Kapitel 28

Der erste Monat im Geschäft mit Deck hat erbärmliche Ergebnisse gebracht. Wir haben zwölfhundert Dollar an Honoraren eingenommen — vierhundert von Jimmy Monk, einem Ladendieb, an den Deck sich im Stadtgericht herangemacht hat, zweihundert aus einem Fall von Trunkenheit am Steuer, den Deck auf irgendeine dubiose und immer noch unerklärte Methode an Land gezogen hat, und fünfhundert aus der Schadenersatzklage eines Arbeiters, die Deck an dem Tag, an dem wir uns aus dem Staub gemacht haben, aus Bruisers Kanzlei gestohlen hat. Die restlichen hundert Dollar waren das Honorar für ein Testament, das ich für ein Ehepaar in mittleren Jahren aufgesetzt habe, das rein zufällig in unsere Kanzlei geraten war. Sie waren auf der Suche nach Antiquitäten, verliefen sich unten im Laden und landeten in meinem Büro, wo ich gerade ein Nickerchen an meinem Schreibtisch machte. Wir unterhielten uns eine Weile, das eine führte zum anderen, und sie warteten, während ich ihre Testamente in die Maschine tippte. Sie zahlten bar, worüber ich Deck, unseren Buchhalter, getreulich informierte. Mein erstes Honorar wurde ethisch einwandfrei verdient.

Wir haben fünfhundert Dollar für Miete ausgegeben, vierhundert für Briefpapier und Visitenkarten, ungefähr fünfundfünfzig für Wasser- und Stromanschluß, achthundert für eine geleaste Telefonanlage und die Rechnung für den ersten Monat, dreihundert als erste Rate für die Schreibtische und ein paar andere Möbelstücke, die wir von unserem Hauswirt erworben hatten, zweihundert an Anwaltsbeiträgen, dreihundert für allen möglichen und schwer nachzuweisenden Kleinkram, fünfundsiebzig für ein Faxgerät, vierhundert für die Aufstellung eines billigen Computers und die erste Monatsmiete dafür, und fünfzig Dollar für eine Anzeige in einem Restaurantführer.

Insgesamt haben wir zweitausendvierhundert Dollar ausgegeben, von denen das meiste Gott sei Dank Anfangskosten waren, die sich nicht wiederholen werden. Deck hat es bis auf den letzten Cent kalkuliert. Er rechnet, nach den Anfangsausgaben, mit monatlichen Unkosten von rund eintausendneunhundert Dollar. Er tut so, als wäre er begeistert, wie gut die Dinge angelaufen sind.

Man kann seinem Enthusiasmus kaum entkommen. Er wohnt im Büro. Er ist ledig, weit weg von seinen Kindern und lebt in einer Stadt, in der er nicht zu Hause ist. Ich kann mir nicht vorstellen, daß er viel Zeit damit verbringt, die Vergnügungsviertel unsicher zu machen. Die einzige Zerstreuung, die er erwähnt hat, sind die Kasinos in Mississippi.

Er erscheint gewöhnlich ungefähr eine Stunde nach mir zur Arbeit und verbringt die meisten Vormittage in seinem Büro am Telefon. Der Himmel weiß, mit wem er da spricht, aber ich denke, er wird irgend jemandem unsere Dienste anbieten oder Unfallberichte überprüfen oder auch nur seine Kontakte pflegen. Er fragt mich jeden Morgen, ob ich irgendwelche Schreibarbeit für ihn habe. Wir haben schnell festgestellt, daß er wesentlich besser tippen kann als ich, und er ist immer begierig, meine Briefe und Dokumente zu schreiben. Er reißt sich ein Bein aus, um Telefonanrufe entgegenzunehmen, geht los und holt Kaffee, fegt das Büro, läuft mit dem zu kopierenden Material zur Druckerei. Deck hat keinen Stolz und will, daß ich glücklich bin.

Er lernt nicht fürs Anwaltsexamen. Wir haben einmal darüber gesprochen, und er hat schnell das Thema gewechselt.

Am späten Vormittag macht er gewöhnlich Pläne, einen nicht näher bezeichneten Ort aufzusuchen und sich um irgendwelche mysteriösen Geschäfte zu kümmern. Ich bin sicher, er begibt sich in irgendein Zentrum juristischer Aktivitäten, vielleicht das Konkurs- oder das Stadtgericht, und versucht jemanden auf zutun, der einen Anwalt braucht. Wir sprechen nicht darüber. Abends macht er seine Runde durch die Krankenhäuser.

