Kapitel 44

Unter normalen Umständen wäre ich mir mit einer blau-grauen Mütze mit einem Tiger darauf, sonst im formellen Anzug im Terminal A des Flughafens von Memphis an einer Wand lehnend, ausgesprochen komisch vorgekommen. Aber dieser Tag war alles andere als normal. Es ist spät, und ich bin todmüde, aber das Adrenalin pulsiert. Einen besseren ersten Prozeßtag hätte es nicht geben können.

Die Maschine aus Chicago landet pünktlich, und ich werde rasch an meiner Mütze erkannt. Eine Frau mit einer großen, dunklen Sonnenbrille kommt auf mich zu, mustert mich von oben bis unten und sagt schließlich:»Mr. Baylor?«

«Der bin ich. «Ich begrüße Jackie Lemancyzk und ihren Begleiter, einen Mann, der sich nur als Carl vorstellt. Er trägt eine Reisetasche, und wir körnen gleich losgehen. Beide sind nervös.

Wir unterhalten uns auf dem Weg zum Hotel, einem Holiday Inn in der Innenstadt, sechs Blocks vom Gericht entfernt. Sie sitzt vorn neben mir. Carl lauert auf dem Rücksitz, sagt nichts, bewacht sie aber wie ein Rottweiler. Ich berichte über den größten Teil der Aufregungen des ersten Tages. Nein, sie wissen nicht, daß sie kommt. Ihre Hände zittern. Sie ist dünn und zerbrechlich und fürchtet sich vor ihrem eigenen Schatten. Von Rache abgesehen, kann ich mir keinen Grund für ihr Herkommen vorstellen.

Das Hotelzimmer ist auf meinen Namen reserviert, auf ihre Bitte hin. Wir lassen uns an einem kleinen Tisch in ihrem Zimmer im fünfzehnten Stock nieder und gehen die Vernehmung durch. Die Fragen sind in ihrer Reihenfolge getippt.

Wenn diese Frau schön ist, dann hat sie das gut versteckt. Ihr Haar ist kurz geschnitten und in einem dunkelroten Ton schlecht gefärbt. Ihr Anwalt hat gesagt, sie wäre in psychiatrischer Behandlung und ich sollte ihr darüber keine Fragen stellen. Ihre Augen sind blutunterlaufen und traurig, ohne eine

Spur von Make-up. Sie ist einunddreißig, zwei kleine Kinder, einmal geschieden; nach ihrer äußeren Erscheinung und ihrem Verhalten kann man sich nur schwer vorstellen, daß ihre Karriere bei Great Benefit darin bestand, von einem Bett ins andere zu steigen.

Carl gibt sich als ihr Beschützer. Er tätschelt ihren Arm, sagt gelegentlich seine Meinung zu einer speziellen Antwort. Sie möchte am Morgen so früh wie möglich aussagen und dann gleich zurück zum Flughafen und aus der Stadt verschwinden.

Ich verlasse sie gegen Mitternacht.

Um neun Uhr am Dienstag morgen ruft Richter Kipler uns zur Ordnung, weist aber den Gerichtsdiener an, die Geschworenen noch ein paar Minuten in ihrem Zimmer zu lassen. Er fragt Drummond, ob die Infonnation von der Schadensabteilung eingegangen ist. Bei einer Strafe von fünftausend Dollar pro Tag hoffe ich beinahe, daß dies nicht der Fall ist.

«Sie ist vor ungefähr einer Stunde gekommen, Euer Ehren«, sagt er, gibt mir einen gut zwei Zentimeter dicken Stapel Papier und lächelt sogar ein wenig, als er Kipler sein Exemplar aushändigt.

«Mr. Baylor, Sie werden ein bißchen Zeit brauchen«, sagt Seine Ehren.

«Geben Sie mir eine halbe Stunde«, sage ich.

«Gut. Wir holen die Geschworenen um neun Uhr dreißig.«

Deck und ich eilen in ein kleines Anwaltsberatungszimmer und wühlen uns durch die Information. Wie kaum anders zu erwarten, ist sie völlig unverständlich und unmöglich zu entschlüsseln. Das wird ihnen noch leid tun.

