Kapitel 17

Miss Birdie geht nach der Wiederholung von M.A.S.H. um elf zu Bett. Sie hat mich etliche Male eingeladen, nach dem Abendessen mit ihr vor dem Fernseher zu sitzen, aber bisher ist es mir immer gelungen, die richtigen Entschuldigungen zu finden.

Ich sitze auf der Treppe vor meiner Wohnung und warte darauf, daß es in ihrem Haus dunkel wird. Ich kann ihre Silhouette sehen, während sie sich von einer Tür zur nächsten bewegt, Schlösser überprüft, Jalousien zuzieht.

Ich nehme an, alte Leute gewöhnen sich ans Alleinsein, obwohl niemand damit rechnet, seine letzten Jahre in Einsamkeit verbringen zu müssen, fern von geliebten Menschen. In jüngeren Jahren war sie bestimmt überzeugt, daß sie diese Zeit umgeben von ihren Enkelkindern verbringen würde. Ihre eigenen Kinder würden in der Nähe wohnen, täglich vorbeikommen, um nach Mom zu sehen, ihr Blumen und Kekse und Geschenke bringen. Miss Birdie hatte nicht die Absicht, ihre letzten Jahre allein zu verbringen, in einem alten Haus mit verblassenden Erinnerungen.

Sie spricht nur selten über ihre Kinder und Enkelkinder. Es stehen ein paar Fotografien herum, aber sie sind, der Mode nach zu urteilen, ziemlich alt. Ich bin jetzt seit mehreren Wochen hier und wüßte nicht, daß sie in dieser Zeit auch nur einmal Kontakt mit ihren Angehörigen gehabt hätte.

Ich habe ein schlechtes Gewissen, wenn ich ihr abends nicht Gesellschaft leiste, aber ich habe meine Gründe. Sie sieht sich eine alberne Comedy-Serie nach der anderen an, und die kann ich nicht ausstehen. Ich weiß das, weil sie unaufhörlich davon erzählt. Außerdem muß ich für das Anwaltsexamen lernen.

Es gibt noch einen weiteren Grund, warum ich Abstand halte. Miss Birdie hat ziemlich unmißverständlich angedeutet, daß das Haus gestrichen werden muß und daß sie, wenn sie jemals mit dem Mulchverteilen fertig werden sollte, Zeit haben würde für das nächste Projekt.

Ich habe heute einen Brief an einen Anwalt in Atlanta geschrieben, als Anwaltsgehilfe der Kanzlei von J. Lyman Stone, und um ein paar Auskünfte über den Nachlaß eines gewissen Anthony L. Murdine, den letzten Ehemann von Miss Birdie, gebeten. Meine Nachforschungen gehen nur langsam voran und bringen nicht viel ans Licht.

In ihrem Schlafzimmer geht das Licht aus, und ich schleiche die wacklige Treppe hinunter und dann barfuß und auf Zehenspitzen über den feuchten Rasen zu der zwischen zwei kleinen Bäumen aufgehängten, ausgefransten alten Hängematte. Letzte Nacht habe ich eine Stunde darin geschaukelt, ohne mich zu verletzen. Von der Hängematte aus hat man einen prächtigen Blick durch die Bäume hindurch auf den vollen Mond. Ich schaukele sanft. Es ist eine warme Nacht.

Seit der Van-Landel-Episode heute nachmittag im Krankenhaus bin ich ziemlich deprimiert. Vor knapp drei Jahren habe ich das Jurastudium in der typischen edlen Absicht angefangen, daß ich eines Tages meine Lizenz dazu benutzen würde, im kleinen Rahmen die Gesellschaft zu verbessern, einen ehrenwerten Beruf auszuüben, regiert von einem ethischen Kanon, den einzuhalten sich alle Anwälte bemühen würden. Das habe ich tatsächlich geglaubt. Ich wußte, daß ich die Welt nicht würde verändern können, aber ich träumte davon, in einer auf Hochdruck laufenden Umgebung mit scharfsinnigen Leuten zusammenzuarbeiten, die sich an erhabene Maßstäbe hielten. Ich wollte hart arbeiten, in meinem Beruf vorankommen und auf diese Weise Mandanten anziehen, nicht durch reißerisches Inserieren, sondern durch meinen Ruf. Und im Laufe der Zeit, während meine Fähigkeiten und Honorare wuchsen, würde ich in der Lage sein, auch unpopuläre Fälle und Mandanten anzunehmen, die mir nichts einbrachten. Solche Träume sind bei angehenden Jurastudenten keine Seltenheit.

Zu Ehren der Fakultät muß gesagt werden, daß wir Stunden mit dem Einprägen und Diskutieren ethischer Grundsätze verbrachten. Dieses Thema wurde mit so viel Nachdruck behandelt, daß wir annahmen, die Profession wäre eifrig darauf bedacht, sich an ein starres System von Richtlinien zu halten. Und jetzt bin ich deprimiert von der Wahrheit. Im letzten Monat mußte ich erleben, wie ein Anwalt nach dem anderen Pfeile in meinen Ballon schoß. Jetzt bin ich zu einem Wilderer in Krankenhauscafeterias herabgesunken, für tausend Dollar im Monat. Mir ist speiübel bei dem Gedanken, was aus mir geworden ist, und ich bin benommen von der Geschwindigkeit, mit der ich gefallen bin.

Mein bester Freund im College war Craig Balter. Wir haben zwei Jahre zusammengewohnt. Voriges Jahr war ich bei seiner Hochzeit. Als wir mit dem College anfingen, hatte Craig nur ein Ziel, und das war, an einer High-School Geschichte zu unterrichten. Er war sehr intelligent, und das College fiel ihm leicht. Wir hatten lange Diskussionen darüber, was wir mit unserem Leben anfangen würden. Ich fand, er bliebe unterhalb seiner Fähigkeiten, wenn er unterrichten wollte, und er wurde wütend, wenn ich meinen künftigen Beruf mit seinem verglich. Ich war auf viel Geld und den steilen Aufstieg zum Erfolg aus. Sein Ziel war das Klassenzimmer, in dem sein Gehalt von Faktoren abhing, über die er nicht zu bestimmen hatte.

