erwiderung der Erwiderung reagierten. Bruiser hat Hale angerufen, und das Gespräch lief denkbar schlecht.

«Es könnte sein, daß ich einen Teil der Verhandlung Ihnen überlasse, also bereiten Sie sich vor«, sagt Bruiser. Ich schlucke schwer. Der Anflug von Nervosität verwandelt sich in Panik.

«Machen Sie sich an die Arbeit«, setzt er hinzu.»Es wäre peinlich, wenn wir den Fall schon beim Antrag auf Klageabweisung verlieren würden.«

«Ich bin auch mit dem Fall befaßt«, setzt Deck hilfsbereit hinzu.

«Gut. Wir gehen alle drei zum Gericht. Die anderen werden wahrscheinlich mit zwanzig Mann aufkreuzen.«

Plötzlicher Reichtum ruft ein Verlangen nach den besseren Dingen des Lebens hervor. Deck und ich beschließen, auf unseren üblichen Lunch aus Suppe und Sandwich bei Trudy's zu verzichten und statt dessen in einem nahe gelegenen Steak House zu essen. Wir bestellen Filet.

«Das hat er noch nie gemacht, daß er sein Geld mit anderen teilt«, sagt Deck unruhig. Wir sitzen in einer Nische im Hintergrund eines ziemlich düsteren Speiseraums. Es ist ausgeschlossen, daß jemand hören kann, was wir sagen, aber er ist trotzdem nervös.»Da ist etwas im Busche, Rudy. Da bin ich ganz sicher. Toxer und Ridge sind auf dem Sprung. Das FBI ist Bruiser dicht auf den Fersen. Er verschenkt Geld. Ich bin nervös, sehr nervös.«

«Okay, aber weshalb? Uns können sie nicht verhaften.«

«Ich mache mir keine Sorgen, daß ich verhaftet werden könnte. Ich mache mir Sorgen um meinen Job.«

«Das verstehe ich nicht. Wenn Bruiser angeklagt und verhaftet wird, dann ist er im Handumdrehen auf Kaution wieder draußen. In der Kanzlei wird alles weiterlaufen wie bisher.«

Das bringt ihn in Fahrt.»Und was ist, wenn sie mit Vorladungen und Eisensägen kommen? Das können sie nämlich. Wäre nicht das erste Mal bei einem Fall, bei dem es um organisiertes Verbrechen geht. Die Feds lieben es, über Anwaltskanzleien herzufallen, Akten zu beschlagnahmen und Computer wegzuschleppen. Leute wie Sie und ich sind denen dabei völlig egal.«

Der Gedanke ist mir offen gestanden noch nie gekommen. Ich nehme an, ich mache einen verblüfften Eindruck.

«Natürlich können sie ihm den Laden dichtmachen«, fährt er fort, jetzt sehr eindringlich.»Und sie würden es mit Freuden tun. Sie und ich, wir geraten in die Schußlinie, und niemand, absolut niemand schert sich drum.«

«Also, worauf wollen Sie hinaus?«

«Lassen Sie uns abhauen!«

Ich setze zu der Frage an, was er denn damit meint, aber es liegt auf der Hand. Deck ist jetzt mein Freund, aber er will viel mehr als das. Ich habe das Anwaltsexamen bestanden, also könnte er bei mir unterschlüpfen. Deck möchte einen Partner! Noch bevor ich etwas sagen kann, geht er zur Attacke über.»Wieviel Geld haben Sie?«fragt er.

«Äh — fünftausendfünfhundert Dollar.«

«Ich auch. Das macht elftausend. Wenn wir jeder zweitausend einbringen, sind das vier. Ein kleines Büro können wir für fünfhundert im Monat mieten, Telefon und anderes Gerät kosten weitere fünfhundert. Wir können uns ein paar billige Möbel besorgen, nichts Ausgefallenes. Wir operieren sechs Monate mit dem allerknappsten Budget und sehen zu, wie es läuft. Ich beschaffe die Fälle, Sie treten vor Gericht auf, wir teilen die Profite. Alles halbe-halbe — Ausgaben, Honorare, Profte, Arbeitszeit.«

Ich fühle mich völlig überrumpelt, aber ich denke mit.»Was ist mit einer Sekretärin?«

«Brauchen wir nicht«, sagt er rasch. Deck hat sich alles gründlich überlegt.»Jedenfalls nicht zu Anfang. Wir können das Telefon selber bedienen und ansonsten einen Anrufbeantworter anschließen. Ich kann tippen. Sie können tippen. Es wird funktionieren. Und wenn wir ein bißchen Geld gemacht haben, können wir auch ein Mädchen einstellen.«

«Wie hoch werden die Unkosten sein?«

«Weniger als zweitausend. Miete, Telefon, Büromaschinen, Material, Kopien und x andere kleine Posten. Aber wir können sparen und billig operieren. Wir halten die Kosten so niedrig wie möglich und sehen zu, daß Geld hereinkommt. Es ist ganz simpel. «Er mustert mich, während er einen Schluck Eistee trinkt, dann beugt er sich wieder vor.»Hören Sie, Rudy, so, wie ich es sehe, haben wir gerade zweiundzwanzigtausend Dollar auf dem Tisch liegen gelassen. Von Rechts wegen hätten wir mit dem gesamten Honorar abziehen müssen, und das hätte unsere Unkosten für ein Jahr gedeckt. Lassen Sie uns unsere eigene Show aufziehen und das ganze Geld behalten.«

Die Ethik verbietet es Anwälten, mit Nicht-Anwälten eine Partnerschaft einzugehen. Ich bin im Begriff, das zu erwähnen, doch dann wird mir klar, wie sinnlos es wäre. Deck würde ein Dutzend Ausreden einfallen.

