Kapitel 29

Die Frau ist tatsächlich in meiner Wohnung, und als ich die Tür öffne, steht sie in meinem Wohnzimmer mit einer meiner Zeitschriften in der Hand. Als sie mich sieht, fährt sie zusammen und läßt die Zeitschrift fallen. Ihr Mund öffnet sich.»Wer sind Sie?«kreischt sie fast.

Sie scheint keine Kriminelle zu sein.»Ich wohne hier. Wer zum Teufel sind Sie?«

«Ach du lieber Gott«, sagt sie, vor Aufregung keuchend, und preßt eine Hand auf ihr Herz.

«Was suchen Sie hier?«frage ich noch einmal, jetzt wirklich zornig.

«Ich bin Delberts Frau.«

«Wer zum Teufel ist Delbert? Und wie sind Sie hier hereingekommen?«

«Wer sind Sie?«

«Ich bin Rudy. Ich wohne hier. Das ist eine Privatwohnung.«

Daraufhin läßt sie den Blick schnell durch das Zimmer wandern, als wollte sie sagen:»Wirklich eine tolle Wohnung«.

«Birdie hat mir den Schlüssel gegeben und gesagt, ich könnte mich umschauen.«

«Das hat sie bestimmt nicht!«

«Doch, das hat sie!«Sie zieht einen Schlüssel aus ihren engen Shorts und schwenkt ihn vor meiner Nase. Ich schließe die Augen und denke ernsthaft daran, Miss Birdie zu erwürgen.»Ich heiße Vera, aus Florida. Wir sind für ein paar Tage bei Birdie zu Besuch.«

Jetzt erinnere ich mich. Delbert ist Miss Birdies jüngerer Sohn, derjenige, den sie seit drei Jahren nicht gesehen hat und der nie anruft und nie schreibt. Ich kann mich nicht erinnern, ob Vera diejenige ist, die Miss Birdie ein Flittchen genannt hat, aber es wäre durchaus passend. Sie ist um die Fünfzig mit der ledrig braunen Haut einer passionierten Sonnenanbeterin. Orangefarbene Lippen, die in der Mitte eines schmalen Kupfergesichts leuchten; verschrumpelte Arme; enge Shorts über ebenso verschrumpelten, aber grandios gebräunten Stöckerbeinen. Gräßliche gelbe Sandalen.

«Sie haben kein Recht, hierzusein«, sage ich und versuche, mich zu entspannen.

«Kein Grund zur Aufregung. «Sie geht an mir vorbei, und ich bekomme eine Nase voll von billigem Parfüm, das nach Kokosnußöl riecht.»Birdie möchte Sie sehen«, sagt sie, als sie meine Wohnung verläßt. Ich höre zu, wie ihre Sandalen die Treppe hinunterschlappen.

Miss Birdie sitzt mit verschränkten Armen auf dem Sofa, sieht sich eine dieser idiotischen Comedy-Serien an und ignoriert den Rest der Welt. Vera durchstöbert den Kühlschrank. Am Küchentisch sitzt eine weitere braune Kreatur, ein großer Mann mit dauergewelltem Haar, so schlecht gefärbt, daß es grau ist, und Elvis-Koteletten. Goldgerahmte Brille. Goldene Armbänder an beiden Handgelenken. Er sieht aus wie ein Zuhälter.

«Sie müssen der Anwalt sein«, sagt er, als ich hinter mir die Tür zumache. Auf dem Tisch vor ihm liegen einige Papiere, mit denen er sich beschäftigt hat.

«Ich bin Rudy Baylor«, sage ich, am anderen Ende des Tisches stehend.

«Ich bin Delbert Birdsong, Birdies Jüngster. «Er ist Ende Fünfzig und versucht verzweifelt, auszusehen wie Vierzig.

«Nett, Sie kennenzulernen.«

«Ja, ja, ganz meinerseits. «Er deutet auf einen Stuhl.»Setzen Sie sich.«

«Warum?«frage ich. Diese Leute sind schon seit Stunden hier. Der Unmut hängt wie eine Rauchschwade über der Küche und dem angrenzenden Wohnzimmer. Ich kann Miss Birdies Hinterkopf sehen. Ich weiß nicht, ob sie uns zuhört oder dem Fernseher. Der Ton ist leise gestellt.