Craig machte seinen Master of Arts und heiratete eine Lehrerin. Jetzt unterrichtet er Geschichte und Sozialkunde in der neunten Klasse. Sie ist schwanger und unterrichtet in der Vorschule. Sie haben ein hübsches Haus auf dem Lande mit ein paar Morgen Land und einem Garten, und sie sind die glücklichsten Menschen, die ich kenne. Zusammen verdienen sie vermutlich ungefähr fünfzigtausend im Jahr.

Aber Craig ist das Geld gleichgültig. Er tut genau das, was er schon immer tun wollte. Ich dagegen habe keine Ahnung, was ich tue. Craigs Job ist überaus befriedigend, weil er es mit jungen Menschen zu tun hat. Er hat feste Vorstellungen vom Sinn und Zweck seiner Arbeit. Ich dagegen werde morgen ins Büro gehen in der Hoffnung, daß ich auf die eine oder andere Weise über einen arglosen Mandanten herfallen kann, dem es sowieso schon ziemlich schlechtgeht. Wenn Anwälte soviel verdienen würden wie Lehrer, müßten neun von zehn juristischen Fakultäten sofort geschlossen werden.

Es kann nicht so bleiben. Aber bevor sich etwas ändern kann, muß ich auf mindestens zwei weitere mögliche Katastrophen gefaßt sein. Erstens könnte ich wegen des Lake-Brandes verhaftet oder sonstwie behelligt werden, und zweitens könnte ich beim Anwaltsexamen durchfallen.

Gedanken an beides halten mich bis in die frühen Morgenstunden in der Hängematte wach.

Bruiser ist zeitig im Büro, rotäugig und verkatert, aber in seiner besten Anwaltskluft — teurer Kammgarnanzug, gestärktes weißes Baumwollhemd, elegante Seidenkrawatte. Seine wehende Mähne scheint heute morgen eine Extrawäsche erhalten zu haben. Sie schimmert vor Sauberkeit.

Er ist auf dem Weg zum Gericht, um bei der Vorverhandlung in einer Drogensache zu plädieren, und er ist ganz Hektik und Aktion. Ich bin vor seinen Schreibtisch zitiert worden, um meine Instruktionen entgegenzunehmen.

«Gute Arbeit bei Van Landel«, sagt er, in eine Flut von Papieren und Akten versunken. Dru hantiert hinter ihm herum, gerade außerhalb seiner Reichweite. Die Haie mustern sie hungrig.»Ich habe vor ein paar Minuten mit der Versicherung gesprochen. Massenhaft Deckung. Die Haftung scheint klar. Wie schwer ist der Junge verletzt?«

Gestern abend habe ich eine nervenaufreibende Stunde mit Dan Van Landel und seiner Frau im Krankenhaus verbracht. Sie hatten Unmengen von Fragen, bei denen es vor allem darum ging, wieviel sie bekommen würden. Ich hatte nur wenige eindeutige Antworten, tischte ihnen aber eine Menge Juristenjargon auf. Bisher bleiben sie bei der Stange.»Ein Bein gebrochen, ein Arm, mehrere Rippen, zahlreiche Schnittwunden. Der Arzt sagt, er wird zehn Tage im Krankenhaus bleiben müssen.«

Das entlockt Bruiser ein Lächeln.»Bleiben Sie dran. Kümmern Sie sich um die Recherchen. Hören Sie auf Deck. Das könnte ein hübscher Vergleich werden.«

Hübsch für Bruiser, aber ich werde keinen Anteil daran haben. Dieser Fall wird für mich kein Honorar abwerfen.

«Die Polizei will Ihre Aussage über den Brand«, wirft er mir an den Kopf, während er nach einer Akte greift.»Habe gestern abend mit ihnen gesprochen. Sie machen es hier, in diesem Büro, in meiner Gegenwart.«

Er sagt das, als wäre es bereits verabredet und ich hätte keine andere Wahl.»Und wenn ich mich weigere?«frage ich.

«Dann werden Sie wahrscheinlich zum Verhör aufs Revier bestellt. Wenn Sie nichts zu verbergen haben, schlage ich vor, daß Sie Ihre Aussage machen. Ich werde dabeisein. Sie können sich mit mir beraten. Reden Sie mit ihnen, danach wird man Sie in Ruhe lassen.«

«Sie glauben also, daß es Brandstiftung war?«

«Sie sind ziemlich sicher.«

«Und was wollen sie von mir wissen?«

«Wo Sie waren, was Sie getan haben, Zeiten, Orte, Alibis und so weiter.«

«Ich kann nicht alles beantworten, aber ich werde die Wahrheit sagen.«

Bruiser lächelt.»Dann wird die Wahrheit dafür sorgen, daß Sie freikommen.«

«Lassen Sie mich das aufschreiben.«

«Sagen wir zwei Uhr heute nachmittag.«

Ich nicke zustimmend, sage aber nichts. Es ist merkwürdig, daß ich in diesem Zustand der Verletzlichkeit volles Vertrauen zu Bruiser Stone habe, einem Mann, dem ich in anderen Dingen nicht über den Weg trauen würde.

«Ich brauche ein bißchen Freizeit, Bruiser«, sage ich.

Seine Hände erstarren in der Luft, und er mustert mich fassungslos. Dru, in einer Ecke an einem Aktenschrank beschäftigt, hält inne und schaut auf. Einer der Haie scheint mich gehört zu haben.

«Sie haben gerade erst angefangen«, sagt Bruiser.