«Die Miete kommt mir billig vor«, sage ich, nur um irgend etwas zu sagen und auch, um zu erfahren, wieviel Vorarbeit er bereits geleistet hat.

Er kneift die Augen zusammen und lächelt. Die Biberzähne funkeln.»Ich habe schon etwas gefunden. In einem alten Gebäude an der Madison über einem Antiquitätenladen. Vier Zimmer, Toilette, genau in der Mitte zwischen dem städtischen Gefängnis und St. Peter's.«

Der ideale Standort! Die Traumlage jedes Anwalts.»Das ist eine ziemlich rauhe Gegend«, sage ich.

«Was glauben Sie, weshalb die Miete so niedrig ist?«

«Ist es in gutem Zustand?«

«Es geht so. Wir würden es streichen müssen.«

«Im Streichen hab ich Übung.«

Unsere Salate kommen, und ich stopfe Grünzeug in mich hinein. Deck stochert in seinem Salat herum, ißt aber kaum etwas. Seine Gedanken überschlagen sich zu sehr, als daß er sich aufs Essen konzentrieren könnte.

«Ich muß etwas unternehmen, Rudy. Ich weiß Dinge, von denen ich Ihnen nichts sagen darf, okay? Sie können mir also glauben, wenn ich sage, daß Bruiser ein schwerer Sturz bevorsteht. Sein Glück hat ihn verlassen. «Er hält inne und stochert auf eine Walnuß ein.»Wenn Sie sich nicht mit mir zusammentun wollen, muß ich heute nachmittag mit Nicklass reden.«

Nach Toxer und Ridge ist Nicklass der einzige, der noch übrig ist, und ich weiß, daß Deck ihn nicht ausstehen kann. Außerdem bin ich ziemlich überzeugt, daß Deck, was Bruiser angeht, die Wahrheit sagt. Man braucht nur alle paar Tage mal eine Zeitung durchzublättern, um zu wissen, daß der Mann in ernsthaften Schwierigkeiten steckt. Deck war in den letzten Jahren sein loyalster Angestellter, und die Tatsache, daß er auf dem Absprung ist, gibt mir schwer zu denken.

Wir essen langsam und schweigend und denken beide über unsere nächsten Schritte nach. Noch vor vier Monaten wäre mir die Idee, mit jemandem wie Deck in einer Kanzlei zu arbeiten, undenkbar vorgekommen, ja sogar lächerlich, und jetzt sitze ich hier und kann mir nicht einmal genügend Einwände ausdenken, um ihn daran zu hindern, mein Partner zu werden.

«Wollen Sie mich nicht als Partner haben?«fragt er kläglich.

«Ich bin noch am Überlegen, Deck. Lassen Sie mir ein bißchen Zeit. Ich bin wie vor den Kopf geschlagen.«

«Tut mir leid. Aber wir müssen schnell handeln.«

«Wieviel wissen Sie?«

«Genug, um überzeugt zu sein. Fragen Sie nicht weiter.«

«Geben Sie mir ein paar Stunden Zeit. Lassen Sie es mich überschlafen.«

«In Ordnung. Wir müssen morgen früh zum Gericht, aber wir sollten uns zeitig treffen. Bei Trudy's. Im Büro können wir nicht reden. Sie überschlafen es und sagen mir morgen früh Bescheid.«

«Abgemacht.«

«Wie viele Akten haben Sie?«

Ich denke einen Moment nach. Ich habe eine dicke Akte zum Fall Black, eine ziemlich dünne über Miss Birdie und einen wertlosen Schadenersatzfall eines Arbeiters, den Bruiser mir vorige Woche auf den Schreibtisch geknallt hat.»Drei.«

«Holen Sie sie aus Ihrem Büro. Nehmen Sie sie mit nach Hause.«

«Gleich?«

«Gleich. Noch heute nachmittag. Und wenn Sie sonst noch etwas aus Ihrem Büro haben wollen, dann schaffen Sie es schnell weg. Aber lassen Sie sich nicht erwischen, okay?«

«Werden wir überwacht?«

Er zuckt zusammen und schaut sich um, dann nickt er bedächtig und verdreht hinter seinen dicken Brillengläsern die Augen.

«Von wem?«

«Von den Feds, nehme ich an. Die Kanzlei wird ständig beobachtet.«

Загрузка...