«Ich versuche nur, nett zu sein«, sagt Delbert, als gehörte ihm das Haus.

Vera kann im Kühlschrank nichts finden, also beschließt sie, sich zu uns zu gesellen.»Er hat mich angeschrien«, wimmert sie Delbert an.»Hat gesagt, ich soll aus seiner Wohnung verschwinden. Er war richtig grob.«

«Stimmt das?«fragt Delbert.

«Natürlich stimmt das. Es ist meine Wohnung, und ich rate Ihnen beiden, sie nicht zu betreten. Sie ist privat.«

Er zieht mit einem Ruck die Schultern zurück. Dieser Mann hat garantiert schon so manche Kneipenschlägerei hinter sich.»Sie gehört meiner Mutter.«

«Und sie ist zufällig meine Hauswirtin. Ich zahle jeden Monat meine Miete.«

«Wieviel?«

«Das geht Sie nichts an. Dieses Haus ist nicht auf Ihren Namen eingetragen.«

«Ich würde sagen, sie ist vier —, vielleicht fünfhundert Dollar im Monat wert.«

«Gut. Möchten Sie sonst noch irgend etwas loswerden?«

«Ja. Sie sind ein ganz schöner Klugscheißer.«

«Wunderbar. Sonst noch was? Ihre Frau hat gesagt, Miss Birdie wollte mich sprechen. «Das sage ich so laut, daß Miss Birdie es hören kann, aber sie rührt sich nicht.

Vera nimmt sich einen Stuhl und rückt ihn nahe an den von Delbert heran. Sie werfen sich vielsagende Blicke zu. Er zupft an einem der Papiere herum, schiebt seine Brille hoch, sieht mich an und sagt:»Sie haben an Mamas Testament rumgepfuscht.«

«Das geht nur mich und Miss Birdie etwas an. «Ich schaue auf den Tisch und kann gerade die Oberkante eines Dokuments sehen. Ich erkenne, daß es ihr Testament ist, das jüngste, glaube ich, von ihrem letzten Anwalt. Das ist ziemlich irritierend, denn Miss Birdie hat immer behauptet, daß keiner ihrer Söhne, weder Delbert noch Randolph, etwas von ihrem Geld wüßte. Aber in dem Testament wird über ungefähr zwanzig Millionen Dollar verfügt. Jetzt weiß Delbert Bescheid. In den letzten paar Stunden hat er das Testament immer wieder gelesen. Ich erinnere mich, daß Paragraph drei ihm zwei Millionen zuspricht.

Noch irritierender ist die Frage, wie Delbert dieses Dokument in die Hände bekommen hat. Miss Birdie hätte es ihm nie freiwillig gegeben.

«Ein ziemlicher Klugscheißer«, sagt er.»Und da fragt man sich noch, weshalb die Leute Anwälte hassen. Ich komme nach Hause, um nach Mama zu sehen, und da wohnt doch, verdammt noch mal, so ein stinkiger Anwalt bei ihr. Würde Ihnen das nicht zu denken geben?«

Vermutlich.»Ich habe die Wohnung gemietet«, sage ich.»Eine Privatwohnung mit einer abgeschlossenen Tür. Wenn Sie noch einmal dort eindringen, rufe ich die Polizei.«

Da fällt mir ein, daß ich eine Kopie von Miss Birdies Testament in einer Akte unter meinem Bett habe. Sollten sie es etwa dort gefunden haben? Plötzlich ist mir übel bei der Vorstellung, daß ich eine derart private Angelegenheit preisgegeben habe und nicht Miss Birdie.

Kein Wunder, daß sie mich ignoriert.

Ich habe keine Ahnung, was in ihren früheren Testamenten steht, also weiß ich nicht, ob Delbert und Vera in dem Wissen schwelgen, daß sie Millionäre werden können, oder ob sie wütend sind, weil sie nicht mehr bekommen. Und es ist völlig ausgeschlossen, daß ich ihnen die Wahrheit sage. Ich will es auch nicht, um ehrlich zu sein.