Um halb zehn werden die Geschworenen in den Saal gebracht und von Richter Kipler freundlich begrüßt. Sie vermelden, in guter Verfassung zu sein, keine Erkrankungen, am vergangenen Abend von niemandem auf den Fall hin angesprochen worden.

«Ihr Zeuge, Mr. Baylor«, sagt Kipler.

«Wir möchten mit Everett Lufkin fortfahren«, sage ich.

Lufkin wird geholt und betritt den Zeugenstand. Nach dem

Abschnitt-U-Fiasko gestern wird niemand ein Wort von dem glauben, was er sagt. Ich bin sicher, daß Drummond ihm bis Mitternacht die Hölle heiß gemacht hat. Er sieht ziemlich mitgenommen aus. Ich reiche ihm die offizielle Kopie der Information über die Schadensabteilung und frage ihn, ob er sie identifizieren kann.

«Es ist ein Ausdruck einer Computerzusammenfassung verschiedener Zahlen der Schadensabteilung.«

«Erstellt von den Computern von Great Benefit.«

«Das ist richtig.«

«Wann?«

«Gestern am Spätnachmittag und Abend.«

«Unter Ihrer Direktive als Vizepräsident der Schadensabteilung?«

«So könnte man es ausdrücken.«

«Gut. Und nun, Mr. Lufkin, sagen Sie den Geschworenen bitte, wie viele Krankenversicherungspolicen 1991 existierten.«

Er zögert, dann beginnt er, mit dem Ausdruck herumzuspielen. Wir warten, während er darin herumsucht. Das einzige Geräusch während einer langen, peinlichen Pause ist das Rascheln von Papier auf Lufkins Schoß.

Das» Abkippen «von Dokumenten ist eine Lieblingstaktik von Versicherungsgesellschaften und ihren Anwälten. Sie lieben es, bis zur letzten Minute zu warten, wenn es geht, bis einen Tag vor Prozeßbeginn, und dann vier große Kartons voller Papierkram an der Haustür des Vertreters der Anklage abzuladen. Das ist mir dank Tyrone Kipler erspart geblieben.

Dies ist nur ein Vorgeschmack davon. Vermutlich haben sie geglaubt, sie könnten heute morgen hier hereinspaziert kommen, mir siebzig Seiten Computerausdruck überreichen, von denen das meiste offensichtlich bedeutungslos ist, und damit hätte es sich dann.

«Das ist wirklich schwer zu sagen«, erklärt er, kaum hörbar.»Wenn ich etwas mehr Zeit hätte…«

«Sie haben zwei Monate Zeit gehabt«, sagt Kipler laut, und sein Mikrofon funktioniert prächtig. Ton und Lautstärke seiner Stimme sind bedrohlich.»Und nun beantworten Sie die Frage. «Am Tisch der Verteidigung winden sie sich bereits.

Weitere Seiten werden umgeblättert.»Wenn ich mich recht entsinne, hatten wir so an die siebenundneunzigtausend Policen.«

«Sie können sich nicht Ihre Zahlen hier ansehen und es uns genau sagen?«

Es ist offensichtlich, daß er das nicht kann. Er tut so, als wäre er so in das Material versunken, daß er meine Frage nicht beantworten kann.

«Und Sie sind der Vizepräsident der Schadensabteilung?«sage ich höhnisch.

«Der bin ich«, erwidert er.

«Lassen Sie mich folgendes fragen, Mr. Lufkin. Ist Ihres Wissens die Information, die ich haben will, in diesem Ausdruck enthalten?«

«Ja.«

«Also geht es nur darum, sie zu finden.«

«Wenn Sie eine Sekunde den Mund halten, dann finde ich sie. «Er faucht mich an wie ein waidwundes Tier, und das kommt sehr schlecht an.