Es war nur eine Sache von Tagen, bis wir unsere kleine Suite aus Büros aufgeteilt und unsere eigenen Bereiche abgesteckt hatten. Deck findet, ich sollte den größten Teil des Tages damit verbringen, mich auf den unzähligen Gerichtsfuren herumzutreiben und nach Mandanten Ausschau zu halten. Ich spüre seine Frustration darüber, daß ich nicht aggressiver bin. Er hat meine Fragen nach Ethik und Taktik satt. Das da draußen ist eine harte und rücksichtslose Welt mit Unmengen von hungrigen Anwälten, die sich mit der Halsabschneiderei bestens auskennen. Wenn Sie sich hier den ganzen Tag den Hintern platt sitzen, werden Sie verhungern. Die guten Fälle kommen nicht von alleine ins Haus.

Andererseits ist Deck auf mich angewiesen. Ich habe eine Anwaltslizenz. Wir mögen das Geld teilen, aber dies ist keine Partnerschaft unter Gleichrangigen. Er betrachtet sich als entbehrlich, und deshalb übernimmt er freiwillig die Knochenarbeit. Deck ist stets bereit, sich an Unfallopfer heranzumachen und sich auf den Fluren der Gerichte und in den Notaufnahmen der Krankenhäuser herumzutreiben, weil er zufrieden ist mit einem Arrangement, das ihm fünfzig Prozent zugesteht. Einen besseren Handel kann er nirgends abschließen.

Es braucht nur einen Fall, sagt er immer und immer wieder. Das hört man in diesem Geschäft ständig. Ein großer Fall, und man kann sich zur Ruhe setzen. Das ist einer der Gründe dafür, daß Anwälte so viele schäbige Dinge veranstalten wie große Farbannoncen in den Gelben Seiten und Plakate auf Wänden und in den städtischen Bussen und Kundenwerbung am Telefon. Man hält die Nase hoch, ignoriert den Gestank dessen, was man tut, und ignoriert die Verachtung und den Snobismus der Anwälte aus den großen Kanzleien, weil es doch nur diesen einen Fall braucht.

Deck ist entschlossen, für unsere kleine Kanzlei den ganz großen Fall zu finden.

Während er unterwegs ist und Memphis unsicher macht, schaffe ich es immerhin, mich beschäftigt zu halten. An den Stadtgrenzen von Memphis gibt es fünf kleine, eingemeindete Ortschaften. Jede von ihnen hat ein eigenes Gericht, das bei minderen Delikten junge Anwälte als Pflichtverteidiger einsetzt, wenn die Beklagten sich keinen Rechtsbeistand leisten können. Die Richter und die Vertreter der Anklage sind jung und arbeiten stundenweise, die meisten haben an der Mem-phis State studiert und arbeiten für weniger als fünfhundert Dollar im Monat. Sie haben aufstrebende Kanzleien in den Vororten und verbringen jede Woche ein paar Stunden damit, ein bißchen Recht und Gesetz unter die Leute zu bringen. Ich habe diese Typen aufgesucht, mich mit ihnen unterhalten, ihnen Honig um den Bart geschmiert und ihnen erklärt, daß ich ein bißchen Arbeit an ihren Gerichten brauche. Die Ergebnisse waren gemischt. Man hat mir die Vertretung von sechs mittellosen Beklagten übertragen, die aller möglichen Vergehen bezichtigt werden, von Drogenbesitz über leichten Diebstahl bis hin zu Erregung öffentlichen Ärgernisses. Für jeden Fall bekomme ich maximal hundert Dollar, und sie sollten innerhalb von zwei Monaten erledigt sein. Wenn ich mich mit den Mandanten treffe, mich mit ihnen über ihre Schuld oder Unschuld unterhalte, mit den Vertretern der Anklage spreche und zu den Verhandlungen vor Gericht in einen der Vororte fahre, verbringe ich mindestens vier Stunden mit jedem Fall. Das sind fünfundzwanzig Dollar pro Stunde, vor Abzug von Unkosten und Steuern.

Aber zumindest hält es mich beschäftigt und bringt etwas ein. Ich lerne Leute kennen, überreiche meine Karte, bitte meine neuen Mandanten, ihren Freunden zu erzählen, daß ich, Rudy Baylor, ihre sämtlichen juristischen Probleme lösen kann. Mir schaudert bei dem Gedanken, was für Probleme diese Freunde haben könnten. Es kann nur noch elender sein. Scheidung, Bankrott, noch mehr kriminelle Vergehen. Das Leben eines Anwalts.