Delbert tut meine Drohung, die Polizei zu rufen, mit einem verächtlichen Schnauben ab.»Ich frage Sie noch einmal«, sagt er, eine schlechte Imitation von Marion Brando im Paten.»Haben Sie für meine Mutter ein neues Testament aufgesetzt?«

«Sie ist Ihre Mutter. Weshalb fragen Sie nicht sie?«

«Sie rückt nicht mit der Sprache heraus«, meldet sich Vera zu Wort.

«Gut. Dann tue ich es auch nicht. Das ist streng vertraulich.«

Das begreift Delbert nicht so recht, und er ist nicht intelligent genug, um aus einer anderen Ecke heraus anzugreifen. Schließlich weiß er nicht, ob er womöglich gegen das Gesetz verstößt.

«Ich hoffe nur, Sie mischen sich da nicht in Dinge ein, die Sie nichts angehen, junger Mann«, sagt er so furchteinflößend wie möglich.

Ich bin bereit zum Gehen.»Miss Birdie!«rufe ich. Eine Sekunde lang bewegt sie sich nicht, dann hebt sie langsam die Fernbedienung und stellt den Ton lauter.

Soll mir auch recht sein. Ich zeige auf Delbert und Vera.

«Wenn Sie noch einmal in die Nähe meiner Wohnung kommen, rufe ich die Polizei. Haben Sie verstanden?«

Delbert zwingt sich als erster zu einem Auflachen, dann kichert auch Vera schnell ein bißchen. Ich knalle die Tür zu.

Ich kann nicht erkennen, ob sich jemand an den Akten unter meinem Bett zu schaffen gemacht hat. Miss Birdies Testament ist da, genau so, wie ich es hinterlassen hatte. Es ist mehrere Wochen her, seit ich es das letzte Mal angesehen habe. Alles scheint in Ordnung zu sein.

Ich schließe die Tür ab und keile einen Stuhl unter die Klinke.

Ich habe mir angewöhnt, zeitig im Büro zu erscheinen, gegen halb acht, nicht, weil ich in Arbeit ertrinke, und auch nicht, weil meine Tage etwa mit Auftritten vor Gericht und Terminen im Büro angefüllt wären, sondern weil ich gern in Ruhe eine Tasse Kafee trinke und die Einsamkeit genieße. Ich verbringe jeden Tag mindestens eine Stunde damit, mich eingehend mit dem Fall Black zu beschäftigen. Deck und ich versuchen, einander im Büro aus dem Wege zu gehen, aber das ist gelegentlich schwierig. Das Telefon beginnt allmählich, öfter zu läuten.

Ich liebe die Stille dieses Ortes, bevor der Tag beginnt.

Am Montag erscheint Deck spät, erst kurz vor zehn. Wir unterhalten uns ein paar Minuten. Er möchte, daß wir zeitig zum Lunch gehen, es wäre wichtig.

Um elf verlassen wir das Büro und gehen zwei Blocks zu einem vegetarischen Selbstbedienungsladen mit einem kleinen Restaurant im Hintergrund. Wir bestellen fleischlose Pizza und Orangentee. Deck ist sehr nervös, sein Gesicht zuckt noch mehr als gewöhnlich, und sein Kopf fährt beim leisesten Geräusch herum.

«Muß Ihnen was erzählen«, sagt er fast flüsternd. Wir sitzen in einer Nische. Die anderen sechs Tische sind leer.

«Hier sind wir sicher, Deck«, versuche ich ihn zu beruhigen.»Was gibt's?«

«Ich habe Samstag die Stadt verlassen, gleich nach der Vernehmung. Bin nach Dallas geflogen und dann nach Las Vegas, da bin ich im Pacific Hotel abgestiegen.«

Oh, großartig. Er ist auf einer Sauf- und Spieltour gewesen. Und jetzt ist er pleite.