«Ich brauche nicht den Mund zu halten, Mr. Lufkin.«

Drummond steht auf, fleht mit den Händen.»Euer Ehren, in aller Fairneß, der Zeuge versucht, die Information zu finden.«

«Mr. Drummond, der Zeuge hat zwei Monate Zeit gehabt, sich diese Information zu beschaffen. Er ist Vizepräsident der Schadensabteilung, und als solcher kann er doch bestimmt Zahlen lesen. Abgelehnt.«

«Vergessen Sie den Ausdruck eine Minute, Mr. Lufkin«, sage ich.»Wie sieht in einem durchschnittlichen Jahr das Verhältnis zwischen Policen und Ansprüchen aus? Nennen Sie uns einfach eine Prozentzahl.«

«Im Durchschnitt werden bei acht bis zehn Prozent unserer Policen Ansprüche geltend gemacht.«

«Und wieviel Prozent der Ansprüche werden endgültig abgewiesen?«

«Ungefähr zehn Prozent aller Ansprüche werden abgewiesen«, sagt er. Obwohl er plötzlich über die Antworten verfügt, gefällt es ihm doch ganz und gar nicht, sie liefern zu müssen.

«Auf welchen Betrag beläuft sich ein durchschnittlicher Anspruch, ob gewährt oder abgewiesen?«

Es tritt eine lange Pause ein, während er darüber nachdenkt. Ich glaube, er hat aufgegeben. Er will es einfach hinter sich bringen und so schnell wie möglich den Zeugenstand und Memphis verlassen können.

«Im Durchschnitt ungefähr fünftausend Dollar pro Anspruch.«

«Manche Ansprüche belaufen sich nur auf ein paar hundert Dollar, richtig?«

«Ja.«

«Und andere auf Zehntausende, richtig?«

«Ja.«

«Also ist es schwer zu sagen, wo der Durchschnitt liegt, richtig?«

«Ja.«

«Also, diese Durchschnitte und Prozentzahlen, die Sie mir eben genannt haben, sind die halbwegs typisch für die gesamte Branche, oder gelten sie nur für Great Benefit?«

«Ich kann nicht für die Branche sprechen.«

«Sie wissen es also nicht?«

«Das habe ich nicht gesagt.«

«Sie wissen es also? Bitte beantworten Sie die Frage.«

Seine Schultern sacken ein wenig herab. Der Mann will nur raus aus diesem Saal.»Ich würde sagen, sie gelten so ziemlich allgemein.«

«Danke. «Ich mache des Effektes wegen eine kurze Pause, konsultiere einen Moment lang meine Notizen, lege einen anderen Gang ein, zwinkere Deck zu, der daraufhin den Gerichtssaal verläßt.»Nur noch ein paar Fragen, Mr. Lufkin. Haben Sie Jackie Lemancyzk nahegelegt, zu kündigen?«

«Das habe ich nicht getan.«

«Wie würden Sie ihre Leistungen beurteilen?«

«Durchschnittlich.«

«Wissen Sie, weshalb sie von ihrer Position als leitende Schadenssachbearbeiterin entfernt wurde?«

«Soweit ich mich erinnere, hatte es etwas mit ihren mangelnden Fähigkeiten im Umgang mit Leuten zu tun.«

«Hat sie bei ihrem Ausscheiden irgendeine Art von Abfindung erhalten?«

«Nein. Sie hat gekündigt.«

«Keinerlei Abfindung?«

«Nein.«

«Danke, Mr. Lufkin. Euer Ehren, ich bin fertig mit diesem Zeugen.«

Drummond hat zwei Möglichkeiten. Er kann Lufkin gleich vernehmen, ohne Suggestivfragen zu stellen, oder ihn sich für später aufsparen. Im Augenblick dürfte es unmöglich sein, diesen Kerl wieder auf die Beine zu stellen, und ich zweifle nicht daran, daß Drummond ihn so schnell wie möglich hier herausschaffen will.

«Euer Ehren, wir heben uns Mr. Lufkin für später auf«, sagt Drummond. Keine Überraschung. Die Geschworenen werden ihn nicht wieder zu Gesicht bekommen.

«In Ordnung. Mr. Baylor, rufen Sie Ihren nächsten Zeugen auf.«

Ich sage es mit voller Lautstärke.»Die Anklage ruft Jackie Lemancyzk auf.«

Ich drehe mich schnell um, um die Reaktion von Underhall und Aldy zu beobachten. Sie sind gerade dabei, miteinander zu flüstern, und sie erstarren, als sie ihren Namen hören. Ihre Augen quellen hervor, ihre Münder offnen sich in fassungsloser Verblüffung.