«Ja, ich weiß. Aber ich habe das Anwaltsexamen direkt vor mir. Bin mit dem Lernen ziemlich im Rückstand.«

Er neigt den Kopf zu einer Seite und streichelt seinen Bart. Bruiser hat ziemlich harte Augen, wenn er trinkt und seinen Spaß hat. Jetzt sind sie wie Laser.»Wieviel Freizeit?«

«Also, ich würde gern jeden Morgen kommen und bis Mittag arbeiten. Und dann, je nachdem, was auf meiner Prozeßliste und in meinem Terminkalender steht, in die Bibliothek verschwinden und lernen. «Mein Versuch, witzig zu sein, fällt nicht auf fruchtbaren Boden.

«Sie könnten mit Deck lernen«, sagt Bruiser mit einem plötzlichen Lächeln. Es ist ein Witz, also lache ich pflichtschuldig.»Ich werde Ihnen sagen, was Sie tun können«, sagt er, jetzt wieder ernst.»Sie arbeiten bis Mittag, dann packen Sie Ihre Bücher ein und machen sich in die Cafeteria von St. Peter's auf. Lernen Sie, soviel Sie wollen, aber halten Sie gleichzeitig die Augen offen. Ich möchte, daß Sie das Examen bestehen, aber im Augenblick liegt mir wesentlich mehr an neuen Fällen. Nehmen Sie ein Handy mit, damit ich Sie jederzeit erreichen kann. Ist das ein faires Angebot?«

Weshalb habe ich das getan? Ich gebe mir selbst einen Tritt in den Hintern, weil ich das Anwaltsexamen erwähnt habe.»Ja«, sage ich mit einem Stirnrunzeln.

Letzte Nacht in der Hängematte habe ich gedacht, daß es mir mit ein bißchen Glück gelingen könnte, St. Peter 's zu meiden. Jetzt bin ich dort stationiert.

Dieselben beiden Polizisten, die auch in meiner Wohnung waren, melden sich bei Bruiser, um seine Zustimmung zu meinem Verhör einzuholen. Wir vier sitzen an einem kleinen, runden Tisch in einer Ecke seines Büros. Zwei Tonbandgeräte stehen darauf, beide eingeschaltet.

Es wird ziemlich rasch langweilig. Ich wiederhole dieselbe Geschichte, die ich den beiden Clowns bei ihrem ersten Besuch erzählt habe, und wir vergeuden eine Unmenge Zeit damit, jeden winzigen kleinen Aspekt davon immer wieder durchzukauen. Sie versuchen, mich in Widersprüche über völlig belanglose Details zu verwickeln —»dachte, Sie hätten gesagt, Sie hätten ein dunkelblaues Hemd getragen, und jetzt sagen Sie, es wäre blau gewesen«-, aber ich sage die reine Wahrheit. Es gibt keine Lügen zu bemänteln, und nach einer Stunde scheinen sie begriffen zu haben, daß ich nicht ihr Mann bin.

Bruiser ist langsam gereizt und sagt ihnen mehr als einmal, sie sollten zusehen, daß sie vorankommen. Sie gehorchen ihm, eine Zeitlang. Ich habe den unmißverständlichen Eindruck, daß diese Polizisten Angst vor Bruiser haben.

Endlich verschwinden sie, und Bruiser sagt, damit wäre der Fall erledigt. Ich bin im Grunde kein Verdächtiger mehr, sie halten sich nur den Rücken frei. Er wird morgen früh mit ihrem Lieutenant sprechen und dafür sorgen, daß meine Akte geschlossen wird.

Ich bedanke mich bei ihm. Er gibt mir ein so winziges Telefon, daß es in meiner Handfläche Platz findet.»Sehen Sie zu, daß Sie das immer bei sich haben«, sagt er.»Vor allem, wenn Sie für das Examen lernen. Könnte sein, daß ich Sie schnell brauche. «Das winzige Gerät wird plötzlich erheblich schwerer. Durch dieses Ding bin ich seinen Launen rund um die Uhr ausgeliefert.

Er entläßt mich in mein Büro.

Ich kehre mit dem festen Vorsatz in die Cafeteria in der Nähe der orthopädischen Abteilung zurück, mich in eine Ecke zu verkriechen, mein Material durchzuarbeiten, das verdammte Handy griffbereit zu halten, aber die Leute um mich herum zu ignorieren.

Das Essen könnte schlechter sein. Nach sieben Jahren Studentenkantine schmeckt alles gut. Mein Diner besteht aus einem Sandwich mit Pfefferkäse und Chips. Ich setze mich mit dem Rücken zur Wand an einen Ecktisch und breite meine Unterlagen aus.

Zuerst esse ich, verschlinge das Sandwich und mustere dabei die anderen Essensgäste. Die meisten von ihnen tragen irgendwelche Medizinerkleidung — Ärzte in ihren Kitteln, Schwestern in Tracht, Laboranten in ihren weißen Jacken. Sie sitzen in kleinen Gruppen beisammen und unterhalten sich über Krankheiten und Behandlungsmethoden, von denen ich noch nie gehört habe. Für Leute, denen es eigentlich um Gesundheit und vernünftige Ernährung gehen sollte, essen sie das fürchterlichste Zeug, das es überhaupt gibt. Pommes fri-tes, Burger, überbackene Tortillas, Pizza. Ich beobachte eine Gruppe von jungen Ärzten beim Essen und frage mich, was sie wohl denken würden, wenn sie wüßten, daß mitten unter ihnen ein Anwalt sitzt, der für das Examen lernt, damit er sie eines Tages verklagen kann.

Ich bezweifle, daß es sie stören würde. Ich habe das gleiche Recht, hier zu sein, wie sie.

Niemand nimmt Notiz von mir. Gelegentlich kommt ein Patient auf Krücken hereingehinkt oder wird von einem Pfleger hereingeschoben. Ich kann keine anderen Anwälte entdecken, die sprungbereit hier lauern.

