Kapitel 19

Ich sitze in meinem Büro und lerne für das Anwaltsexamen, weil ich sonst nichts zu tun habe. Mir ist klargeworden, daß auch niemand etwas anderes von mir erwartet, denn ich bin ja noch kein Anwalt und werde erst einer sein, wenn ich das Examen bestanden habe.

Es fällt mir schwer, mich zu konzentrieren. Weshalb habe ich mich nur wenige Tage vor dem Examen in eine verheiratete Frau verliebt? Mein Verstand sollte so scharf sein wie nur irgend möglich und sich unbelastet von irgendwelchen Nebensächlichkeiten und anderen Ablenkungen nur dem einen Ziel widmen können.

Sie ist eine Verliererin, das weiß ich inzwischen. Eine gebrochene Frau mit Narben, von denen viele vielleicht nie verheilen werden. Und er ist gefährlich. Bei der Vorstellung, daß ein anderer Mann seine reizende kleine Cheerleaderin anfassen könnte, würde er bestimmt ausrasten.

Mit den Füßen auf meinem Schreibtisch und hinter dem Kopf verschränkten Armen denke ich über das alles nach und starre ins Ungewisse, als plötzlich die Tür aufgerissen wird und Bruiser hereingestürmt kommt.»Was tun Sie da?«bellt er.»Ich lerne«, sage ich und nehme schleunigst die Füße vom Tisch.

«Ich dachte, Sie wollten nachmittags lernen. «Jetzt ist es halb elf. Er wandert vor meinem Schreibtisch hin und her.

«Hören Sie, Bruiser, heute ist Freitag. Das Examen fängt nächsten Mittwoch an. Ich bin ziemlich nervös.«

«Dann lernen Sie im Krankenhaus. Und ziehen Sie einen Fall an Land. Ich habe seit drei Tagen keinen neuen gesehen.«

«Es ist nicht so einfach, gleichzeitig zu lernen und einen Fall an Land zu ziehen.«

«Deck tut das auch.«

«Ja genau, Deck, der ewige Student.«

«Ich hatte gerade einen Anruf von Leo F. Drummond. Läutet da etwas bei Ihnen?«

«Nein. Sollte es das?«

«Er ist Seniorpartner bei Tinley Britt. Großartiger Prozeßanwalt, hat schon alle möglichen Finnenprozesse geführt. Verliert höchst selten. Wirklich hervorragender Anwalt, große Kanzlei.«

«Ich kenne Trent & Brent.«

«Nun, Sie werden sie bald genauer kennenlernen. Sie vertreten Great Benefit. Drummond leitet die Verteidigung.«

Meiner Schätzung nach gibt es in dieser Stadt mindestens hundert Kanzleien, die Versicherungsgesellschaften vertreten. Und es muß an die tausend Versicherungsgesellschaften geben. Wie stehen da die Chancen, daß die Gesellschaft, die ich am meisten hasse, Great Benefit, ausgerechnet Trent & Brent anheuert, die Kanzlei, die ich jeden Tag meines Lebens verfluche?

Seltsamerweise nehme ich es gelassen hin. Ich bin im Grunde nicht überrascht.

Plötzlich wird mir klar, weshalb Bruiser nicht stillstehen kann und so hastig spricht. Er macht sich Sorgen. Um meinetwillen hat er eine Zehn-Millionen-Dollar-Klage gegen eine große Firma eingereicht, die sich von einem Anwalt vertreten läßt, der ihn einschüchtert. Wie amüsant. Ich hätte mir nie träumen lassen, daß Bruiser vor irgend etwas Angst haben könnte.

«Was hat er gesagt?«

«Hallo. Wollte nur Bescheid geben. Er hat mir gesagt, daß der Fall Harvey Hale zugewiesen worden ist, der vor dreißig Jahren, als sie zusammen in Yale Jura studiert haben, sein Zimmergenosse war und der außerdem, falls Sie es nicht wissen sollten, ein hervorragender Verteidiger von Versicherungen war, bevor er einen Herzanfall hatte und sein Arzt ihm riet, sich einen ändern Job zu suchen. Ließ sich zum Richter wählen, aber die Vorstellung aus alten Anwaltszeiten, daß ein gerechtes und faires Urteil nur unter zehntausend Dollar liegen kann, hat er nie aufgegeben.«

«Tut mir leid, daß ich gefragt habe.«

«Wir haben es also mit Leo F. Drummond und seinem beachtlichen Mitarbeiterstab zu tun, und die bekommen auch noch ihren Lieblingsrichter. Sie haben alle Hände voll zu tun.«

«Ich? Was ist mit Ihnen?«

«Oh, ich werde in der Nähe sein. Aber das ist Ihr Baby. Die werden Sie in Papierkram ertränken. «Er geht zur Tür.»Vergessen Sie nicht, die werden nach Stunden bezahlt. Je mehr Papier sie produzieren, desto mehr Stunden können sie berechnen. «Er lacht und knallt die Tür zu, offenbar hoch erfreut, daß ich im Begriff bin, von den Überfiegern von der Konkurrenz vorgeführt zu werden.