Der arme Lufkin hört es auf halbem Wege zur Doppeltür. Er bleibt wie angewurzelt stehen, wirft einen hektischen Blick auf den Tisch der Verteidigung, dann verläßt er noch schnelleren Schrittes den Gerichtssaal.

Drummond ist auf den Beinen, umgeben von seinen Leuten.»Euer Ehren, dürfen wir nach vorn kommen?«

Kipler bedeutet uns, heraufzukommen; er hat sich vom Mikrofon abgewendet. Mein Gegner tut so, als wäre er außer sich. Ich bin sicher, daß er überrascht ist, aber er hat keinen Anlaß, mir unlautere Machenschaften vorzuwerfen. Sein Atem geht stoßweise.»Euer Ehren, das kommt völlig überraschend«, zischt er. Es ist wichtig, daß die Geschworenen weder seine Worte hören noch sehen, wie schockiert er ist.

«Wieso?«frage ich gelassen.»Sie ist in der Vorverhandlung als potentielle Zeugin benannt worden.«

«Wir haben ein Recht darauf, im voraus informiert zu werden. Wann haben Sie sie gefunden?«

«Ich wußte nicht, daß sie verlorengegangen war.«

«Das ist eine faire Frage, Mr. Baylor«, sagt Seine Ehren und wirft mir zum erstenmal in der Geschichte einen mißbilligenden Blick zu. Ich schaue sie beide unschuldig an, als wollte ich sagen:»Hey, ich bin ein Anfänger. Da müssen Sie mir schon einiges nachsehen.«

«Sie ist in der Vorverhandlung benannt worden«, wiederhole ich, und wir wissen alle drei, daß sie aussagen wird. Vielleicht hätte ich das Gericht gestern informieren sollen, daß sie in der Stadt ist, aber das ist schließlich mein erster Prozeß.

Sie folgt Deck in den Gerichtssaal. Underhall und Aldy vermeiden es, sie anzusehen. Die fünf Typen von Trent & Brent verfolgen jeden ihrer Schritte. Sie bietet einen erfreulichen Anblick. An ihrem dünnen Körper hängt ein locker sitzendes blaues Kleid, das knapp über ihren Knien endet. Ihr Gesicht sieht völlig anders aus als gestern abend, viel hübscher. Sie legt ihren Eid ab, nimmt im Zeugenstand Platz, wirft einen haßerfüllten Blick auf die Typen von Great Benefit und ist zur Aussage bereit.

Ich frage mich, ob sie mit Underhall oder Aldy geschlafen hat. Gestern abend hat sie Lufkin und einen weiteren erwähnt, aber ich weiß, daß ich nicht die ganze Geschichte zu hören bekommen habe.

Wir bringen die grundlegenden Fragen schnell hinter uns, dann kommen wir zur Sache.

«Wie lange haben Sie für Great Benefit gearbeitet?«

«Sechs Jahre.«

«Und wann endete Ihre Anstellung?«

«Am 3. Oktober.«

«Wie hat sie geendet?«

«Ich wurde entlassen.«

«Sie haben nicht gekündigt?«

«Nein. Ich wurde entlassen.«

«Wer hat Sie entlassen?«

«Es war eine Verschwörung. Everett Lufkin, Kermit Aldy, Jack Underhall und noch ein paar andere. «Sie deutet mit einem Kopfnicken auf die Schuldigen, und alle Hälse drehen sich zu den Leuten von Great Benefit.

Ich trete vor die Zeugin und gebe ihr eine Kopie ihres Kündigungsschreibens.»Erkennen Sie dies?«frage ich.

«Das ist der Brief, den ich getippt und unterschrieben habe«, sagt sie.