Um sechs bezahle ich meine erste Tasse Kaffee und vertiefe mich dann in das mühsame Durcharbeiten von Vertragsrecht und Liegenschaftsrecht, zwei Themen, die den Horror meines ersten Studienjahrs wieder lebendig werden lassen. Ich wühle mich durch. Bisher habe ich es immer wieder aufgeschoben, aber ein Morgen gibt es jetzt nicht mehr. Nach einer Stunde stehe ich auf, um meinen Becher nachfüllen zu lassen. Die Cafeteria hat sich weitgehend geleert, und ich entdecke zwei Patienten, die am anderen Ende des Raums nebeneinander sitzen. Gips und Mull, wo man hinsieht. Deck würde sich auf sie stürzen. Aber ich nicht.

Nach einer Weile stelle ich sehr zu meiner Überraschung fest, daß es mir hier gefällt. Es ist ruhig, und niemand kennt mich. Ideale Voraussetzungen zum Lernen. Der Kaffee ist nicht schlecht, und Nachfüllen kostet nur die Hälfte. Ich bin weit weg von Miss Birdie und deshalb sicher vor körperlicher Arbeit. Mein Boß erwartet von mir, daß ich hier bin, und obwohl er auch erwartet, daß ich nach Beute Ausschau halte, wird er ja nie erfahren, daß ich es nicht tue. Bestimmt habe ich keine feste Quote. Schließlich kann man nicht von mir verlangen, daß ich zig Fälle pro Woche an Land ziehe.

Das Telefon gibt ein mickriges Piepen von sich. Es ist Bruiser, der nur kontrollieren will. Schon Glück gehabt? Nein, sage ich und schaue quer durch den Raum auf die beiden wunderbaren Schadensfälle, die von einem Rollstuhl zum ändern ihre Verletzungen vergleichen. Er sagt, er hätte mit dem Lieutenant gesprochen, und es sähe gut aus. Er ist zuversichtlich, daß sie anderen Spuren, anderen Verdächtigen nachgehen werden. Petri Heil! sagt er mit einem Auflachen und ist schon wieder aus der Leitung, zweifellos auf dem Sprung zu Yogi's, um sich mit Prince ein paar Drinks zu gönnen.

Ich lerne eine weitere Stunde, dann verlasse ich meinen

Tisch und fahre in den achten Stock hinauf, um nach Dan Van Landel zu sehen. Er hat Schmerzen, ist aber redewillig. Ich überbringe die gute Nachricht, daß wir uns mit der Versicherung des anderen Fahrers in Verbindung gesetzt haben und daß dort eine hübsche Police auf uns wartet. Sein Fall hat alles, was dazugehört, erkläre ich, das wiederholend, was Deck mir zuvor gesagt hat: eindeutige Haftpflicht (sogar ein betrunkener Fahrer), reichlich Deckung durch die Versicherung und gute Verletzungen. Gut bedeutet ein paar zu Bruch gegangene Knochen, die sich leicht zu dem magischen Zustand eines bleibenden Schadens auswachsen könnten.

Dan bringt ein erfreutes Lächeln zustande. Er zählt bereits sein Geld. Aber noch steht ihm das Teilen des Kuchens mit Bruiser bevor.

Ich verabschiede mich und verspreche, morgen wieder hereinzuschauen. Da ich ins Krankenhaus beordert worden bin, kann ich mich um all meine Mandanten kümmern. Das nennt man Service!

Bei meiner Rückkehr ist die Cafeteria wieder ziemlich voll. Ich setze mich wieder an meinen Tisch in der Ecke. Ich habe meine Bücher dort liegengelassen, und auf einem von ihnen ist deutlich Elton Bar Review zu lesen. Das hat die Aufmerksamkeit einer Gruppe junger Ärzte erregt, die am Nebentisch sitzen und mich argwöhnisch mustern, als ich mich hinsetze. Sie verstummen sofort, also weiß ich, daß sie sich ausführlich über meine Arbeitsunterlagen unterhalten haben. Kurz darauf gehen sie. Ich hole mir noch einen Kaffee und vertiefe mich in die Wunder der Prozeßordnung bei den Bundesgerichten.

Die Zahl der Gäste verringert sich auf eine Handvoll. Ich trinke jetzt koffeinfreien Kaffee und staune, durch wieviel ich mich in den letzten vier Stunden hindurchgewühlt habe. Um Viertel vor zehn ruft Bruiser abermals an. Hört sich an, als säße er in irgendeiner Bar. Er braucht mich morgen früh um neun im Büro, damit wir über einen juristischen Punkt reden können, zu dem er für seinen gegenwärtigen Drogenprozeß einen Schriftsatz braucht. Ich werde dasein, sage ich.

Schrecklich, wenn ich mir vorstellen müßte, daß mein Anwalt sich die Linie zu meiner Verteidigung ausdenkt, während er in einem Oben-ohne-Club sitzt und sich einen Drink nach dem anderen hinter die Binde gießt.

Aber Bruiser ist mein Anwalt.

Um zehn bin ich der einzige Gast in der Cafeteria. Sie hat die ganze Nacht geöffnet, also läßt die Kassiererin mich in Ruhe. Ich bin tief in das Thema Vorverhandlungen versunken, als ich das leise Niesen einer jungen Frau höre. Ich schaue auf, und zwei Tische entfernt sitzt eine Patientin in einem Rollstuhl, die einzige andere Person außer mir in der Cafeteria. Ihr rechtes Bein steckt vom Knie abwärts in Gips und ist waagerecht hoch gelegt, so daß sie mir die Unterseite des weißen Verbandes entgegenstreckt. Er scheint frisch zu sein, nach dem zu urteilen, was ich an diesem Punkt meiner Karriere über Gips weiß.

Sie ist sehr jung und ungeheuer hübsch. Ich kann nicht anders, ich muß sie ein paar Sekunden lang ansehen, bevor ich wieder auf meine Notizen schaue. Dann sehe ich noch einmal ein bißchen länger hin. Ihr Haar ist dunkel und im Nacken locker zusammengerafft. Ihre Augen sind braun und scheinen feucht zu sein. Sie hat ein gutgeschnittenes Gesicht, das trotz einer unübersehbaren Prellung am Unterkiefer hinreißend aussieht. Eine häßliche Prellung wie von einem Faustschlag. Sie trägt das übliche weiße Krankenhausnachthemd, und darunter scheint sie sehr schlank zu sein.