«Gestern morgen bin ich aufgestanden, habe am Telefon mit Bruiser gesprochen, und er hat gesagt, ich soll verschwinden. Die Feds wären mir von Memphis aus gefolgt, und ich sollte verschwinden. Jemand hätte mich ständig überwacht, und ich sollte schleunigst nach Memphis zurückkehren. Ich soll Ihnen sagen, daß die Feds Sie auf Schritt und Tritt überwachen, weil Sie der einzige Anwalt sind, der sowohl für Bruiser als auch für Prince gearbeitet hat.«

Ich trinke einen Schluck Tee, um meinen ausgedörrten Mund anzufeuchten.»Sie wissen, wo… Bruiser ist?«Ich sage das lauter, als ich eigentlich wollte, aber niemand hört zu.

«Nein, das weiß ich nicht«, sagt er und läßt den Blick durch den Raum schweifen.

«Also, ist er in Vegas?«

«Das bezweifle ich. Ich nehme an, er ließ mich nach Vegas kommen, weil die Feds glauben sollten, er wäre dort. Scheint ein naheliegender Ort zu sein für Bruiser, also wird er da bestimmt nicht hingehen.«

Die Welt verschwimmt vor meinen Augen, und in meinem Kopf dreht sich alles. Mir fallen ein Dutzend Fragen auf einmal ein, aber ich kann sie nicht alle stellen. Es gibt eine Menge Dinge, die ich gerne wüßte, aber auch eine Menge, über die ich lieber nicht Bescheid wissen will. Eine Sekunde lang mustern wir uns gegenseitig.

Ich war ehrlich überzeugt, daß Bruiser und Prince inzwischen in Singapur oder Australien wären und niemand je wieder von ihnen hören würde.

«Weshalb hat er sich mit Ihnen in Verbindung gesetzt?«frage ich sehr behutsam.

Er beißt sich auf die Unterlippe, als würde er gleich losweinen. Man kann die Spitzen von seinen vier Biberzähnen sehen. Er kratzt sich am Kopf. Minuten vergehen. Aber die Zeit steht still.»Also«, sagt er, sogar noch leiser,»es sieht so aus, als hätten sie etwas Geld zurückgelassen. Und jetzt wollen sie es haben.«

«Hört sich an, als wären sie nach wie vor beisammen, stimmt's?«

«Das tut es. Und was sollen Sie tun?«

«Also, zu den Details sind wir nicht gekommen. Aber es klang so, als wollten sie, daß wir ihnen helfen, damit sie das Geld bekommen.«

«Wir?«

«Ja.«

«Sie und ich?«

«Ja.«

«Wieviel Geld?«

«Auch davon war nicht die Rede, aber es muß schon 'ne Menge sein, sonst würde ihnen nicht soviel daran liegen.«

«Und wo ist es?«

«Er hat keine Einzelheiten genannt, nur, daß es Bargeld ist und irgendwo eingeschlossen.«

«Und er will, daß wir es holen?«

«Richtig. Ich stelle es mir so vor. Das Geld ist irgendwo hier in der Stadt versteckt, wahrscheinlich ganz in unserer Nähe. Die Feds haben es bisher noch nicht gefunden, also werden sie es wohl auch nicht mehr finden. Bruiser und Prince vertrauen mir und Ihnen, außerdem sind wir jetzt so etwas wie eine halblegitime Kanzlei, nicht einfach zwei Straßengangster, die das Geld klauen würden, sobald sie es sehen. Sie stellen sich vor, daß wir beide das Geld in einen Laster laden und es ihnen bringen, und alle sind glücklich.«

Es ist unmöglich, zu erraten, wieviel von alledem reine Vermutungen von Deck sind und wieviel davon von Bruiser stammt. Ich will es nicht wissen.

Aber ich bin neugierig.»Und was bekommen wir für unsere Mühe?«

«Soweit sind wir nicht gekommen. Auf jeden Fall einen Haufen Geld. Wir könnten unseren Anteil gleich einbehalten.«

Deck hat sich schon alles ausgerechnet.