«In dem Brief heißt es, daß Sie aus persönlichen Gründen kündigen.«

«Der Brief ist eine Lüge. Ich wurde entlassen, weil ich mit dem Fall Donny Ray Black zu tun hatte und weil ich am 5. Oktober vernommen werden sollte. Ich wurde entlassen, damit die Firma behaupten konnte, ich arbeitete nicht mehr für sie.«

«Wer hat Sie dazu veranlaßt, diesen Brief zu schreiben?«

«Dieselben Leute. Es war eine Verschwörung.«

«Können Sie uns das erklären?«

Sie schaut zum erstenmal die Geschworenen an, und die sehen sie an. Sie schluckt schwer und beginnt zu reden.»An dem Samstag vor meiner geplanten Vernehmung wurde ich aufgefordert, ins Personalbüro zu kommen. Dort wartete Jack Underhall, der Mann in dem grauen Anzug da drüben. Er ist einer der Firmenanwälte. Er sagte mir, ich müßte sofort verschwinden, und es gäbe zwei Möglichkeiten. Ich könnte es eine Entlassung nennen und ohne irgend etwas gehen. Oder ich könnte diesen Brief schreiben und es eine Kündigung nennen, und die Gesellschaft würde mir zehntausend Dollar in bar geben, damit ich den Mund halte. Und ich mußte mich sofort entscheiden, in seiner Gegenwart.«

Gestern abend war sie imstande, emotionslos darüber zu sprechen, aber vor Gericht liegen die Dinge anders. Sie beißt sich auf die Unterlippe, kämpft eine Minute mit sich, dann kann sie weitersprechen.»Ich bin eine geschiedene Mutter mit zwei Kindern, und ich habe eine Menge Rechnungen zu bezahlen. Ich hatte keine Wahl. Ich war plötzlich arbeitslos. Ich schrieb den Brief, nahm das Geld und unterschrieb eine Abmachung, daß ich nie mit irgend jemanden über meine Schadensakten reden würde.«

«Eingeschlossen die Black-Akte.«

«Besonders die Black-Akte.«

«Wenn Sie das Geld genommen und die Abmachung unterschrieben haben — weshalb sind Sie dann hier?«

«Nachdem ich den Schock einigermaßen überwunden hatte, habe ich mit einem Anwalt gesprochen. Einem sehr guten Anwalt. Er hat mir versichert, daß die Abmachung, die ich unterschrieben habe, gesetzwidrig ist.«

«Haben Sie eine Kopie dieser Abmachung?«

«Nein. Mr. Underhall wollte mir keine geben. Aber Sie können ihn ja fragen. Ich bin sicher, daß er das Original hat. «Ich drehe mich langsam um und starre Jack Underhall an, und alle anderen im Saal tun dasselbe. Plötzlich sind seine Schnürsenkel zum Mittelpunkt seines Lebens geworden, und er fummelt an ihnen herum, scheinbar völlig unbetroffen von ihrer Aussage.

Ich sehe Leo Drummond an, und er macht zum erstenmal einen völlig geschlagenen Eindruck. Natürlich hat sein Mandant ihm nichts von der Bestechung mit Bargeld oder der abgenötigten Unterschrift erzählt.

«Weshalb haben Sie einen Anwalt aufgesucht?«

«Weil ich Rat brauchte. Ich wurde rechtswidrig entlassen. Aber vorher wurde ich diskriminiert, weil ich eine Frau bin, und ich wurde von mehreren der leitenden Mitarbeiter bei Great Benefit sexuell belästigt.«

«War jemand darunter, den wir kennen?«

«Einspruch, Euer Ehren«, sagt Drummond.»Es wäre ja vielleicht ganz lustig, über diese Sache zu reden, aber für den Fall ist sie nicht relevant.«

«Lassen Sie uns sehen, wohin es führt. Fürs erste weise ich den Einspruch zurück. Bitte beantworten Sie die Frage, Ms. Lemancyzk.«

Sie holt tief Luft, dann sagt sie:»Ich hatte drei Jahre lang Sex mit Everett Lufkin. Solange ich bereit war, zu tun, was er wollte, wurde mein Gehalt erhöht, und ich wurde befördert. Als ich es satt hatte und Schluß machte, verlor ich meine Stellung als leitende Schadenssachbearbeiterin, und mein Gehalt wurde um zwanzig Prozent gekürzt. Dann kam Russell Krokit, der damals mein direkter Vorgesetzter war, aber gleichzeitig mit mir entlassen wurde, auf die Idee, daß er gern eine Affäre mit mir hätte. Er drängte sich mir auf, sagte, wenn ich nicht mitspielte, würde ich meinen Job verlieren. Aber wenn ich eine Zeitlang seine Freundin sein wollte, dann würde er dafür sorgen, daß ich wieder befördert würde. Ich hatte nur die Wahl, mitzumachen oder hinauszufliegen.«