Ein alter Mann in einer rosa Jacke, eine der unzähligen freundlichen Seelen, die in St. Peter's als freiwillige Helfer füngieren, stellt ein Plastikglas mit Orangensaft vor sie auf den Tisch.»Bitte sehr, Kelly«, sagt er wie der perfekte Großvater.

«Danke«, antwortet sie mit einem kurz aufblitzenden Lächeln.

«Eine halbe Stunde, haben Sie gesagt?«fragt er.

Sie nickt und beißt sich auf die Unterlippe.»Eine halbe Stunde«, bestätigt sie.

«Kann ich sonst noch etwas für Sie tun?«

«Nein. Danke.«

Er tätschelt ihr die Schulter und verläßt die Cafeteria. Wir sind allein. Ich versuche, nicht zu ihr hinüberzusehen, aber es ist unmöglich. Ich halte den Blick, solange ich es irgendwie aushalten kann, auf meine Unterlagen gesenkt, um dann wieder aufzusehen, bis sie in mein Blickfeld gerät. Ihr Gesicht ist mir nicht direkt zugewandt, ich sehe sie nahezu im Profil. Sie hebt ihr Glas, und ich bemerke die Verbände an beiden Handgelenken. Bisher hat sie mich noch nicht wahrgenommen. Ich habe sogar den Eindruck, daß sie auch dann niemanden sehen würde, wenn der Raum voll wäre. Kelly steckt in ihrer eigenen kleinen Welt.

Sieht aus wie ein gebrochener Knöchel. Dazu die Prellung im Gesicht. Deck würde begeistert eine» multiple Verletzung «konstatieren, obwohl keine Schnittwunden zu sehen sind. Die verbundenen Handgelenke sind mir ein Rätsel. Obwohl sie so hübsch ist, gerate ich nicht in Versuchung, meine Anmach-techniken zu praktizieren. Sie macht einen sehr traurigen Eindruck, und ich will nicht zu ihrem Elend beitragen. An ihrem linken Ringfinger steckt ein dünner Ehering. Sie kann nicht älter als achtzehn sein.

Ich versuche, mich für mindestens fünf ununterbrochene Minuten auf die Juristerei zu konzentrieren, aber dann sehe ich, wie sie sich die Augen mit einer Papierserviette abtupft. Ihr Kopf kippt leicht nach rechts, während die Tränen fließen. Sie schnüffelt leise.

Mir wird schnell klar, daß die Tränen nichts mit etwaigen Schmerzen in ihrem gebrochenen Knöchel zu tun haben. Hier geht es nicht um körperliches Leid.

Meine niederträchtige Anwaltsphantasie geht mit mir durch. Vielleicht hat es einen Verkehrsunfall gegeben, bei dem ihr Mann getötet und sie verletzt worden ist. Sie ist zu jung, um Kinder zu haben, und ihre Eltern wohnen weit fort, und nun sitzt sie hier und trauert um ihren toten Mann. Könnte ein grandioser Fall sein.

Ich schüttele diese fürchterlichen Gedanken ab und versuche, mich auf das vor mir liegende Buch zu konzentrieren. Sie schnüffelt und weint leise weiter. Ein paar Gäste kommen und gehen, aber keiner setzt sich zu mir oder zu Kelly. Ich trinke meinen Kaffeebecher aus, erhebe mich von meinem Stuhl und gehe auf dem Weg zum Tresen direkt vor ihr vorbei. Ich sehe sie an, sie sieht mich an, unsere Blicke treffen sich für eine lange Sekunde, und ich falle fast über einen Metallstuhl. Meine Hände sind ein bißchen zittrig, als ich für den Kafee bezahle. Ich hole tief Luft und bleibe an ihrem Tisch stehen.

Sie hebt langsam die schönen, nassen Augen. Ich schlucke schwer und sage:»Hören Sie, ich will mich nicht aufdrängen, aber kann ich irgend etwas für Sie tun? Haben Sie vielleicht Schmerzen?«sage ich und deute mit einem Kopfnicken auf ihren Gipsverband.

«Nein«, sagt sie fast unhörbar. Und dann ein hinreißendes kleines Lächeln.»Trotzdem danke.«

«Okay«, sage ich. Ich schaue auf meinen knapp sechs Meter entfernten lisch.»Ich sitze da drüben und lerne für das Anwaltsexamen, falls Sie etwas brauchen sollten. «Ich zucke die Achseln, als wüßte ich nicht recht, was ich tun soll, aber ich bin eben nur ein netter, besorgter Tölpel, also entschuldigen Sie bitte, wenn ich zu weit gegangen bin. Aber ich sorge mich wirklich um Sie. Und ich stehe zur Verfügung.

«Danke«, sagt sie noch einmal.

Ich sinke auf meinen Stuhl, nachdem ich mich als quasi legitime Person ausgewiesen habe, die dicke Bücher durchackert in der Hoffnung, bald einen noblen Beruf ausüben zu können. Bestimmt hat das einen gewissen Eindruck auf sie gemacht. Ich stürze mich, ihr Leid vergessend, wieder in die Arbeit.

Minuten vergehen. Ich blättere eine Seite um und sehe dabei zu ihr hinüber. Sie sieht mich an, und mein Herz setzt einen Schlag aus. Ich ignoriere sie völlig, solange ich es aushalten kann, dann schaue ich abermals auf. Sie ist wieder tief in ihr Leid versunken. Sie preßt die Serviette zusammen. Die Tränen strömen ihr über die Wangen.