Man hat mich im Stich gelassen. Bei Trent & Brent arbeiten mehr als hundert Anwälte, und ich fühle mich sehr allein.

Deck und ich essen einen Teller Suppe bei Trudy's. Die wenigen Gäste, die zum Lunch zu ihr kommen, sind ausschließlich Arbeiter. Das Lokal riecht nach Fett, Schweiß und gebratenem Fleisch. Es ist Decks Lieblingslokal, weil er hier schon ein paar Fälle aufgetan hat, überwiegend Arbeitsunfälle. Einer davon endete mit einem Vergleich über dreißigtausend. Er bekam ein Drittel von fünfundzwanzig Prozent, also zweieinhalbtausend Dollar.

Ein paar Bars hier in der Gegend besucht er auch öfter mal, gesteht er mir leise über die Suppe hinweg. Dann nimmt er seine Krawatte ab, damit er möglichst wie einer von den Gästen aussieht, und trinkt seine Cola. Er hört den Leuten zu, die sich nach der Arbeit einen hinter die Binde gießen. Er könnte mir sagen, wo die guten Bars liegen, die guten Weidegründe, wie er sie gern nennt. Deck steckt voller guter Ratschläge über das Jagen nach Fällen und das Aufspüren von Mandanten.

Und, ja, er ist gelegentlich sogar in den Pornoclubs gewesen, aber nur seiner Mandanten wegen. Man muß sich umtun, sagt er mehr als einmal. Er geht gern in die Casinos drüben in Mississippi und bezeichnet sie, vorausschauend wie er ist, vor allem deshalb als unerfreulich, weil dort nur arme Leute ihr Haushaltsgeld verspielen. Trotzdem könnte etwas zu holen sein. Die Kriminalität steigt, und je mehr Leute spielen, desto mehr Scheidungsverfahren und Konkurse wird es geben. Die Leute werden Anwälte brauchen. Da drüben gibt es eine Menge potentielles Leid, und er steht in den Startlöchern. Da ist etwas zu erwarten.

Er wird mich auf dem laufenden halten.

Ich verzehre eine weitere vorzügliche Mahlzeit in St. Peter's, im sogenannten Mull-Grill. Ich habe gehört, wie eine Gruppe von Assistenzärzten diese Cafeteria so nannte. Nudelsalat auf einem Plastikteller. Ich lerne sporadisch und sehe immer wieder auf die Uhr.

Um zehn erscheint der ältere Herr in der rosa Jacke, aber er kommt allein. Er bleibt stehen, sieht sich um, entdeckt mich und kommt herüber, mit ernster Miene und offenbar nicht glücklich über das, was er zu tun hat.

«Sind Sie Mr. Baylor?«fragt er. Er hat einen Briefumschlag in der Hand, und nachdem ich genickt habe, legt er ihn auf den Tisch.»Von Mrs. Riker«, sagt er, deutet eine Verbeugung an und geht davon.

Es ist ein normaler Briefumschlag, schlicht und weiß. Ich öffne ihn und ziehe eine Karte heraus. Darauf steht:

LieberRudy,

mein Arzt hat mich heute morgen entlassen, ich bin jetzt also wieder zu Hause. Danke für alles. Sprechen Sie ein Gebet für uns. Sie sind wundervoll.

Sie hat ihren Namen darunter gesetzt und außerdem ein Postskriptum: Bitte nicht anrufen oder schreiben. Das würde nur Probleme bringen. Nochmals danke.

Sie hat gewußt, daß ich hier sein und getreulich warten würde. Bei all den wollüstigen Gedanken, die mir in den letzten vierundzwanzig Stunden durchs Gehirn geschwirrt sind, ist mir nie die Idee gekommen, daß man sie entlassen könnte. Ich war ganz sicher, daß wir heute abend wieder miteinander reden würden.

Ich wandere ziellos auf den endlosen Korridoren herum und versuche, meine Gedanken zu ordnen. Ich bin entschlossen, sie wiederzusehen. Sie braucht mich, weil sonst niemand da ist, der ihr helfen kann.

An einem Münzfernsprecher finde ich einen Eintrag für Cliff Riker und wähle die Nummer. Eine Tonbandansage informiert mich, daß der Anschluß gesperrt ist.

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