«Kommt nicht in Frage, Deck. Vergessen Sie's.«

«Ja, ich weiß«, sagt er traurig. Er ergibt sich nach dem ersten Schuß.

«Es ist zu riskant.«

«Ja«

«Im Augenblick hört es sich großartig an, aber wir könnten im Gefängnis landen.«

«Stimmt, klar, aber ich mußte es Ihnen wenigstens sagen«, erklärt er so wegwerfend, als würde er nicht im Traum ernsthaft darüber nachdenken. Der Kellner stellt einen Teller mit Vollkorncrackern und Kichererbsenmus mit Sesam vor uns hin. Wir beobachten ihn beide, bis er wieder verschwunden ist.

Ich habe auch schon darüber nachgedacht, daß ich wahrscheinlich der einzige bin, der nicht nur für einen der Gesuchten, sondern für beide gearbeitet hat, aber ich wäre nie auf die Idee gekommen, daß die Feds mich überwachen könnten. Mir ist der Appetit vergangen. Mein Mund ist immer noch wie ausgetrocknet. Beim kleinsten Geräusch fahre ich zusammen.

Wir ziehen uns beide in unsere Gedanken zurück und starren auf irgendwelche Gegenstände auf dem Tisch. Wir wechseln kein weiteres Wort, bis die Pizza kommt, und essen in absolutem Schweigen. Ich würde gern die Einzelheiten erfahren. Wie hat sich Bruiser mit Deck in Verbindung gesetzt? Wer hat seinen Ausfug nach Vegas bezahlt? War es das erste Mal, daß sie miteinander gesprochen haben, seit die beiden geflüchtet sind? Wird es das letzte Mal gewesen sein? Weshalb ist Bruiser immer noch an mir interessiert?

Zwei Gedanken tauchen aus dem Nebel auf. Erstens, wenn Bruiser genügend Hilfe hatte, um Deck auf seinem Flug nach Vegas im Auge behalten zu lassen, so daß er wissen konnte, daß er auf der ganzen Strecke überwacht wurde, dann wäre er bestimmt auch imstande, Leute anzuheuern, die das Geld aus Memphis herausschaffen können. Weshalb sollte er sich deshalb an uns wenden? Weil es ihm egal ist, ob wir erwischt werden, das ist der Grund. Zweitens, die Feds haben mich nicht verhört, weil sie mich nicht aufschrecken wollten. Es war viel einfacher, mich zu überwachen, weil ich mir ihretwegen keine Gedanken gemacht habe.

Und noch etwas geht mir durch den Kopf. Es besteht nicht der geringste Zweifel, daß mein kleiner Freund da drüben auf der anderen Seite des Tisches in eine ernsthafte Diskussion über das Geld einsteigen wollte. Deck weiß mehr, als er mir gesagt hat, und er hat diese kleine Konferenz nicht in die Wege geleitet, ohne einen Plan zu verfolgen.

Ich bin nicht töricht genug zu glauben, daß er so leicht aufgibt.

Die Tagespost ist ein Ereignis, vor dem ich mich zu furchten lerne. Deck holt sie wie gewöhnlich nach dem Lunch ab und bringt sie mit ins Büro. Da ist ein großer, dicker Umschlag von unseren speziellen Freunden bei Trent & Brent, und ich halte beim Öffnen den Atem an. Es ist Drummonds schriftliche Forderung nach Offenlegung. Er will eine Reihe von formellen Parteienbefragungen, sämtliche dem Kläger oder seinem Anwalt bekannten Dokumente und Einlassungen zu den verschiedensten Fragen. Letzteres ist eine wunderbare Möglichkeit, die gegnerische Partei zu zwingen, innerhalb von dreißig Tagen bestimmte Fakten in schriftlicher Form anzuerkennen oder zu bestreiten. Was innerhalb dieser Frist nicht bestritten wird, gilt für alle Zeiten als anerkannt. In dem ganzen Papierhaufen findet sich auch eine Aufforderung, die Vernehmung von Dot und Buddy Black in vierzehn Tagen in meiner Kanzlei vorzunehmen. Normalerweise, habe ich mir erzählen lassen, machen Anwälte so was am Telefon ab und einigen sich über Zeit und Ort der Vernehmung. Das nennt sich kollegiale Höflichkeit, dauert ungefähr fünf Minuten und bewirkt, daß alles wesentlich glatter läuft. Offensichtlich hat Drummond entweder seine guten Manieren vergessen oder sich für den Kampf mit harten Bandagen entschieden. Ich bin so oder so entschlossen, Zeit und Ort zu ändern. Nicht, daß ich irgendwelche Probleme damit hätte, es ist lediglich eine Sache des Prinzips.