Deck möchte inserieren, sobald wir es uns leisten können, er meint, wir sollten uns zu Experten für Körperverletzungsfälle erklären und frühmorgens Spots im Kabelfernsehen senden lassen, damit wir die arbeitende Klasse beim Frühstück erreichen, bevor die Leute zur Arbeit gehen, um sich verstümmeln zu lassen. Er hat sich auch einen Sender angehört, der schwarzen Rap bringt, nicht etwa, weil er diese Musik liebt, sondern weil der Sender sehr beliebt ist und, erstaunlicherweise, von den Anwälten noch nicht entdeckt wurde. Er hat eine Nische gefunden. Die Rap-Anwälte!

Gott steh uns bei.

Ich treibe mich gern in der Kanzlei des Bezirksgerichts herum, flirte mit den Sachbearbeiterinnen, mache mich mit dem Betrieb vertraut. Die Gerichtsakten sind öffentlich zugänglich und ihre Register im Computer gespeichert. Nachdem ich erst mal heraushatte, wie man mit einem Computer umgeht, machte ich einige Fälle ausfindig, an denen Leo F. Drummond beteiligt war. Der jüngste war achtzehn Monate alt, der älteste acht Jahre. Keiner betraf Great Benefit, aber bei allen ging es um die Verteidigung von Versicherungsgesellschaften. Alle endeten mit einem Prozeß und einem Urteil zugunsten seiner Mandanten.

In den vergangenen drei Wochen habe ich viele Stunden damit verbracht, diese Akten zu studieren, mir seitenweise Notizen gemacht und Hunderte von Kopien. Mit Hilfe dieser Akten habe ich eine umfassende Liste von Beweismittelanforderungen aufgestellt, schriftlichen Fragen, die eine Partei der anderen übersendet und die diese schriftlich und beeidet beantworten muß. Es gibt unzählige Möglichkeiten, derartige Beweismittelanforderungen zu formulieren, und ich habe mich dabei ertappt, daß ich mir seine zum Vorbild nahm. Ich wühlte mich durch die Akten und machte mir eine lange Liste der Dokumente, die ich von Great Benefit anzufordern gedenke. In einigen dieser Fälle war Drummonds Gegner recht gut, in anderen ziemlich erbärmlich. Aber Drummond scheint immer die Oberhand behalten zu haben.

Ich studiere seine Plädoyers, seine Schriftsätze, seine Anträge, seine schriftlichen Beweisaufnahmen und seine Reaktionen auf die entsprechenden Dokumente der Kläger. Nachts im Bett lese ich seine Zeugenvernehmungen. Ich präge mir seine Vorgehensweise in Vorverhandlungen ein. Ich lese sogar seine Briefe an das Gericht.

Nach einem Monat voller subtiler Andeutungen und sanften Zuredens gelang es mir schließlich, Deck zu einem kurzen Ausflug nach Atlanta zu bewegen. Er hat dort zwei Tage lang ein bißchen auf den Busch geklopft und die Nächte in einem sehr billigen Motel verbracht. Die Fahrt hatte geschäftliche Gründe.

Heute ist er zurückgekehrt mit den Nachrichten, die ich erwartet hatte. Miss Birdies Vermögen belauft sich auf etwas über zweiundvierzigtausend Dollar. Ihr Ehemann hat tatsächlich einen Bruder in Florida beerbt, aber sein Anteil an dem Nachlaß betrug weniger als eine halbe Million. Bevor er Miss Birdie heiratete, hatte Anthony Murdine zwei weitere Ehefrauen gehabt, die ihm sechs Kinder geschenkt hatten. Die Kinder, die Anwälte und die Steuerbehörde kassierten fast den gesamten Nachlaß. Miss Birdie bekam vierzigtausend, die sie aus irgendeinem Grund in der Treuhandabteilung einer großen Bank in Georgia beließ. Nach fünf Jahren unerschrockenen Investierens ist das Kapital um ungefähr zweitausend Dollar gewachsen.

Es war nur ein Teil der Gerichtsakte versiegelt, und deshalb konnte Deck der Sache nachgehen und genügend Leute belästigen, um herauszubekommen, was wir wissen wollten.

«Tut mir leid«, sagt er, nachdem er die Ergebnisse seiner Suche zusammengefaßt und mir Kopien von einigen der Gerichtsbeschlüsse ausgehändigt hat.

Ich bin enttäuscht, aber nicht überrascht.