Mir bricht es das Herz, sie so leiden zu sehen. Ich würde zu gern neben ihr sitzen, vielleicht meinen Arm um sie legen und mit ihr über alles mögliche reden. Wenn sie verheiratet ist, wo zum Teufel steckt dann ihr Mann? Sie schaut in meine Richtung, aber ich glaube nicht, daß sie mich sieht.

Ihr Helfer in der rosa Jacke erscheint pünktlich um halb elf, und sie versucht rasch, sich wieder zu fassen. Er tätschelt ihr sanft den Kopf, sagt ein paar beruhigende Worte, die ich nicht hören kann, und wendet behutsam ihren Rollstuhl. Im Hinausfahren sieht sie mich ganz bewußt an. Und sie bedenkt mich mit einem langen, tränenvollen Lächeln.

Ich bin versucht, ihr in einiger Entfernung zu folgen, um herauszufinden, in welchem Zimmer sie liegt, aber ich beherrsche mich. Später denke ich daran, den Mann in Rosa ausfindig zu machen und Einzelheiten aus ihm herauszuholen. Aber ich tue es nicht. Ich versuche, sie zu vergessen. Sie ist ja nur ein Kind.

Am nächsten Abend gehe ich wieder in die Cafeteria und lasse mich an demselben Tisch nieder. Ich lausche demselben geschäftigen Geschnatter von denselben eiligen Leuten. Ich besuche die Van Landels und weiche ihren endlosen Fragen aus. Ich halte Ausschau nach anderen Haien, die in diesen trüben Gewässern auf Beute aus sind, und ich ignoriere ein paar mögliche Mandanten, die anscheinend nur darauf warten, daß sich jemand an sie heranmacht. Ich lerne stundenlang. Meine Konzentration läßt nichts zu wünschen übrig, und meine Motivation war nie stärker.

Und ich behalte die Uhr im Auge. Als es auf zehn zugeht, schwindet mein Eifer, und ich fange an, mich umzusehen. Ich versuche, ruhig und lernbegierig zu bleiben, aber ich fahre jedesmal hoch, wenn ein neuer Gast die Cafeteria betritt. An einem Tisch essen zwei Schwestern, an einem anderen sitzt ein einsamer Laborant und liest in einem Buch.

Sie rollt fünf Minuten nach zehn herein, und derselbe ältere Herr schiebt sie behutsam dahin, wo sie sein möchte. Sie entscheidet sich für denselben Tisch wie am Vorabend und lächelt mich an, während er ihren Rollstuhl herummanövriert.

«Orangensaft«, sagt sie. Ihr Haar ist immer noch zurückgerafft, aber wenn ich mich nicht irre, trägt sie eine Spur Wimperntusche und ein bißchen Lidschatten. Sie hat auch einen blaßroten Lippenstift aufgelegt, und die Wirkung ist dramatisch. Gestern abend ist mir nicht bewußt geworden, daß ihr Gesicht völlig ungeschminkt war. Heute abend, mit nur ein bißchen Make-up, ist sie unglaublich schön. Ihre Augen sind klar, strahlend, frei von Traurigkeit.

Er stellt ihren Orangensaft vor sie hin und sagt dasselbe wie gestern abend:»Bitte sehr, Kelly. Eine halbe Stunde, haben Sie gesagt?«

«Machen Sie eine dreiviertel Stunde daraus«, sagt sie.

«Wie Sie möchten«, meint er, dann verzieht er sich.

Sie trinkt den Saft und betrachtet abwesend die Tischplatte. Ich habe heute eine Menge Zeit damit verbracht, an Kelly zu denken, und mich schon zeitig entschieden, wie ich vorgehen will. Ich warte ein paar Minuten, tue so, als wäre sie nicht anwesend, gebe vor, ganz in die Elton Bar Review versunken zu sein, dann stehe ich langsam auf, als wäre es Zeit für eine Kaffeepause.

Ich bleibe an ihrem Tisch stehen und sage:»Heute abend scheint es Ihnen viel besserzugehen.«

Sie hat darauf gewartet, daß ich etwas in dieser Art sage.»Ich fühle mich auch viel besser«, sagt sie und zeigt dieses Lächeln und perfekte Zähne. Ein wundervolles Gesicht, sogar mit dieser scheußlichen Prellung.

«Kann ich Ihnen etwas holen?«

«Ich hätte gern eine Cola. Dieser Saft ist bitter.«

«Gern«, sage ich und gehe davon, völlig hingerissen. Am Automaten fülle ich zwei große Gläser mit Cola, bezahle und stelle sie auf ihren Tisch. Ich betrachte den leeren Stuhl ihr gegenüber, als wäre ich völlig verwirrt.

«Bitte, setzen Sie sich«, sagte sie.

«Sind Sie sicher?«

«Bitte. Ich habe es satt, nur mit Schwestern zu reden.«

Ich lasse mich nieder und stütze den Ellenbogen auf.»Ich heiße Rudy Baylor«, sage ich.»Und Sie sind Kelly Soundso.«

«Kelly Riker. Nett, Sie kennenzulernen.«

«Ganz meinerseits. «Sie ist aus knapp sechs Meter Entfernung ein überaus erfreulicher Anblick, aber jetzt, da ich sie ohne eine Spur von Verlegenheit aus nur einem Meter Entfernung betrachten kann, ist es unmöglich, den Blick von ihr abzuwenden. Ihre Augen sind hellbraun mit einem schelmischen Funkeln. Sie ist wunderschön.

«Tut mir leid, wenn ich Sie gestern abend belästigt habe«, sage ich, begierig, das Gespräch in Gang zu halten. Es gibt eine Menge Dinge, die ich wissen möchte.

«Sie haben mich nicht belästigt. Tut mir leid, daß ich so ein Spektakel geboten habe.«

«Weshalb kommen Sie hierher?«frage ich, als wäre sie eine Fremde und ich hier zu Hause.

