Kapitel 46

Ich bin gespannt, wie Drummond seine Verteidigung einrichten wird. Wenn er weitere Leute aus der Zentrale anschleppt und versucht, ihr System der Abweisung von Ansprüchen hinwegzuerklären, riskiert er, noch mehr Schaden anzurichten. Er weiß, daß ich einfach den Abschnitt U hervorziehen und alle möglichen unangenehmen Fragen stellen werde. Es ist durchaus denkbar, daß irgendwo noch andere krasse Lügen und Verschleierungen versteckt sind. Der einzige Weg, sie ans Licht zu bringen, besteht in einem unerbittlichen Kreuzverhör.

Er hat achtzehn Leute als mögliche Zeugen benannt. Ich habe keine Ahnung, wen er als ersten aufrufen wird. Als ich meine Zeugen vernahm, verfügte ich über den Luxus, zu wissen, was als nächstes passieren, wer der nächste Zeuge, welches das nächste Dokument sein würde. Jetzt muß ich reagieren, und zwar schnell.

Am späten Abend rufe ich Max Leuberg in Wisconsin an und informiere ihn voller Genugtuung über die Ereignisse der ersten beiden Tage. Er gibt mir einige Ratschläge und stellt ein paar Vermutungen an, was als nächstes passieren könnte. Er ist Feuer und Flamme und sagt, es könnte gut sein, daß er sich in ein Flugzeug setzt und herkommt.

Ich wandere bis drei Uhr morgens in meiner Wohnung herum, führe Selbstgespräche und versuche mir vorzustellen, was Drummond unternehmen wird.

Als ich um halb neun im Gerichtssaal eintreffe, bin ich angenehm überrascht, Cooper Jackson dort vorzufinden. Er macht mich mit zwei weiteren Anwälten bekannt, beide aus Raleigh, North Carolina. Sie sind gekommen, um meinen Prozeß zu verfolgen. Wie lauft es? fragen sie. Ich liefere ihnen eine zurückhaltende Zusammenfassung dessen, was passiert ist. Einer der Anwälte war am Montag schon hier und hat das

Abschnitt-U-Drama verfolgt. Die drei zusammen haben bisher an die zwanzig Fälle. Sie haben in Zeitungen und anderen Medien inseriert, und ständig werden neue Fälle an sie herangetragen. Sie haben vor, schon sehr bald Klage einzureichen.

Cooper gibt mir eine Zeitung und fragt, ob ich sie schon gesehen habe. Es ist das Wall Street Journal, die Ausgabe vom Vortag, und auf der Titelseite steht ein Artikel über Great Benefit. Ich sage ihnen, daß ich seit einer Woche keine Zeitung mehr gelesen habe und nicht einmal weiß, welcher Tag heute ist. Sie kennen das Gefühl.

Ich lese den Artikel rasch durch. Er berichtet hauptsächlich über die wachsende Zahl von Beschwerden über Great Benefit und ihre Praxis, Ansprüche abzuweisen. Viele Staaten haben bereits Ermittlungen eingeleitet. Zahlreiche Klagen wurden eingereicht. Im letzten Absatz heißt es, daß jetzt ein gewisser kleiner Prozeß unten in Memphis aufmerksam verfolgt würde, weil er das erste substantielle Urteil gegen die Gesellschaft bringen könnte.

Ich zeige Kipler den Artikel in seinem Amtszimmer, und er ist nicht weiter interessiert. Er wird lediglich die Geschworenen fragen, ob sie ihn gesehen haben. Sie sind ermahnt worden, keine Zeitungen zu lesen. Wir bezweifeln beide, daß es unter unseren Leuten viele Leser des Journal gibt.

Die Verteidigung ruft als ersten Zeugen Andre Weeks auf, den Stellvertretenden Leiter der Versicherungsaufsichtsbehörde des Staates Tennessee. Er ist ein hochrangiger Beamter, den Drummond schon früher in den Zeugenstand gerufen hat. Seine Aufgabe besteht darin, die Regierungsbehörde eindeutig auf Seiten der Verteidigung zu plazieren.