Die Vernehmung von Donny Ray sollte ursprünglich in unserem neuen Büro stattfinden, was mir ziemliches Kopfzerbrechen bereitet hat. Deck und ich arbeiten nicht gerade in einem schmutzigen Loch, aber die Räume sind klein und praktisch kahl. An den Fenstern hängen keine Vorhänge. Die Spülung in der engen Toilette funktioniert nur sporadisch.

Ich schäme mich dieses Ortes ganz und gar nicht, er hat sogar fast etwas Anheimelndes. Eine bescheidene erste Kanzlei für einen jungen Anwalt auf dem Weg nach oben. Aber die Trent-&-Brent-Fritzen werden bestimmt die Nase rümpfen. Sie sind nur das Allerbeste gewohnt, und ich hasse den Gedanken, ihren Snobismus ertragen zu müssen, wenn sie sich herablassen müssen, hier in die Slums herunterzusteigen. Wir haben nicht einmal genügend Stühle, die wir um den schmalen Konferenztisch herum aufstellen könnten.

Am Freitag, dem Tag vor der Vernehmung, teilt Dot mir mit, daß Donny Ray bettlägerig ist und das Haus nicht verlassen kann. Er hat sich Sorgen gemacht wegen seiner Aussage, und das hat ihn geschwächt. Wenn Donny Ray das Haus nicht verlassen kann, gibt es nur einen Ort, wo wir ihn vernehmen können. Ich rufe Drummond an, und er sagt, er könne sich nicht damit einverstanden erklären, die Vernehmung von meiner Kanzlei ins Haus meines Mandanten zu verlegen. Vorschriften wären Vorschriften, und ich müßte die Sache eben verschieben und mit allen Beteiligten einen neuen Termin ausmachen. Tut ihm alles sehr leid. Er würde die Vernehmung natürlich am liebsten bis nach der Beerdigung verschieben. Ich lege auf, dann rufe ich Richter Kipler an. Minuten später ruft Kipler Drummond an, und nach ein paar kurzen Bemerkungen wird die Vernehmung ins Haus von Dot und Buddy Black verlegt. Seltsamerweise will Kipler bei der Vernehmung anwesend sein. Das ist äußerst ungewöhnlich, aber er hat seine Gründe. Donny Ray ist schwerkrank, und dies ist möglicherweise unsere einzige Chance, ihn zu vernehmen. Es hängt also alles von der Zeit ab. Nicht selten kommt es bei Vernehmungen zu heftigen Streitereien zwischen den Anwälten. Oft muß dann zum Telefon gegriffen und der Richter ausfindig gemacht werden, von dem dann erwartet wird, daß er den Streit über eine Konferenzschaltung beilegt. Wenn der Richter unauffindbar ist und der Streit nicht beigelegt werden kann, wird die Vernehmung abgebrochen und zu einem späteren Zeitpunkt erneut angesetzt. Kipler glaubt, daß Drummond und Genossen versuchen könnten, das Verfahren zu torpedieren, indem sie einen sinnlosen Streit vom Zaun brechen und dann empört davonstürmen.

Aber wenn Kipler dabei ist, wird die Vernehmung reibungslos ablaufen. Er wird über Einsprüche entscheiden und dafür sorgen, daß Drummond bei der Sache bleibt. Abgesehen davon, sagt er, ist Samstag, und er hat nichts anderes zu tun.

Außerdem glaube ich, er macht sich Sorgen, wie ich meine erste Zeugenvernehmung überstehen werde. Dazu hat er allen Grund.

Freitag nacht verbringe ich einige schlaflose Stunden damit, mir genau zu überlegen, wie die Vernehmung im Haus der Blacks arrangiert werden kann. Es ist feucht und dunkel, und die Beleuchtung ist grauenhaft, was ein großes Problem ist, weil Donny Rays Aussage auf Video festgehalten werden soll. Die Geschworenen müssen einen Eindruck davon bekommen, wie entsetzlich er aussieht. Das Haus hat nur eine ganz bescheidene Klimaanlage, und die Temperatur beträgt drinnen mehr als dreißig Grad. Ich kann mir einfach nicht vorstellen, wie man fünf oder sechs Anwälte, einen Richter, eine Protokollantin, den Bediener der Videokamera und Donny Ray irgendwo im Haus halbwegs komfortabel unterbringen kann.

Ich hatte Alpträume von Dot, die uns mit riesigen Wolken von blauem Qualm erstickt, und von Buddy im Hintergarten, der leere Ginflaschen gegen die Fenster schleudert. Ich schlief weniger als drei Stunden.