«Beide Männer sind verheiratet?«

«Ja, mit Kindern. Es war allgemein bekannt, daß sie den jungen Frauen in der Schadensabteilung nachstellten. Und diese beiden waren nicht die einzigen Bosse, die Beförderung von Sex abhängig machten. Ich könnte Ihnen eine Menge Namen nennen.«

Wieder richten sich alle Blicke auf Underhall und Aldy.

Ich mache eine kurze Pause, um etwas auf meinem Tisch zu überprüfen. Das ist nur ein kleiner Trick, um eine saftige Aussage einen Moment in der Luft hängen zu lassen, bevor ich weitermache.

Ich sehe Jackie an, und sie tupft sich mit einem Papiertaschentuch die Augen ab. Sie sind gerötet. Die Geschworenen sind auf ihrer Seite.

«Lassen Sie uns über die Black-Akte reden«, sage ich.»Sie wurde Ihnen zugeteilt.«

«Das ist richtig. Das Formular, mit dem Mrs. Black erstmals ihren Anspruch geltend machte, wurde mir zugeteilt. Der damaligen Verfahrensweise der Gesellschaft entsprechend, habe ich ihr einen Brief geschrieben und ihren Anspruch abgewiesen.«

«Weshalb?«

«Weshalb? Weil alle Ansprüche erst einmal abgewiesen wurden, zumindest 1991.«

«Alle Ansprüche?«

«Ja. Es war unsere Taktik, sämtliche Ansprüche erst einmal abzuweisen und dann die kleineren zu überprüfen, die legitim zu sein schienen. Einige davon wurden schließlich ausgezahlt, aber die größeren Ansprüche wurden nicht reguliert, außer wenn ein Anwalt eingeschaltet wurde.«

«Wann wurde diese Taktik eingeführt?«

«Am 1. Januar 1991. Es war ein Experiment, eine Art Programm. «Ich nicke ihr zu. Machen Sie weiter.»Die Firma beschloß, für einen Zeitraum von zwölf Monaten jeden Anspruch über eintausend Dollar abzuweisen. Es spielte keine Rolle, wie legitim ein Anspruch war, er wurde einfach abgewiesen. Auch viele der kleineren Ansprüche wurden letzten Endes abgewiesen, wenn wir einen halbwegs stichhaltigen Grund finden konnten. Von den größeren Ansprüchen wurden nur sehr wenige beglichen, und das auch nur, nachdem der Versicherte sich einen Anwalt genommen und angefangen hatte, uns zu drohen.«

«Wie lange wurde auf diese Art verfahren?«

«Zwölf Monate. Es war ein auf ein Jahr begrenztes Experiment. So etwas war in der Branche noch nie zuvor gemacht worden, und das Management hielt es für eine großartige Idee. Ein Jahr lang alles abweisen, das gesparte Geld zusammenzählen, den für schnelle Vergleiche gezahlten Betrag abziehen, und was übrigbleibt, ist ein Topf voller Gold.«

«Wieviel Gold?«

«Das Verfahren brachte einen zusätzlichen Nettogewinn von rund vierzig Millionen ein.«

«Woher wissen Sie das?«

«Wenn man mit diesen elenden Kerlen lange genug ins Bett geht, bekommt man alles mögliche zu hören. Sie erzählen einem alles. Sie reden über ihre Frauen und ihre Jobs. Darauf bin ich nicht stolz, okay? Es hat mir nicht eine Sekunde lang Spaß gemacht. Ich war ein Opfer. «Ihre Augen sind wieder rot, und ihre Stimme bebt ein wenig.