«Um aus meinem Zimmer herauszukommen. Und Sie?«

«Ich lerne für das Anwaltsexamen, und hier ist es so schön ruhig.«

«Sie wollen also Anwalt werden?«

«Ja. Ich bin vor ein paar Wochen mit dem Studium fertig geworden und habe jetzt einen Job bei einer großen Kanzlei. Sobald ich das Examen bestanden habe, kann ich richtig loslegen.«

Sie trinkt durch den Strohhalm und verzieht beim Verlagern ihres Gewichts leicht die Mundwinkel.»Ziemlich übler Bruch, wie?«sage ich und deute mit einem Kopfnicken auf ihr Bein.

«Es ist der Knöchel. Er ist genagelt worden.«

«Wie ist das passiert?«Eine sehr naheliegende Frage, und ich hatte vermutet, daß ihr die Beantwortung absolut keine Probleme bereiten würde.

Aber das ist nicht der Fall. Sie zögert, und ihre Augen werden sofort wieder feucht.»Ein häuslicher Unfall«, sagt sie, als hätte sie diese vage Erklärung einstudiert.

Was zum Teufel soll das bedeuten? Ein häuslicher Unfall? Ist sie die Treppe hinuntergefallen?

«Oh«, sage ich, als wäre alles völlig klar. Ich mache mir Gedanken über die Handgelenke, weil sie beide verbunden sind und nicht in Gips stecken. Sie scheinen nicht gebrochen oder verstaucht zu sein. Vielleicht Schnittwunden.

«Das ist eine lange Geschichte«, murmelt sie zwischen zwei Schlucken und wendet den Blick ab.

«Seit wann sind Sie schon hier?«frage ich.

«Seit zwei Tagen. Sie wollen erst sehen, ob der Nagel richtig sitzt. Wenn nicht, müssen sie das Ganze wiederholen. «Sie hält inne und spielt mit ihrem Strohhalm.»Ist das hier nicht ein merkwürdiger Ort zum Lernen?«fragt sie.

«Durchaus nicht. Es ist ruhig hier. Es gibt massenhaft Kaffe. Ist die ganze Nacht geöffnet. Sie tragen einen Ehering. «Diese Tatsache hat mich mehr gepeinigt als alles andere.

Sie betrachtet ihn, als wäre sie nicht sicher, ob er noch an ihrem Finger steckt.»Ja«, sagt sie und starrt auf ihren Strohhalm. Es ist ein ganz schlichter Ring, ohne Diamant.

«Und wo ist Ihr Mann?«

«Sie stellen eine Menge Fragen.«

«Ich bin Anwalt, jedenfalls fast. Fragen stellen gehört zur Ausbildung.«

«Und weshalb wollen Sie das wissen?«

«Weil es seltsam ist, daß Sie allein hier im Krankenhaus sind, ganz offensichtlich verletzt, und er ist nicht bei Ihnen.«

«Er war früher am T age hier.«

«Und jetzt ist er zu Hause bei den Kindern?«

«Wir haben keine Kinder. Und Sie?«

«Nein. Keine Frau, keine Kinder.«

«Wie alt sind Sie?«

«Sie stellen eine Menge Fragen«, sage ich mit einem Lächeln. Ihre Augen funkeln.»Fünfundzwanzig. Und wie alt sind Sie?«

Sie denkt eine Sekunde darüber nach.»Neunzehn.«

«Das ist mächtig jung, um schon verheiratet zu sein.«

«Mir blieb nichts anderes übrig.«

«Oh, tut mir leid.«

«Das ist nicht Ihre Schuld. Ich wurde schwanger, als ich knapp achtzehn war, habe kurz darauf geheiratet, hatte eine Woche nach der Hochzeit eine Fehlgeburt, und seither ist es bergab gegangen. Befriedigt das Ihre Neugierde?«

«Nein. Ja. Tut mir leid. Worüber möchten Sie reden?«

«Übers College. Wo haben Sie das College besucht?«

«In Austin Peay. Jurastudium an der Memphis State.«

«Ich wollte immer aufs College gehen, aber es wurde nichts daraus. Stammen Sie aus Memphis?«

«Ich bin hier geboren, aber in Knoxville aufgewachsen. Und woher kommen Sie?«

«Aus einer kleinen Stadt, eine Stunde von hier. Wir sind von dort weg, als ich schwanger wurde. Meiner Familie war das alles nur peinlich. Es war Zeit, zu verschwinden.«

Hier brodelt eine ziemlich unerfreuliche Familienangelegenheit direkt unter der Oberfläche, und ich würde mich gern

heraushalten. Sie hat ihre Schwangerschaft zweimal erwähnt, und beide Male hätte sie es vermeiden können. Aber sie ist einsam, und sie möchte reden.

«Also sind Sie nach Memphis gezogen?«

«Wir sind nach Memphis durchgebrannt, ließen uns von einem Friedensrichter trauen, eine tolle Zeremonie, und dann verlor ich das Baby.«

«Was tut Ihr Mann?«

«Fährt einen Gabelstapler. Und trinkt eine Menge. Er ist ein Versager, der immer noch davon träumt, in der Oberliga Baseball zu spielen.«

Soviel hatte ich gar nicht wissen wollen. Ich stelle mir vor, daß er an der High-School eine Sportgröße war und sie die allerreizendste Cheerleaderin, das amerikanische Traumpaar, außergewöhnlich gutaussehend, außergewöhnlich hübsch, außergewöhnlich sportlich, und auf Erfolg programmiert, bis sie eines Nachts das Kondom vergaßen. Das Unheil bricht herein. Aus irgendeinem Grund entscheiden sie sich gegen eine Abtreibung. Vielleicht machen sie die High-School zu Ende, vielleicht auch nicht. Sie flüchten vor der Schande in die Anonymität der Großstadt. Nach der Fehlgeburt verblaßt die Romanze, und sie wachen auf und müssen erkennen, daß das wirkliche Leben angefangen hat.

Er träumt noch immer von Geld und Ruhm in der Oberliga. Sie sehnt sich nach den sorglosen Jahren, die erst so kurze Zeit zurückliegen, und träumt weiter von dem College, das sie nie besuchen wird.