Eine Stunde vor der Vernehmung komme ich beim Haus der Blacks an. Es kommt mir noch kleiner und heißer vor als sonst. Donny Ray sitzt im Bett, in etwas besserer Verfassung, und behauptet, der Herausforderung gewachsen zu sein. Wir haben stundenlang darüber gesprochen, und vor einer Woche habe ich ihm eine ausführliche Liste mit meinen Fragen und dem gegeben, was ich von Drummond erwarte. Er sagt, er wäre bereit, und ich entdecke eine Spur von nervöser Erregung. Dot macht Kaffee und wäscht die Wände ab, schließlich hat man nicht jeden Tag einen Haufen Anwälte und einen Richter zu Besuch. Donny Ray sagt, sie hätte die ganze Nacht geputzt. Buddy durchquert das Wohnzimmer, als ich gerade ein Sofa zurechtrücke. Auch er ist geschrubbt worden. Sein Hemd ist weiß, die Zipfel stecken in der Hose. Ich kann mir vorstellen, wie Dot ihn angekeift haben muß, um das zu erreichen.

Meine Mandanten bemühen sich, präsentabel zu sein. Ich bin stolz auf sie.

Deck erscheint mit einem Haufen von Gerätschaften. Er hat sich von einem Freund eine veraltete Videokamera geliehen, die mindestens dreimal so groß ist wie die neuen Modelle. Er versichert mir, daß sie einwandfrei funktionieren wird. Es ist seine erste Begegnung mit den Blacks. Sie beobachten ihn argwöhnisch, zumal Buddy, der dazu abkommandiert worden ist, einen Tisch abzustauben. Deck nimmt das Wohnzimmer und die Küche in Augenschein und erklärt mir leise, daß der Platz einfach nicht ausreicht. Er schleppt ein Stativ ins Wohnzimmer, stößt dabei einen Zeitschriftenständer um und handelt sich einen wütenden Blick von Buddy ein.

Das Haus ist ziemlich vollgestopft mit kleinen Tischen und Fußbänken und anderem Mobiliar aus den Sechzigern, auf dem überall billige Souvenirnippes herumstehen. Es wird von Minute zu Minute heißer.

Richter Kipler trifft ein, wird mit allen bekanntgemacht, fängt an zu schwitzen, und ein oder zwei Minuten später sagt er:»Lassen Sie uns einen Blick nach draußen werfen. «Er folgt mir durch die Küchentür auf die kleine Terrasse. Am hinteren Zaun, in der Buddys Fairlane gegenüberliegenden Ecke, steht eine Eiche, die vermutlich um die Zeit gepflanzt wurde, als das Haus entstand. Unter ihr ist es schattig. Deck und ich folgen Kipler durch das frisch gemähte, aber nicht abgeharkte Gras. Er sieht den Fairlane und die Katzen auf der Haube.

«Wieso nicht hier?«fragt er unter dem Baum. Am Zaun zieht sich eine Hecke entlang, die so dicht ist, daß von dem angrenzenden Grundstück niemand hindurchschauen kann. Inmitten dieses Gewuchers wachsen vier hohe Kiefern. Sie blockieren die Morgensonne von Osten her und machen diesen Platz unter der Eiche halbwegs erträglich, jedenfalls vorerst. An Licht fehlt es hier jedenfalls nicht.

«Sieht gut aus«, sage ich, obwohl ich mit meiner beschränkten Erfahrung noch nie von einer Vernehmung im Freien gehört habe. Ich spreche ein rasches Dankgebet für die Anwesenheit von Tyrone Kipler.

«Haben wir ein Verlängerungskabel?«fragt er.

«Ja. Ich habe eins mitgebracht«, sagt Deck, bereits durch das Gras davonschlurfend.»Es ist ein Dreißig-Meter-Kabel.«

Das ganze Grundstück ist knapp fünfundzwanzig Meter breit und vielleicht dreißig Meter lang. Da der Vorgarten größer ist als der Hintergarten, ist die Terrasse nicht weit entfernt und auch der Fairlane nicht. Er steht sogar ganz in der Nähe, und Claws, die Wachkatze, sitzt majestätisch auf dem Dach und beobachtet uns mißtrauisch.

«Lassen Sie uns ein paar Stühle holen«, sagt Kipler, ganz

Herr der Lage. Er krempelt die Ärmel auf. Dot, der Richter und ich tragen vier Stühle aus der Küche in den Garten, während Deck sich mit dem Verlängerungskabel und den anderen Gerätschaften abmüht. Buddy ist verschwunden. Dot erlaubt uns, ihre Terrassenmöbel zu benutzen, dann macht sie drei fleckige und leicht angeschimmelte Segeltuchstühle im Geräteschuppen ausfindig.