Wieder eine lange Pause, während ich meine Notizen konsultiere.»Wie wurde der Anspruch der Blacks behandelt?«

«Anfangs wurde er abgewiesen wie alle anderen auch. Aber es war ein großer Anspruch, und er wurde anders kodiert. Sobald die Worte >akute Leukämie< aufgetaucht waren, wurde alles, was ich tat, von Russell Krokit kontrolliert. Schon sehr früh wurde ihnen klar, daß Knochenmarkstransplantationen in der Police nicht ausgeschlossen waren. Die Akte bekam aus zwei Gründen besonderes Gewicht. Erstens war sie plötzlich einen Haufen Geld wert, Geld, das die Firma offensichtlich nicht zahlen wollte. Und zweitens war der Versicherte todkrank.«

«Die Schadensabteilung hat also gewußt, daß Donny Ray sterben würde?«

«Natürlich. Seine medizinischen Unterlagen waren eindeutig. Ich erinnere mich an einen Bericht seines Arztes, in dem es hieß, die Chemotherapie hätte gut angeschlagen, aber die Leukämie würde zurückkehren, voraussichtlich innerhalb eines Jahres, und sie würde mit dem Tod des Patienten enden, wenn er keine Knochenmarkstransplantation bekäme.«

«Haben Sie diesen Bericht irgend jemandem gezeigt?«

«Ich habe ihn Russell Krokit gezeigt. Er hat ihn seinem Boß, Everett Lufkin, gezeigt. Irgendwo ganz oben wurde die Entscheidung getroffen, den Anspruch auch weiterhin abzuweisen.«

«Aber Sie wußten, daß das Geld hätte gezahlt werden müssen?«

«Alle wußten es, aber die Firma setzte auf ihre Chance.«

«Können Sie das erklären?«

«Die Chance, daß der Versicherte keinen Anwalt einschaltete.«

«Wußten Sie, wie groß diese Chance zu jener Zeit war?«

«Man war allgemein überzeugt, daß von fünfundzwanzig Versicherten nicht mehr als einer mit einem Anwalt sprach. Nur aus diesem Grund haben sie dieses Experiment gestartet. Sie wußten, daß sie damit durchkommen würden. Sie verkaufen diese Policen an Leute, die nicht sonderlich gebildet sind, und sie rechnen damit, daß sie in ihrer Unwissenheit die Abweisungen akzeptieren.«

«Was passierte, wenn Sie einen Brief von einem Anwalt bekamen?«

«Dann sah die Sache völlig anders aus. Wenn sich der Anspruch auf weniger als fünftausend Dollar belief und legitim war, haben wir sofort gezahlt und einen Entschuldigungsbrief geschrieben. Nur ein internes Versehen, Sie wissen schon, diese Art von Brief. Vielleicht hatten auch unsere Computer schuld. Ich habe Dutzende solcher Briefe geschrieben. Wenn sich der Anspruch auf mehr als fünftausend Dollar belief, dann wurde mir die Akte aus der Hand genommen und einer höheren Instanz zugewiesen. Ich glaube, sie wurden fast immer bezahlt. Wenn der Anwalt eine Klage eingereicht hatte oder im Begriff war, es zu tun, bemühte sich die Gesellschaft um einen stillschweigenden Vergleich.«

«Wie oft ist das passiert?«

«Das weiß ich wirklich nicht.«

Ich trete vom Podium zurück, sage» Danke«, dann wende ich mich an Drummond und sage mit einem freundlichen Lächeln:»Ihre Zeugin.«

Ich setze mich zu Dot, die tränenüberströmt leise vor sich hin schluchzt. Sie hat sich schon immer Vorwürfe gemacht, daß sie sich nicht schon früher einen Anwalt gesucht hat, und jetzt diese Aussage hören zu müssen tut besonders weh. Einerlei, wie der Prozeß ausgeht — sie wird es sich nie verzeihen.

Glücklicherweise sehen mehrere der Geschworenen ihr Weinen.

Der arme Leo begibt sich langsam zu einer so weit von den Geschworenen entfernten Stelle, daß er gerade noch die Möglichkeit hat, Fragen zu stellen. Ich kann mir nicht vorstellen, was er fragen könnte, aber ich bin sicher, daß er schon des öfteren überrumpelt worden ist.