«Tut mir leid«, sagt sie.»Das hätte ich nicht sagen sollen.«

«Sie sind immer noch jung genug, um aufs College zu gehen.«

Mein Optimismus bringt sie kurz zum Lachen, als hätte dieser Traum sich vor langer Zeit selbst begraben.»Ich habe nicht mal die High-School abgeschlossen.«

Und was soll ich darauf sagen? Soll ich ihr einen banalen kleinen Vortrag halten — holen Sie Ihren Abschluß nach, besuchen Sie Abendkurse, Sie können es schaffen, wenn Sie es wirklich wollen?

«Arbeiten Sie?«frage ich statt dessen.

«Hin und wieder. Was für eine Art Anwalt wollen Sie werden?«

«Mir macht Prozeßarbeit Spaß. Ich würde gern vor Gericht auftreten.«

«Kriminelle verteidigen?«

«Vielleicht. Sie haben ein Recht auf ihren Tag vor Gericht, und sie haben das Recht auf eine gute Verteidigung.«

«Mörder?«

«Ja, aber die meisten können sich keinen Anwalt leisten.«

«Vergewaltiger und Kindesmißhandler?«

Ich runzle die Stirn und zögere eine Sekunde.»Nein.«

«Männer, die ihre Frauen schlagen?«

«Nein, niemals. «Das ist mein voller Ernst, außerdem bin ich argwöhnisch, was ihre Verletzungen angeht. Sie billigt meine Auswahl an Mandanten.

«Kaum jemand spezialisiert sich ausschließlich auf Straf-recht«, erkläre ich.»Wahrscheinlich werde ich erheblich mehr mit Zivilprozessen zu tun haben.«

«Klagen und solches Zeug.«

«Ja, genau. Prozesse, die nichts mit Strafvergehen zu tun haben.«

«Scheidungen?«

«Das möchte ich lieber vermeiden. Scheidungen sind meist höchst unerfreulich.«

Sie strengt sich mächtig an, die Unterhaltung auf meiner Seite des Tisches zu halten, fern von ihrer Vergangenheit und erst recht von ihrer Gegenwart. Das kann mir nur recht sein. Die Tränen können jederzeit wieder fließen, und ich möchte diese Unterhaltung nicht verderben. Ich möchte, daß sie weitergeht.

Sie will wissen, wie es auf dem College war — das Lernen, Parties, Dinge wie Studentenclubs, das Leben auf dem Campus, Examen, Professoren, Exkursionen. Sie hat eine Menge Filme gesehen und hütet ein verklärtes Bild von märchenhaften vier Jahren auf einem malerischen Campus, wo sich die Blätter im Herbst gelb und rot verfärben, von Studenten in Mannschaftspullovern, die ihrem Footballteam zujubeln, von neuen Freundschaften, die ein Leben lang halten. Das arme

Mädchen hat es mit knapper Not geschafft, aus der Kleinstadt herauszukommen, aber es hatte wundervolle Träume. Ihre Grammatik ist einwandfrei, ihr Wortschatz größer als meiner. Sie gesteht zögernd, daß sie die High-School als Erste oder Zweite ihres Jahrgangs abgeschlossen hätte, wäre da nicht diese Teenagerromanze mit Cliff, Mr. Riker, gewesen.

Ohne viel Mühe schmücke ich die grandiosen Tage meiner Zeit am College aus und übergehe so wesentliche Tatsachen wie die vierzig Stunden in der Woche, in denen ich Pizzas ausgeliefert habe, um Student bleiben zu können.

Sie will mehr über meine Kanzlei wissen, und ich stecke gerade mitten in einer absurden Verherrlichung von J. Lyman und seinem Büro, als zwei Tische entfernt das Telefon läutet. Ich entschuldige mich mit der Erklärung, daß ich aus der Kanzlei verlangt werde.

Es ist Bruiser, bei Yogi's, betrunken, mit Prince. Es amüsiert sie, daß ich da sitze, wo ich sitze, während sie trinken und auf alles wetten, was ESPN gerade sendet. Die Geräusche im Hintergrund hören sich an wie eine Schlägerei.»Schon was an der Angel?«bellt Bruiser ins Telefon.

Ich lächle Kelly an, die von diesem Anruf offensichtlich beeindruckt ist, und erkläre so leise wie nur möglich, daß ich gerade mit einem möglichen Mandanten spreche. Bruiser lacht dröhnend, dann übergibt er den Hörer an Prince, der der Betrunkenere von den beiden ist. Er erzählt einen Anwaltswitz ohne jede Pointe, etwas über das Herfallen über Verletzte. Dann verfällt er in eine Ich-habe-es-Ihnen-ja-gesagt-Rede darüber, daß er mich bei Bruiser untergebracht hat, der mir mehr von der Juristerei beibringen wird als fünfzig Professoren. Das dauert eine Weile, und währenddessen erscheint Kellys Helfer, um sie in ihr Zimmer zurückzubringen.

Ich gehe ein paar Schritte auf ihren Tisch zu, lege die Hand auf die Sprechmuschel und sage:»Ich habe mich gefreut, Sie kennenzulernen.«

Sie lächelt und sagt:»Danke für die Cola und die Unterhaltung.«

«Morgen abend?«sage ich, während Prince mir ins Ohr brüllt.

«Vielleicht. «Sie zwinkert mir vielsagend zu, und meine Knie werden weich.

Offensichtlich ist ihr Begleiter in Rosa lange genug in diesem Krankenhaus, um einen Mandantenjäger zu erkennen. Er wirft mir einen finsteren Blick zu und rollt sie hinaus. Sie wird wiederkommen.

Ich drücke einen Knopf am Telefon und schalte Prince mitten im Satz aus. Wenn sie zurückrufen, werde ich mich nicht melden. Falls sie sich später daran erinnern sollten, was höchst unwahrscheinlich ist, werde ich Sony die Schuld geben.

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