Nur Minuten später sind Kipler und ich schweißgebadet. Und wir erregen Aufsehen. Ein paar Nachbarn sind unter ihren Steinen hervorgekrochen und beobachten uns neugierig. Ein Schwarzer in Jeans, der Stühle zur Eiche der Blacks schleppt? Ein seltsamer kleiner Typ mit übergroßem Kopf, der mit Kabeln hantiert und es geschafft hat, sie um seine Knöchel zu wickeln? Was geht da vor?

Ein paar Minuten vor neun treffen zwei Protokollantinnen ein, und unglücklicherweise werden sie ausgerechnet von Buddy in Empfang genommen. Sie hätten beinahe die Flucht ergriffen, aber Dot rettet sie und führt sie durch das Haus in den Hintergarten. Zum Glück tragen sie Hosen anstelle von Röcken. Sie unterhalten sich mit Deck über die Ausrüstung und die Stromzufuhr.

Drummond und seine Mannschaft treffen Punkt neun Uhr ein, nicht eine Minute zu früh. Er bringt nur zwei Anwälte mit, B. Dewey Clay Hill den Dritten und Brandon Fuller Grone, und sie sind gekleidet wie Zwillinge: dunkelblaue Blazer, weiße Baumwollhemden, gestärkte Khakihosen, Mokassins. Nur die Krawatten haben eine gewisse Eigenständigkeit behauptet. Drummond trägt keine.

Sie finden uns im Garten und sind fassungslos angesichts unseres Arrangements. Inzwischen triefen Kipler, Deck und ich vor Schweiß, und es ist uns völlig egal, was sie denken.»Nur drei?«frage ich, das Team der Verteidigung zählend, aber sie finden das kein bißchen komisch.

«Sie sitzen hier«, sagt Kipler und deutet auf drei Küchenstuhle.»Passen Sie mit den Kabeln auf. «Deck hat alle möglichen Kabel um den Baum geschlungen, und vor allem Grone scheint sich vor einem tödlichen Stromschlag zu fürchten.

Dot und ich helfen Donny Ray aus dem Bett und durch das

Haus in den Garten. Er ist sehr schwach, versucht aber trotzdem tapfer, ohne Unterstützung zu gehen. Als wir uns der Eiche nähern, beobachte ich Leo Drummond genau, der Donny Ray jetzt zum ersten Mal sieht. Sein selbstgefälliges Gesicht verrät keine Regung, und ich möchte ihm etwas an den Kopf werfen wie» Schauen Sie genau hin, Drummond. Sehen Sie, was Ihr Mandant angerichtet hat. «Aber es ist nicht Drummonds Schuld. Die Entscheidung, die Kostenübernahme zu verweigern, wurde von irgendwem bei Great Benefit getroffen, und zwar lange bevor Drummond etwas davon wußte. Er ist einfach zufällig der nächste Mensch, den man hassen kann.

Wir setzen Donny Ray in einen mit Kissen ausgepolsterten Schaukelstuhl von der Veranda. Dot hantiert mit den Kissen, tätschelt ihn und läßt sich viel Zeit, es ihm so bequem wie möglich zu machen. Sein Atem geht schwer, und sein Gesicht ist naß. Er sieht schlechter aus als sonst.

Ich mache ihn höflich mit allen Anwesenden bekannt: Richter Kipler, den beiden Protokollantinnen, Deck, Drummond und den beiden anderen von Trent & Brent. Er ist zu schwach, um ihnen die Hand zu geben, also nickt er lediglich und versucht zu lächeln.

Wir stellen die Kamera so hin, daß sie direkt auf sein Gesicht gerichtet und die Linse gut einen Meter davon entfernt ist. Deck versucht, sie scharf einzustellen. Eine der Protokollantinnen hat eine Lizenz, Videoaufnahmen für das Gericht herzustellen, und sie versucht, Deck aus dem Weg zu schieben. Auf dem Video wird niemand außer Donny Ray erscheinen. Es werden zwar auch andere Stimmen zu hören sein, aber sein Gesicht wird das einzige sein, das die Geschworenen zu sehen bekommen.

Kipler dirigiert mich auf Donny Rays rechte Seite und Drummond auf die linke. Seine Ehren selbst läßt sich neben mir nieder. Wir nehmen unsere Plätze ein und rücken unsere Stühle nahe an den Zeugen heran. Dot steht ein paar Schritte hinter der Kamera und läßt sich keine Bewegung ihres Sohnes entgehen.