Er ist ein sehr gutaussehender Mann um die Vierzig mit einem eleganten Anzug, verbindlichem Lächeln und einem ehrlichen Gesicht. Außerdem hat er in diesem Moment einen entscheidenden Vorzug: Er arbeitet nicht für Great Benefit. Drummond stellt ihm einen Haufen belangloser Fragen über die Überwachungspflichten seiner Behörde; er versucht, es so klingen zu lassen, als gingen diese Leute erbarmungslos auf die Branche los und ließen ständig die Peitsche knallen. Da

Great Benefit in diesem Staat nach wie vor einen guten Ruf hat, liegt auf der Hand, daß die Gesellschaft sich ordentlich benimmt. Andernfalls hätten Andre und seine Meute sich längst auf sie gestürzt.

Drummond braucht Zeit. Er braucht einen kleinen Berg von Aussagen, den er vor den Geschworenen abkippen kann, damit sie vielleicht einiges von den entsetzlichen Dingen vergessen, die sie schon gehört haben. Er agiert langsam, redet langsam, fast wie ein alternder Professor. Und er ist sehr gut. Wenn die Fakten nicht so wären, wie sie sind, würde er tödlich sein.

Er gibt Weeks die Black-Police, und sie verbringen eine halbe Stunde damit, den Geschworenen zu erklären, daß jede Police, jede einzelne Police, von der Versicherungsaufsichtsbehörde gutgeheißen werden muß. Auf das Wort» gutgeheißen «wird besonderer Nachdruck gelegt.

Da ich nicht auf den Beinen bin, kann ich mehr Zeit damit verbringen, mich umzusehen. Ich mustere die Geschworenen, von denen einige Blickkontakt halten. Sie sind auf meiner Seite.

Ich bemerke Fremde im Gerichtssaal, junge Männer in Anzügen, die ich bisher noch nie gesehen habe. Cooper Jackson und seine Kollegen sitzen in der hintersten Reihe, in der Nähe der Tür. Es sind kaum fünfzehn Zuschauer anwesend. Wer interessiert sich schon für einen Zivilprozeß?

Nach ungefähr anderthalb Stunden eines stinklangweiligen Verhörs über die Komplexität der Versicherungsaufsicht in diesem Staate läßt die Aufmerksamkeit der Geschworenen nach. Drummond kümmert das nicht. Er versucht verzweifelt, den Prozeß bis in die nächste Woche hinein auszudehnen. Kurz vor elf entläßt er schließlich den Zeugen; der Vormittag ist praktisch nutzlos verschwendet. Wir machen eine Viertelstunde Pause, und dann bin ich an der Reihe, um ein paar Schüsse ins Dunkle abzugeben.

Weeks sagt, daß im Augenblick mehr als sechshundert Versicherungsgesellschaften im Staat operieren, daß sein Büro einundvierzig Leute beschäftigt, von denen allerdings nur achtzehn tatsächlich Policen überprüfen. Er schätzt widerstrebend, daß jede der sechshundert Gesellschaften mindestens zehn verschiedene Policen ausstellt, seiner Behörde also mindestens sechstausend Policen vorliegen. Und er gibt zu, daß die Policen ständig geändert und ergänzt werden.

Wir stellen noch ein paar weitere Berechnungen an, und es gelingt mir, meine Botschaft rüberzubringen, daß es einer Behörde unmöglich ist, den Ozean von Kleingedrucktem, den die Versicherungsgesellschaften erzeugen, zu überwachen. Ich gebe ihm die Black-Police. Er behauptet, sie gelesen zu haben, gibt aber zu, daß er dies nur im Rahmen seiner Vorbereitung auf diesen Prozeß getan hat. Ich stelle ihm eine Frage über die wöchentliche Unfallrente bei nichtstationärem Krankenhausaufenthalt. Die Police scheint plötzlich schwerer geworden zu sein, und er blättert rasch die Seiten um in der Hoffnung, den Abschnitt zu finden und eine Antwort liefern zu können. Es gelingt ihm nicht. Er blättert und raschelt, kneift die Augen zusammen, runzelt die Stirn, sagt schließlich, er hätte es. Die Antwort ist halbwegs richtig, also lasse ich sie gelten. Dann frage ich ihn nach der korrekten Methode, die Begünstigten dieser Police zu wechseln, und er tut mir fast leid. Er studiert die Police lange Zeit, während jedermann wartet. Die Geschworenen sind amüsiert. Kipler grinst. Drummond schmort, kann aber nichts dagegen tun.