Erstaunlicherweise enthält der Packen keine Anträge. Aber morgen ist auch noch ein Tag.

Schriftliche Forderungen dieser Art müssen binnen dreißig Tagen beantwortet und können gleichzeitig bei Gericht eingereicht werden. Mit meiner eigenen bin ich fast fertig, und Drummonds Schreiben spornt mich zum Handeln an. Ich bin entschlossen, diesem Herrn Großkotz zu zeigen, daß ich auch einen Papierkrieg führen kann. Er wird entweder beeindruckt sein oder einmal mehr feststellen, daß sein Gegner ein Anwalt ist, der sonst nichts zu tun hat.

Es ist fast dunkel, als ich leise auf die Auffahrt einbiege. Neben Miss Birdies Cadillac stehen zwei fremde Wagen, zwei funkelnde Pontiacs mit Avis-Aufklebern an der hinteren Stoßstange. Während ich auf Zehenspitzen ums Haus schleiche und hoffe, in meine Wohnung zu gelangen, ohne gesehen zu werden, höre ich Stimmen.

Ich bin lange im Büro geblieben, in erster Linie, weil ich Delbert und Vera aus dem Wege gehen wollte. Aber das Glück habe ich nicht. Sie sitzen mit Miss Birdie auf der Terrasse und trinken Tee. Und da ist noch mehr Besuch.

«Da ist er«, sagt Delbert laut, sobald er meiner ansichtig geworden ist. Ich bleibe stehen und schaue zur Terrasse.»Kommen Sie her, Rudy. «Es ist eher ein Befehl als eine Einladung.

Als ich näher komme, steht er langsam auf, und ein anderer Mann folgt seinem Beispiel. Delbert zeigt auf den Neuankömmling.»Rudy, das ist mein Bruder Randolph.«

Randolph und ich geben uns die Hand.»Meine Frau June«, sagt er und deutet auf eine weitere alternde, lederhäutige Person vom Vera-Typ, diesmal mit gebleichtem Haar. Ich nicke ihr zu. Sie bedenkt mich mit einem Blick, der Käse zum Kochen bringen könnte.

«Miss Birdie«, sage ich höflich und nicke meiner Hauswirtin zu.

«Hallo, Rudy«, sagt sie süß. Sie sitzt neben Delbert auf dem Korbsofa.

«Setzen Sie sich zu uns«, sagt Randolph und deutet auf einen freien Stuhl.

«Nein, danke. Ich muß in meine Wohnung und nachsehen, ob wieder jemand dort herumgeschnüffelt hat«, sage ich mit einem Blick auf Vera. Sie sitzt ein wenig abseits von den anderen hinter dem Sofa, vermutlich so weit weg von June, wie es nur geht.

June ist zwischen vierzig und fünfundvierzig. Ihr Mann ist, soweit ich mich erinnere, fast sechzig. Jetzt fällt mir wieder

ein, daß sie diejenige ist, die Miss Birdie als Flittchen bezeichnet hat. Randolphs dritte Frau. Die, die immer nach dem Geld fragt.

«Wir waren nicht in Ihrer Wohnung«, sagt Delbert mürrisch.

Im Gegensatz zu seinem aufgedonnerten Bruder altert Randolph mit Würde. Er ist nicht dick, sein Haar ist nicht dauergewellt und gefärbt, er ist nicht mit Gold behängt. Er trägt ein Golfhemd, Bermudashorts, weiße Socken, weiße Turnschuhe. Wie alle anderen ist er gebräunt. Man könnte ihn ohne weiteres für einen leitenden Angestellten im Ruhestand halten, die dazugehörige kleine Plastiktrophäe in Gestalt einer Ehefrau hat er jedenfalls.»Wie lange gedenken Sie noch hier wohnen zu bleiben, Rudy?«fragt er.