Die Nachbarn können ihre Neugierde jetzt nicht mehr zurückhalten und stehen an dem keine sechs Meter entfernten

Maschendrahtzaun. Ein Stück die Straße hinunter dröhnt Conway Twitty aus einem Radio, aber das stört nicht weiter. Es ist Samstagmorgen, und man hört das Summen ferner Rasenmäher und elektrischer Heckenscheren.

Donny Ray trinkt einen Schluck Wasser und versucht, die vier Anwälte und den Richter, die nach vorne gebeugt um ihn herumsitzen, zu ignorieren. Der Zweck seiner Vernehmung liegt auf der Hand: die Jury muß von ihm hören, weil er tot sein wird, wenn der Prozeß beginnt. Er soll Mitgefühl erregen. Vor nicht allzu vielen Jahren wäre seine Vernehmung auf die übliche Art erfolgt. Eine Protokollantin hätte die Fragen und Antworten festgehalten und ein ordentliches Protokoll daraus gemacht, das wir dann beim Prozeß den Geschworenen vorgelesen hätten. Aber inzwischen ist das technische Zeitalter angebrochen. Jetzt werden viele Vernehmungen, insbesondere solche sterbender Zeugen, auf Video aufgezeichnet und der Film dann den Geschworenen vorgeführt. Auf Kiplers Vorschlag hin wird die Vernehmung außerdem auf die übliche Weise stenografisch festgehalten. Das ermöglicht beiden Parteien und dem Richter ein schnelles Nachschlagen, ohne daß sie sich das ganze Video ansehen müssen.

Die Kosten einer solchen Vernehmung hängen von ihrer Länge ab. Gerichtsprotokollantinnen berechnen ihr Honorar seitenweise, deshalb hat Deck mir geraten, meine Fragen möglichst knapp zu halten. Es ist unsere Vernehmung, also müssen wir dafür bezahlen, und er schätzt die Kosten auf knapp vierhundert Dollar. Prozessieren ist teuer.

Kipler fragt Donny Ray, ob wir anfangen können, dann fordert er die Protokollantin auf, ihn zu vereidigen. Er verspricht, die Wahrheit zu sagen. Da er mein Zeuge ist und es sich hier nicht etwa um irgendeine nette Samstagvormittagunterhaltung handelt, sondern eine offizielle Beweisaufnahme, muß ich mich genau an die Regeln halten. Ich bin ziemlich nervös, aber die Anwesenheit von Richter Kipler ist überaus tröstlich.

Ich frage Donny Ray nach Namen, Adresse, Geburtsdatum und ein paar Angaben über seine Eltern und Angehörigen. Simples Zeug, einfach für ihn und für mich. Er antwortet langsam und in die Kamera, genau, wie ich es ihm gesagt habe. Er kennt sämtliche Fragen, die ich ihm stellen werde, und die meisten, die Drummond vorbringen könnte. Er sitzt mit dem Rücken zum Stamm der Eiche, eine hübsche Szenerie. Gelegentlich tupft er sich mit einem Taschentuch die Stirn ab. Die neugierigen Blicke aller Anwesenden ignoriert er.

Obwohl ich ihm nicht gesagt habe, er sollte sich so krank und schwach wie möglich geben, scheint er genau das zu tun. Aber vielleicht hat Donny Ray tatsächlich nur noch ein paar Tage zu leben.

Nur Zentimeter von mir entfernt balancieren Drummond, Grone und Hill ihre Notizblöcke auf den Knien und versuchen, jedes Wort festzuhalten, das Donny Ray von sich gibt. Ich frage mich, wieviel sie für Vernehmungen am Samstag berechnen. Es dauert nicht lange, da werden die blauen Blazer ausgezogen und die Krawatten gelockert.

Während einer langen Pause knallt plötzlich die Hintertür zu, und Buddy torkelt auf die Veranda. Er hat sich umgezogen und trägt jetzt seinen vertrauten roten Pullover mit den dunklen Recken und hat eine verdächtig aussehende Papiertüte bei sich. Ich versuche, mich auf meinen Zeugen zu konzentrieren, aber aus dem Augenwinkel heraus sehe ich, wie Buddy den Garten durchquert und uns dabei argwöhnisch mustert. Ich weiß genau, wo er hinwill.

Die Fahrertür des Fairlane steht offen, und er läßt sich auf dem Vordersitz nieder, woraufhin Katzen aus sämtlichen Fenstern springen. Dots Gesicht verspannt sich, und sie wirft mir einen nervösen Blick zu. Ich schüttele schnell den Kopf, wie um zu sagen» Lassen Sie ihn in Ruhe. Er ist harmlos. «Sie würde ihn am liebsten umbringen.