Er liefert uns eine Antwort, deren Richtigkeit unwichtig ist. Ich habe erreicht, was ich wollte. Ich lege die beiden grünen Handbücher auf meinen Tisch, als wären Weeks und ich im Begriff, sie noch einmal durchzugehen. Mit dem Schadenshandbuch in der Hand frage ich ihn, ob er sich von Zeit zu Zeit mit den internen Schadensregulierungsverfahren irgendeiner der Gesellschaften befaßt, die seine Behörde so aufmerksam überwacht. Er möchte ja sagen, aber er hat offensichtlich von Abschnitt U gehört. Also sagt er nein, und ich bin natürlich regelrecht schockiert. Ich bombardiere ihn mit ein paar sarkastischen Fragen, dann lasse ich ihn von der Angel. Der Schaden ist angerichtet und gebührend registriert.

Ich frage ihn, ob er weiß, daß die Versicherungsaufsicht in Florida gegen Great Benefit ermittelt. Er weiß es nicht. Was ist mit South Carolina? Nein, auch das ist ihm neu. Was ist mit North Carolina? Ihm ist, als hätte er darüber etwas gehört, aber er hat keinerlei Unterlagen gesehen. Kentucky? Georgia? Nein, und fürs Protokoll, was andere Staaten tun, ist für ihn völlig belanglos. Ich danke ihm für diese Aussage.

Drummonds nächster Zeuge ist gleichfalls ein Nicht-Mitarbeiter von Great Benefit, aber nur mit knapper Not. Sein Name ist Payton Reisky, und sein beeindruckender Titel ist Direktor und Präsident des Nationalen Versicherungsverbandes. Er hat das Aussehen und das Gehabe eines überaus wichtigen Mannes. Wir erfahren rasch, daß sein Laden eine politische Organisation mit Sitz in Washington ist, von Versicherungsgesellschaften ins Leben gerufen, um als ihr Sprachrohr im Kapitol zu fungieren. Nur ein Haufen von Lobbyisten also, ohne Zweifel mit einem vergoldeten Budget. Sie tun Unmengen von wundervollen Dingen, gipfelnd, so wird uns berichtet, in dem Bemühen, faire Versicherungspraktiken zu fördern.

Diese kleine Einführung zieht sich sehr lange hin. Sie beginnt um halb zwei, und um zwei sind wir überzeugt, daß der Nationale Versicherungsverband nahe daran ist, die Menschheit zu retten. Was für fabelhafte Leute!

Reisky ist seit dreißig Jahren im Geschäft, und wir erfahren eine Menge über sein Herkommen und die Einzelheiten seiner Karriere. Drummond will ihn als Experten auf dem Gebiet der Schadensabwicklung bei Versicherungen qualifizieren. Ich habe keine Einwände. Ich habe seine Aussage bei einem früheren Prozeß gelesen, und ich denke, ich kann mit ihm fertig werden. Nur einem außerordentlich begabten Experten könnte es gelingen, zu bewirken, daß Abschnitt U sich gut anhört.

Fast ohne Nachhilfe führt er uns durch eine vollständige Checkliste, nach der ein Anspruch reguliert werden sollte. Drummond nickt ernst mit dem Kopf, als gäben sie uns jetzt wirklich Saures. Und was kommt dabei heraus? Great Benefit hat sich in diesem Fall absolut korrekt verhalten. Vielleicht ein paar kleine Fehler, aber schließlich ist es eine große Firma mit Unmengen von Schadensfällen. Kein größeres Abweichen von dem, was vernünftig ist.