Er stellt sich vor, sehr herzlich, teilt Jackie mit, daß sie sich natürlich noch nie begegnet wären. Damit will er den Geschworenen mitteilen, daß er keine Ahnung gehabt hat, was sie aussagen würde. Sie bedenkt ihn mit einem sengenden Blick. Jetzt haßt sie nicht nur Great Benefit, sondern auch jeden Anwalt, der erbärmlich genug ist, die Gesellschaft zu vertreten.

«Stimmt es, Ms. Lemancyzk, daß Sie kürzlich wegen verschiedener Probleme in eine psychiatrische Klinik eingewiesen wurden?«Er stellt diese Frage sehr behutsam. In einem Prozeß sollte man keine Fragen stellen, wenn man nicht die Antwort darauf bereits weiß, aber ich habe das Gefühl, daß Leo nicht weiß, was kommen wird. Seine Quelle sind ein paar verzweifelte Zuflüsterungen in der letzten Viertelstunde.

«Nein, das stimmt nicht. «Sie ist wütend.

«Ich bitte um Entschuldigung. Aber Sie waren in Behandlung?«

«Ich bin nicht eingewiesen worden. Ich habe mich freiwillig in eine Klinik begeben und dort zwei Wochen verbracht. Ich konnte gehen, wann immer ich wollte. Die Behandlung war angeblich durch meine Personalpolice bei Great Benefit gedeckt. Sie war angeblich bis zwölf Monate nach meinem Ausscheiden gültig. Natürlich haben sie den Anspruch abgewiesen.«

Drummond kaut auf einem Fingernagel und starrt auf seinen Block, als hätte er das nicht gehört. Nächste Frage, Leo.

«Sind Sie deshalb hier? Weil Sie wütend sind auf Great Be-neft?«

«Ich hasse Great Benefit und die meisten der Würmer, die dort arbeiten. Beantwortet das Ihre Frage?«

«Ist Ihr Haß der Grund dafür, daß Sie heute hier aussagen?«

«Nein. Ich bin hier, weil ich weiß, daß sie ganz bewußt Tausende von Leuten betrogen haben. Diese Geschichte mußte erzählt werden.«

Gib lieber auf, Leo.

«Weshalb haben Sie sich in eine psychiatrische Klinik begeben?«

«Ich kämpfe gegen Alkoholismus und Depressionen. Im Augenblick bin ich okay. Ich weiß nicht, wie es nächste Woche aussehen wird. Sechs Jahre lang bin ich von Ihren Mandanten wie ein Stück Fleisch behandelt worden. Ich wurde im Büro herumgereicht wie eine Schachtel Pralinen, und jeder hat sich genommen, was er haben wollte. Sie haben mir nachgestellt, weil ich pleite war, ledig mit zwei Kindern, und weil ich einen hübschen Hintern hatte. Das hat mich meine Selbstachtung gekostet. Jetzt schlage ich zurück, Mr. Drummond. Ich versuche, mich selbst zu retten, und wenn ich Behandlung brauche, dann beschaffe ich sie mir. Ich wollte nur, Ihr Mandant würde die verdammten Rechnungen bezahlen.«

«Keine weiteren Fragen, Euer Ehren. «Drummond kehrt eiligst zu seinem Tisch zurück. Ich begleite Jackie durch die Schranke und fast bis zur Tür. Ich danke ihr mehr als einmal und verspreche, ihren Anwalt anzurufen. Deck wird sie zum Flughafen fahren.

Es ist fast halb zwölf. Ich möchte, daß die Geschworenen

Zeit haben, beim Lunch über ihre Aussage nachzudenken, also bitte ich Richter Kipler um eine vorzeitige Unterbrechung. Meine offizielle Begründung lautet, daß ich Zeit brauche, um mich in den Computerausdruck zu vertiefen, bevor ich weitere Zeugen aufrufe.

Die Geldstrafe in Höhe von zehntausend Dollar ist eingegangen, während wir in diesem Gerichtssaal waren, und Drummond hat sie in Treuhandverwahrung gegeben und gleichzeitig einen zwanzigseitigen Antrag und Schriftsatz eingereicht. Er will gegen die Strafe Berufung einlegen, also wird das Geld unantastbar bei Gericht verbleiben, bis darüber entschieden ist. Es gibt Dinge, die mich mehr beschäftigen.

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