«Ich wüßte nicht, daß ich ausziehe.«

«Das habe ich auch nicht behauptet. Reine Neugierde. Mutter sagt, es gäbe keinen Mietvertrag, also frage ich nur.«

«Und warum fragen Sie?«Die Lage ändert sich rapide. Bis gestern abend hat Miss Birdie nie ein Wort über einen Mietvertrag verloren.

«Weil ich Mutter von jetzt an helfe, ihre Angelegenheiten zu regeln. Die Miete ist sehr niedrig.«

«Das kann man wohl sagen«, setzt June hinzu.

«Sie haben sich doch wohl nicht beschwert, Miss Birdie, oder?«frage ich sie.

«Ach nein«, sagt sie vage, als hätte sie vielleicht daran gedacht, sich zu beschweren, aber einfach nicht die Zeit dazu gefunden.

Ich könnte das Mulchverteilen und Streichen und Unkrautjäten zur Sprache bringen, aber ich bin entschlossen, mich mit diesen Schwachköpfen auf keine Diskussion einzulassen.»Na also«, sage ich.»Wenn die Hauswirtin zufrieden ist, weshalb zerbrechen Sie sich dann den Kopf?«

«Wir wollen nicht, daß Mama ausgenutzt wird«, sagt Delbert.

«Na hör mal, Delbert«, sagt Randolph.

«Wer nutzt sie aus?«frage ich.

«Nun ja, niemand, aber…«

«Was er sagen will«, unterbricht ihn Randolph,»ist, daß von

jetzt ab alles anders wird. Wir sind hier, um Mutter zu helfen, und wir machen uns nur Gedanken über ihre Angelegenheiten. Das ist alles.«

Ich beobachte Miss Birdie, während Randolph redet, und ihr Gesicht glüht. Ihre Söhne sind da, machen sich Sorgen um sie, stellen Fragen, erheben Forderungen, beschützen ihre Mama. Obwohl ich sicher bin, daß sie ihre beiden Schwiegertöchter nicht ausstehen kann, ist Miss Birdie eine sehr zufriedene Frau.

«Schön«, sage ich.»Aber lassen Sie mich in Ruhe. Und halten Sie sich von meiner Wohnung fern. «Ich mache kehrt und gehe rasch davon, lasse viele unausgesprochene Worte hinter mir zurück und viele Fragen, die sie stellen wollten. Ich schließe meine Wohnung ab, esse ein Sandwich und höre sie durch ein Fenster da unten reden.

Ich verbringe ein paar Minuten damit, mir diese Familienversammlung zusammenzureimen. Irgendwann gestern sind Delbert und Vera aus Florida eingetroffen, in welcher Absicht, werde ich vermutlich nie erfahren. Irgendwie haben sie Miss Birdies letztes Testament gefunden, gesehen, daß sie so an die zwanzig Millionen Dollar zu vererben hat, und waren plötzlich sehr besorgt um ihr Wohlergehen. Sie erfuhren, daß ein Anwalt auf ihrem Grundstück wohnt, und darüber waren sie nicht weniger besorgt. Delbert ruft Randolph an, der auch in Florida lebt, und Randolph eilt heim, mit der Plastiktrophäe im Schlepptau. Sie haben den heutigen Tag damit verbracht, alles nur Erdenkliche aus ihrer Mutter herauszuholen, und sind jetzt an dem Punkt angelangt, daß sie ihre Beschützer sind.

Mich kümmert das nicht im mindesten. Ich kann mir nicht helfen, aber der Gedanke an diese Versammlung bringt mich zum Kichern. Wie lange wird es wohl dauern, bis sie die Wahrheit erfahren?

Fürs erste ist Miss Birdie glücklich. Und ich gönne ihr dieses Glück.

Загрузка...