Der Tenor von Reiskys Ansichten ist, daß Great Benefit jedes Recht hatte, diesen Anspruch seines Ausmaßes wegen abzuweisen. Er erklärt den Geschworenen sehr ernsthaft, daß von einer Police, die achtzehn Dollar pro Woche einbringt, vernünftigerweise nicht erwartet werden kann, daß sie eine Transplantation abdeckt, die zweihunderttausend Dollar kostet. Sinn einer Debetpolice ist es, die Grundversorgung zu decken, nicht das ganze Drum und Dran.

Drummond bringt das Thema der Handbücher und ihrer fehlenden Abschnitte zur Sprache. Unerfreulich, meint Reisky, aber so wichtig nun auch wieder nicht. Handbücher kommen und gehen, werden ständig abgeändert und von erfahrenen Schadenssachbearbeitem in der Regel ignoriert, weil sie ohnehin wissen, was sie tun. Aber da soviel Aufhebens davon gemacht wurde, lassen Sie uns darüber sprechen. Er greift eifrig nach dem Schadenshandbuch und erklärt den Geschworenen verschiedene Abschnitte. Hier steht alles schwarz auf weiß. Alles funktioniert prächtig.

Von den Handbüchern gehen sie zu den Zahlen über. Drummond fragt, ob er Gelegenheit gehabt hat, sich die Information über Policen, Ansprüche und Abweisungen anzusehen. Reisky nickt ernst, dann läßt er sich von Drummond den Ausdruck geben.

Von Great Benefit wurde 1991 in der Tat ein hoher Prozentsatz von Ansprüchen abgewiesen. Aber dafür könnte es gute Gründe geben. So etwas ist in der Branche schon des öfteren vorgekommen. Und man kann den Zahlen nicht immer trauen. Wenn man sich die letzten zehn Jahre ansieht, liegt die Abweisungsrate von Great Benefit leicht unter zwölf Prozent, was durchaus dem Branchendurchschnitt entspricht. Es folgen Zahlen auf Zahlen, und wir sind rasch verwirrt, was genau das ist, was Drummond wollte.

Reisky verläßt den Zeugenstand und beginnt, auf diesen und jenen Punkt einer mehrfarbigen Tabelle zu zeigen. Er redet zu den Geschworenen wie ein geübter Dozent, und ich frage mich, wie oft er das tut. Die Zahlen liegen sämtlich im Durchschnitt.

Um halb vier gewährt Kipler uns gnädigerweise eine Pause. Ich unterhalte mich auf dem Flur mit Cooper Jackson und seinen Freunden. Sie sind alle erfahrene Prozeßanwälte und sparen nicht mit Ratschlägen. Wir sind uns einig, daß Drummond versucht, die Sache hinzuziehen, und daß er aufs Wochenende hofft.

Ich gebe während der gesamten Nachmittagssitzung kein einziges Wort von mir. Reisky sagt bis gegen Abend aus und endet schließlich mit einem Schwall von Beteuerungen, wie fair alles gelaufen ist. Den Gesichtern der Geschworenen nach zu urteilen sind sie glücklich, daß der Mann endlich Schluß macht. Ich bin dankbar für ein paar Extrastunden, in denen ich mich auf sein Kreuzverhör vorbereiten kann.

Deck und ich genießen ein langes Abendessen mit Cooper Jackson und drei weiteren Anwälten in einem alten italienischen Restaurant, das Grisanti's heißt. Big John Grisanti, der Besitzer, führt uns in einen privaten Speiseraum, die sogenannte Press Box. Er bringt uns einen wunderbaren Wein, den wir nicht bestellt haben, und sagt uns genau, was wir essen sollen.

Der Wein wirkt beruhigend, und zum erstenmal seit vielen Tagen kann ich mich fast entspannen. Vielleicht werde ich heute nacht gut schlafen.

Die Rechnung belauft sich auf über vierhundert Dollar, und Cooper Jackson nimmt sie sofort an sich. Gott sei Dank. Die Kanzlei von Rudy Baylor mag an der Schwelle zum großen Geld stehen, aber vorerst ist sie immer noch pleite.

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