Donny Ray und ich unterhalten uns über seine Schulzeit, seine Jobs, die Tatsache, daß er nie aus seinem Elternhaus ausgezogen ist, sich nie als Wähler hat eintragen lassen, nie mit dem Gesetz in Konflikt gekommen ist. Das ist bei weitem nicht so schwierig, wie ich es mir letzte Nacht in der Hängematte vorgestellt habe. Ich höre mich an wie ein richtiger Anwalt.

Ich stelle Donny Ray eine Reihe gut einstudierter Fragen über seine Krankheit und die Behandlung, die ihm nicht zuteil wurde. Hier bin ich sehr vorsichtig, denn er darf nichts von dem wiederholen, was sein Arzt ihm gesagt hat, und er darf auch keine Vermutungen anstellen oder medizinische Ansichten äußern. Das wäre Hörensagen. Das werden, wie ich hoffe, beim Prozeß andere Zeugen besorgen. Drummond ist voll und ganz bei der Sache. Er nimmt jede Antwort begierig auf, analysiert sie rasch und wartet dann auf die nächste. Er ist völlig ungerührt.

Donny Rays Durchhaltevermögen ist begrenzt, sowohl geistig als auch körperlich, und auch die Geschworenen werden sich das hier nur bis zu einer gewissen Grenze ansehen wollen. Nach zwanzig Minuten mache ich Schluß, ohne irgendwelche Einwände von der Gegenseite. Deck zwinkert mir zu, als wäre ich der Größte.

Leo Drummond stellt sich, fürs Protokoll, Donny Ray vor, dann erklärt er, wen er vertritt und wie leid es ihm tut, hiersein zu müssen. Er spricht nicht mit Donny Ray, sondern viel eher zu den Geschworenen. Seine Stimme ist verbindlich und verständnisvoll, ein Mann mit echtem Mitgefühl.

Nur ein paar Fragen. Er stochert sanft in dem Thema herum, weshalb Donny Ray sein Elternhaus nie verlassen hat, nicht einmal für eine Woche oder einen Monat, um woanders zu leben. Da er volljährig ist, würden sie nur allzugern feststellen, daß er ausgezogen und deshalb von der von seinen Eltern gekauften Police nicht gedeckt ist.

Donny Ray antwortet mehrfach mit einem höflichen und schwächlichen:»Nein, Sir.«

Drummond geht kurz auf die Frage nach eventueller anderweitiger Deckung ein. Hat Donny Ray je eine eigene Police gekauft? Hat er je für eine Firma gearbeitet, die für ihre Mitarbeiter eine Krankenversicherung abgeschlossen hatte? Ein paar weitere Fragen in dieser Richtung werden alle mit einem leisen» Nein, Sir «beantwortet.

Trotz der ein wenig ausgefallenen Szenerie ist das alles nichts Neues für Drummond. Er hat vermutlich bereits Tausende von Vernehmungen durchgeführt und weiß, daß er vorsichtig sein muß. Die Geschworenen würden jede grobe Behandlung dieses jungen Mannes übel vermerken. Es ist sogar für Drummond eine wundervolle Gelegenheit, einige Pluspunkte bei der Jury einzuheimsen, indem er ein wenig echtes Mitgefühl für den armen Donny Ray zeigt. Außerdem weiß er, daß aus diesem Zeugen nicht viele stichhaltige Informationen herauszuholen sind. Weshalb ihn also bedrängen?

Nach weniger als zehn Minuten ist Drummond fertig. Ich habe keine Gegenfragen. Kipler erklärt die Vernehmung für beendet. Dot beeilt sich, ihrem Sohn das Gesicht mit einem feuchten Tuch abzuwischen. Er sieht mich beifallheischend an, und ich recke kurz den Daumen hoch. Die Anwälte der Verteidigung sammeln ihre Blazer und Aktenkoffer ein und verabschieden sich. Sie können gar nicht schnell genug verschwinden. Und ich auch nicht.

Richter Kipler macht sich daran, Stühle ins Haus zurückzutragen, und wirft im Vorbeigehen einen Blick auf den in seinem Fairlane sitzenden Buddy. Claws hockt mitten auf der Kühlerhaube, bereit zum Angriff. Ich hoffe, es gibt kein Blutvergießen. Dot und ich helfen Donny Ray zurück ins Haus. Kurz bevor wir durch die Tür gehen, werfe ich einen Blick nach links. Deck bearbeitet die Leute am Zaun und verteilt meine Karten, ist er nicht ein netter Junge?

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